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Tango in der Reichshauptstadt

Oft wurde über Franz Kafkas Beziehung zu seiner Heimatstadt Prag geschrieben. Doch so verbunden sich Kafka dieser Stadt auch fühlte, immer wieder drängte es ihn fort. Häufig ist Kafka nach Berlin gereist und hat sogar in Erwägung gezogen, sich ganz dort niederzulassen. "Kafka in Berlin" heißt ein Buch, das pünktlich zu Kafkas 125. Geburtstag im Klaus Wagenbach Verlag erscheint. Autor Hans-Gerd Koch ist zugleich Herausgeber der Kritischen Kafka-Ausgabe im S. Fischer Verlag.

Von Ralph Gerstenberg | 01.07.2008
    Eigentlich will Kafka Paris kennen lernen. Doch eine Furunkulose beendet seine Streifzüge mit den Gebrüdern Brod durch den Montparnasse. Seinen Resturlaub verbringt er nach vollständiger Genesung im Dezember 1910 allein in Berlin, der nur sechs Zugstunden von Prag entfernt liegenden Hauptstadt des deutschen Kaiserreichs. Dem Freund Max Brod berichtet er umgehend:

    In Paris wird man betrogen, hier betrügt man, ich komme aus einer Art Lachen nicht heraus. Fast aus dem Koupe bin ich am Samstag in die Kammerspiele gefahren, man bekommt Lust, Karten im Voraus zu kaufen. Heute geh ich zu Anatol. Aber nichts ist so gut wie das Essen hier im vegetarischen Restaurant. ( ... ) Es ist hier so vegetarisch, dass sogar das Trinkgeld verboten ist.

    "Die Wandervogelbewegung hat ja in Berlin ihren Ausgang genommen zu Beginn des Jahrhunderts in Steglitz, also es gab diese Bestrebung, gesund zu leben und sich eben auch vegetarisch zu ernähren nach bestimmten Vorschriften. Und Kafka war ein Anhänger dieses Vegetarismus, zu verschiedenen Phasen seines Lebens unterschiedlich streng, aber in dieser Zeit schon sehr engagiert für diese Sachen. Und da war Berlin ein Paradies. Ich glaub, es gab etwa 140 vegetarische Speiseeinrichtungen in Berlin. In Prag gab es zwei oder drei. Und die Berliner waren auf ganz anderem Niveau. Das war für ihn natürlich, man könnt fast sagen: ein gefundenes Fressen."
    Hans-Gerd Koch ist als Herausgeber der Briefe Kafkas auf dessen besondere Beziehung zur deutschen Reichshauptstadt gestoßen und hat sich darüber gewundert, dass diese in der Forschung und in den Biografien so wenig Beachtung findet. Also begab er sich auf eine Art Spurensuche, studierte alte Zeitungen und Reiseführer, sammelte Fotos und trug zeitgenössische Berichte über das Berlin jener Jahre zusammen. Herausgekommen ist ein stimmungsvolles Zeit- und Sittenbild, das die Einflüsse und Widersprüche einfängt, denen die Menschen zwischen Kaiserzeit und Moderne ausgesetzt waren.

    "Berlin war ja eine junge Stadt, eigentlich erst nach der Reichsgründung 1871 aufgeblüht. Und mit diesen Gründerjahren und allem, was da entstanden ist, U-Bahnsystem, S-Bahnsystem, Industrialisierung, war es einfach unvergleichlich. Man kam nach Berlin, um diese Dinge zu sehen, zu erleben. Man war aber auch fasziniert von der kulturellen Substanz; hier gab es diese Varietétheater, wo unerhörte Sachen zu sehen waren, Nackttänzerinnen und so weiter, das war sehr gewagt. Der Tango war skandalös 1913/14, verboten in Bayern, und der Kaiser in Berlin untersagte seinen Offizieren, diesen Tanz zu tanzen."

    Auch Franz Kafka ist beunruhigt. Misstrauisch fragt er seine spätere Verlobte Felice Bauer:

    Und wie ist dieser Tangotanz, den Du tanztest? Heißt er überhaupt so? Ist es etwas Mexikanisches? Warum gibt es von jenem Tanz kein Bild?
    Felice Bauer, die Kafka 1912 während eines Besuches bei seinem Freund Max Brod kennen lernt, ist der Grund dafür, dass sich sein Verhältnis zur Reichshauptstadt in den folgenden Jahren noch intensiviert. Genauestens lässt er sich beschreiben, in welchem Umfeld die verehrte Berlinerin in der Prenzlauer Berger Immanuelkirchstraße lebt. Gemeinsam mit Felice besucht er Kleists Grab im Grunewald. Er ist Gast im legendären Café Josty und im Hotel Askanischer Hof, wo eine Begegnung stattfindet, die Literaturgeschichte schreiben soll. Nachdem Kafka sich in Briefen an eine gemeinsame Freundin negativ über die Aussicht auf eine Ehe mit Felice Bauer geäußert hat, wird er dort von seiner Verlobten im Beisein jener Freundin zur Rede gestellt.

    "Und es kam zur Entlobung. Kafka hat diese Situation als einen Gerichtshof empfunden. Er wurde, plötzlich unschuldig-schuldig geworden, mit Dingen konfrontiert, die dann dieses Leben, das eigentlich hätte folgen sollen, unmöglich machten. In den folgenden Wochen und Monaten ist daraus dann eben der Roman "Der Prozess" entstanden mit Josef K. als Helden. Da hat es eben seinen Ausgang genommen, in dieser Schlüsselszene im Hotel Askanischer Hof."
    In seinem Buch sucht Hans-Gerd Koch immer wieder nach Spuren, die die Berliner Erlebnisse im Werk Franz Kafkas hinterlassen haben. Für Kafka bleibt auch nach der Entlobung die Reichshauptstadt ein Ort der Sehnsucht. Dorthin träumt er sich, wenn er sich vorstellt, dem verhassten Beamtendasein in Prag zu entfliehen und ein Leben als freie Schriftsteller und Journalist zu führen. Eine Ehe mit der Berlinerin Felice Bauer wäre zu dieser Zeit keine Option für ein solches Leben gewesen, denn Kafka fühlte sich, den Konventionen entsprechend, in die Rolle des Ehemannes gedrängt, der mit seinem Einkommen als Beamter die neu gegründete Familie in Prag zu ernähren hätte. Erst nach Beginn des Ersten Weltkrieges ändert sich diese Perspektive. Mit der fest gefügten Ordnung in Europa geraten auch überkommene Moralvorstellungen und Rollenzuschreibungen ins Wanken. 1916 verloben sich Franz Kafka und Felice Bauer erneut.

    "Es hieß dann: Sie arbeitet weiter, er hört auf zu arbeiten, zieht von Prag nach Berlin, und sie lassen sich in Berlin in einem grünem Vorort - Karlshorst war damals die Idee - nieder. Er bleibt zu Hause und schreibt als Schriftsteller und Journalist, und sie verdient weiter ihr Geld als leitende Angestellte einer Firma. Und das war eben vor dem Krieg nicht denkbar. Aber nach dem Krieg oder während des Krieges schon."

    Will man sich ( ... ) das Verhältnis anschaulich darstellen, so ergibt sich der Anblick zweier Zimmer, etwa in Karlshorst, in einem steht F. früh auf, läuft weg und fällt abends müde ins Bett; in dem anderen steht ein Kanapee, auf dem ich liege und mich von Milch und Honig nähre.
    Aus diesen paradiesischen Aussichten soll allerdings nichts werden. Kafka erkrankt an Tuberkulose und löst daraufhin auch die zweite Verlobung mit Felice Bauer. Erst am Ende seines Lebens, im Herbst 1923, kommt Kafka wieder in seine Sehnsuchtsstadt. Diesmal, um zu bleiben. Der Aufenthalt währt jedoch kaum ein halbes Jahr, denn die Umstände sind alles andere als traumhaft. Kafka ist schwer von seiner Krankheit gezeichnet, und Berlin befindet sich im Klammergriff der Inflation. Dora Diamant, die letzte Geliebte, pflegt Kafka in diesen Tagen, in denen er sich vor allem für das jüdische Berlin interessiert. Kafka besucht - soweit er dazu gesundheitlich in der Lage ist - Vorlesungen an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums und beschäftigt sich mit den kulturellen Einflüsse der ostjüdischen Einwanderer, die sich vor allem im Scheunenviertel angesiedelt haben und in Berlin auf die assimilierten Westjuden treffen.

    "Ihn faszinierte, dass man möglicherweise eine Symbiose finden konnte, dass dieses erstarrte Judentum im Westen, das längst seinen Glauben in Anführungszeichen "verraten" oder "aufgegeben" hatte, jedenfalls nicht mehr bewusst lebte, neue Impulse durch diese gläubigen Ostjuden bekommen konnte, und die wiederum konnten aus ihrer beschränkten religiösen Sicht, die ja auch eine sehr starke Einschränkung der persönlichen Freiheit war, eine gewisse Öffnung durch das westliche Judentum erfahren."
    Im Gegensatz zu dem in der selben Reihe erschienenen Band "Kafkas Prag" von Klaus Wagenbach, den man auch als Reiseführer lesen kann, weist Hans-Gerd Koch in "Kafka in Berlin" nur auf wenige Orte und Gebäude hin, die heute noch einen Eindruck von der Stadt vermitteln, wie Kafka sie erlebt hat. Zu viel ist im Zweiten Weltkrieg zerstört worden oder hat in den letzten Jahrzehnten seinen Charakter verändert. Dennoch versteht es Koch mit vielen Fotos und gut recherchierten Hintergrundinformationen das besondere Verhältnis Kafkas zu Berlin sowie die Atmosphäre, die in jenen Jahren in der Stadt geherrscht hat, zu beschreiben. Auf den wenigen Seiten des schmalen Buches gelingt es ihm, ein lebendiges Bild einer vergangenen Epoche zu zeichnen und Kafkas Biografie aus einem etwas anderen Blickwinkel zu betrachten. Ein schönes Buch, ein unterhaltsames Buch und ein liebevolles Geschenk zu Kafkas 125. Geburtstag.


    Hans-Gerd Koch "Kafka in Berlin", erschienen in der "Salto"-Reihe im Klaus Wagenbach Verlag, 140 Seiten, 15,90 Euro