Dienstag, 19. März 2024

Archiv

Tanz-Ausstellung "Woran der Körper sich erinnert"
Schwerwiegende Schritte

In der Berliner Akademie der Künste zeigen die Tanzarchive aus Köln, Leipzig und Berlin zentrale Dokumente zur deutschen Tanzmoderne. Fotografien, Masken, Tanznotationen und Regiebücher dokumentieren die wegweisenden Arbeiten von Choreografen wie Mary Wigman, Gret Palucca, Oskar Schlemmer oder Johann Kresnik.

Von Elisabeth Nehring | 23.08.2019
Die in den 1920er Jahren von Mary Wigman inszenierten Totentänze zur Musik Danse Macabre von Camille Saint-Saëns und Will Goetze bringt Henrietta Horn mit der Dance Company Theater Osnabrück auf der Grundlage von Zeichnungen Ernst Ludwig Kirchners und Einträgen aus Wigmans Tagebüchern zur Wiederaufführung.
Wiederaufführung von Mary Wigmans „Totentanz II“ am Theater Osnabrück (Jörg Landsberg)
Die schlagenden Bewegungen des ausgewählten Frauenopfers in Pina Bauschs "Sacre du Printemps" von 1975; die geraden Körperlinien in Lucinda Childs "Dance" aus demselben Jahrzehnt; Steve Paxtons grandios leger-konzentriert getanzte "Goldberg Variations" von 1986. Meg Stuarts bahnbrechende Körperbilder in "Disfigured Studies", mit denen sie Anfang der neunziger Jahre den zeitgenössischen Tanz für immer veränderte. Die kurzen Videoausschnitte dieser Tanzwerke erfassen zwar nicht das, woran sich der Körper erinnert, aber sie bilden eine, wenngleich beschränkte, Möglichkeit, die Erinnerung an den Tanz in der Gegenwart lebendig zu halten.
Die Tanzmoderne im Film
Auf mehreren großen Screens im verdunkelten Saal der Akademie der Künste wechseln sich 100 Videoausschnitte und Fotografien von Tanzproduktionen ab. Davor zeigt eine Reihe kleinerer Bildschirme digitalisierte Objekte aus den deutschen Tanzarchiven, zumeist Bilder von Choreografien vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis heute. Und noch davor warten ein langer Glaskasten und mehrere Vitrinen mit insgesamt 75 Originalobjekten auf: Zeichnungen von Rudolf von Laban und Oskar Schlemmer, Masken von Mary Wigman, Jean Weidt und Ariela Siegert, Tanzschriften und Arbeitsbücher von Kurt Joos, Johann Kresnik und Reinhild Hoffmann und vieles andere.
"Die Überlegung dahinter war, eine große Geste zu machen, nochmal zu erinnern, dass das 20. Jahrhundert ein unglaubliches Kraftfeld gewesen ist von tänzerischer Entwicklung, (...) dass sich die Körperbilder verändert haben, dass sich das Körperwissen radikal verändert hat, dass sich neue ästhetische Formen ergeben haben, die einen großen Einfluss auf die bildende Kunst, auf den Film, auf die anderen Künste insgesamt gehabt haben."
Wie kann man diese von Johannes Odenthal, dem Programmbeauftragten der Akademie der Künste, beschriebene Kraft des immateriellen Kulturerbes Tanz und seine Bedeutung darstellen? Die AdK hat sich – zusammen mit den deutschen Tanzarchiven, dem Festival "Tanz im August" und dem Who is Who des akademischen Betriebs – zu einem umfassenden Programm aus Ausstellung, Performances, Diskussionen und Vorträgen sowie Meisterklassen für Studierende entschieden. Für Tanzinteressierte wird der kommende Monat also ein Fest, bei dem unter anderem auch die Rolle der Institutionen als Gatekeeper des Tanzerbes befragt werden soll. Kurator Ong Keng Sen.
"In der aktuellen Arbeit mit Archiven geht es auch um Dekolonisation – um Fragen wie: Was befindet sich im Archiv und was nicht? Wer ist im Archiv sichtbar und wer nicht? Die Autorität des Archivs soll damit hinterfragt werden. Außerdem geht es bei dem Umgang mit dem Tanzerbe nicht nur um Konservierung, sondern darum, mit dem Archivmaterial etwas Neues zu kreieren."
Es fehlt die kritische Einordnung
Gerade aber weil der Bruch mit den gewohnten Sehweisen und Lesarten so betont wird, befremdet die Machart der Ausstellung umso mehr. Kein Hinweisschild, kein Text weist auf die Provenienz der Objekte oder gar welche Choreografien gerade auf welchen Bildschirmen laufen. Die Informationen kann man sich zwar mühsam im Begleitheft zur Ausstellung zusammensuchen, aber auch dort fehlt eine ausreichende Kontextualisierung. Und die ist – gerade weil nicht nur Tanzliebhaber und –kundige angesprochen sollen – bitter nötig. Wo ein Betriebsausweis auf das Engagement Gret Paluccas bei der Olympiade 1936 hinweisen und Fotografien Mary Wigmann bei der Vorbereitung auf dem Sportfeld zeigen, muss die Verstrickung – im Programmheft beschönigend als "Vereinnahmung" bezeichnet – deutscher Ausdruckstänzer und –tänzerinnen in den Nationalsozialismus stärker thematisiert werden.
Trotz aller Bemühungen um das Tanzerbe der letzten Jahre hat die Tanzszene in Deutschland bei der kritischen Aufarbeitung ihrer big names Wigman, Laban, Kreutzberg und Co. noch einiges aufzuholen. Auch wenn die Diskurse des kommenden Programms einiges nachholen können; dass die AdK nun in ihrer mit Spannung erwarteten Ausstellung Ästhetik und Sinnlichkeit des Eindrucks vorgehen lässt und kritische Einordnung zurückstellt, enttäuscht.