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Tanzperformance im Müggelwald

Die Choreografin Constanza Macras hat sich in ihren Stücken immer wieder mit dem Mythos Stadt beschäftigt. In "Megalopolis" zum Beispiel, das 2009 an der Berliner Schaubühne uraufgeführt wurde. Jetzt aber zieht es sie in die Natur. Schauplatz ihrer neuen Produktion ist der Berliner Müggelwald.

Von Elisabeth Nehring | 11.08.2013
    Der Besuch dieser Performance ist nichts für Fußlahme! Das wird bereits in den ersten zwanzig Minuten deutlich, denn ungefähr so lange braucht die große Gruppe Zuschauer, bis sie an der ersten Waldstation angekommen ist. Auf dem Weg dorthin gibt es schon einiges zu sehen: Märchenhaftes wie die Prinzessin auf der Erbse, die sich schlaflos unruhig auf einem riesigen Berg Matratzen windet; Lustiges, wie jene zotteligen, Mimikry-betreibenden Waldwesen, die in hohen Bögen plötzlich hinter Bäumen und Sträuchern hervorspringen und einem fast vor den Füßen landen. Oder Fantasiefiguren in langen Kleidern, die bewaldete Abhänge herunter stürzen oder weit entfernt auf Sichtachsen lustwandeln.

    "Forest: the Nature of Crisis" ist bevölkert von jeder Menge Fantasiewesen: bösen Wölfen, kleinen Waldschraten, schönen Prinzessinnen und bösen Königinnen sowie bekannten Märchenfiguren: Rapunzel, Schneewittchen, Rotkäppchen, Hänsel und Gretel und Rumpelstilzchen. Das grimmsche Personal erscheint hier – und das ist typisch für Constanza Macras – in zeitgemäß übertriebenen und ironisierten Aktualisierungen. Schneewittchen, deren Geschichte an der ersten von sechs Stationen erzählt wird, ist eine vom modernen Finanzwesen verführte junge Frau, die erst zu viele Kredite auf- und dann zu viel Kokain einnimmt und schließlich durch eine Überdosis Antidepressiva in einen langen Schlaf fällt. Rapunzel hingegen lässt hier einen Turm bauen aus Angst vor der grassierenden Schweinegrippe und Hänsel und Gretel werden von ihrer durch die Finanzkrise verarmten Mutter zum Betteln an der dichtesten Stelle der Stadt ausgesetzt, aus der sie nie wieder herausfinden sollen.

    In den einzelnen Episoden rund um die grimmschen Märchenfiguren kommen tausend Themen der Gegenwart zusammen: globales Krisenbewusstsein und Konsumkritik, Überflussgesellschaft und Abstieg des Mittelstandes, Profitgier und Gewinnmaximierung großer Unternehmen, Organhandel und Umweltverschmutzung, Massenproduktion von giftigem Plastik, Recyclingpraktiken, Ökobewegungen und, und, und. Genauso verhält es sich mit dem, was es sonst noch zu sehen gibt, denn zeitgleich zum Erzählen wird gesungen und musiziert – von romantischem Liedgut über Punk zu Deutschrock. Und natürlich wird getanzt: ruppig, schräg und extrem virtuos.

    Die Tänzer üben ihre Kunst mit Leib und Seele aus: atemberaubend! Ihre Duette und Trios könnten als tänzerische Variante von Selbstverteidigungskursen durchgehen. Extreme Wurf- und Fallbewegungen, hohe Kicks und heftige Drehungen, sich anspringen und aneinander reißen – für nichts sind sich diese postmodernen Prinzessinnen und Prinzen zu schade; im Nu sind ihre Fräcke, Rüschenhemden und Brokatkleider dreckig und werden durch Fellanzüge, Glitzer, Glitter und unmögliche 80er-Jahre-Mode ersetzt.

    Diese Fülle – oder besser: Überfülle ist das Geschenk des Abends – aber auch sein Problem. Denn die vielschichtige Gemengelage von Texten, Musik und Tanz steht nicht immer in einem inneren Zusammenhang. Vor allem in der ersten Hälfte des dreistündigen Abends bleibt vieles thematisch und ästhetisch eher neben- als miteinander bestehen. Erst als sich das Tageslicht langsam verabschiedet und sich die Dunkelheit wie schützend um die zunehmend morbidere Performance legt, wachsen die einzelnen Ebenen dieser aufwendigen Produktion besser zusammen.

    Eine dunkle Romantik macht sich breit: Feuchter Nebel zieht seine Spuren, Bäume ragen hoch auf in der Schwärze, gebrochene Äste knacken leise, ein Hexenhäuschen leuchtet geheimnisvoll in der Nacht. Als Mythos und reale Lebenswelt, natürlicher Schutzraum und Furcht einflößender Ort, ist der nächtliche Wald nicht nur länger Bühne, sondern entfaltet zum Ende sein eigenes volles Performance-Potenzial. Spätestens da gewinnt Constanza Macras' theatraler Parcours jene Konzentration, von der die besten Momente ihrer stets überbordenden Produktionen gekennzeichnet sind.