Mittwoch, 17. April 2024

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Tanzproduktion "Untitled" in Essen
Heiter sezierende Anatomiestudie zum Theater

Von Nicole Strecker | 15.11.2014
    Auch Choreografen-Stars kommen in die Jahre, und selbst wenn Konzepttanz-Klassiker Xavier Le Roy smart, charmant und schlank wie eh und je die Bühne betritt, so trägt er doch Leichenbittermiene und offenbart - ähm, was wollte er noch sagen? Ahja, er leide seit einiger Zeit an PRA, an periodisch rückschreitender Amnesie - einer Gedächtnisstörung und er könne deshalb die geplante Lecture nicht halten. Kaum hat das Stück angefangen, schon gibt es die erste Enttäuschung für das Publikum, die Aufhebung der Illusion auf der Bühne. Stattdessen: Reflexion der Theatersituation - ein Spezialgebiet von Xavier Le Roy. Seit Beginn seiner Bühnenkarriere hat der promovierte Molekularbiologe das System "Theater" analysiert, die Repräsentanzformen des Körpers, Wahrnehmungsweisen der Zuschauer.
    Seine aktuelle Produktion befragt nun in drei Akten wie Bühnenkunst funktioniert, wenn jeweils eine entscheidende Ingredienz fehlt. Akt eins: Der Solo-Performer fällt aus. Der vermeintlich demente Xavier Le Roy steht also verlegen vor dem Publikum, stammelt, liest schließlich seinen eigenen Informationstext zum Stück vor, um gemeinsam mit den Zuschauern herauszufinden, was er nun eigentlich auf der Bühne machen wollte. "Versteht einer, was das heißt?", fragt er wunderbar selbstironisch nach Verlesen seiner Programmheftprosa, und natürlich finden sich im Auditorium eifrige Exegeten, die ihm seinen Performancebegriff erklären. Man schwurbelt diskursbeflissen über die Rolle des Zuschauers, ob er mehr freies Individuum oder Teil einer Gemeinschaft sei, führt eine Meta-Debatte im Meta-Theater, und beschließt irgendwann, die Theorie einfach mal auszuprobieren. Überleitung zu Akt zwei: Jetzt gibt es schön dramatische Musik, aber: Das Licht fällt aus.
    Aristotelische Karthasis-Idee im zeitgenössischen Theater
    Kein Problem für die konzepttanz-erprobten Zuschauer. Man leuchtet mit den Taschenlampen der Handys auf die Bühne, erkennt schemenhaft drei Gestalten. Zwei davon in minimaler Bewegung, aber verhüllt in Ganzkörperanzügen, die auch das Gesicht verbergen, sodass unklar ist, wer Puppe, wer Mensch ist, Objekt oder Subjekt, tot oder lebendig. Assoziationen an Kriegsversehrte auf einem Schlachtfeld stellen sich ein, aber auch an Liebende - die Zustände bleiben in der Schwebe. Am Ende tanzt eine Puppe anarchischer an ihren Schnüren als der Mensch es je könnte - Triumph des toten Gliedermannes über das Bewusstsein wie in Kleists "Marionettentheater".
    Das Trugspiel mit den Puppen ist erkenntnisdürr, choreografisch zu wenig ausgearbeitet und zudem alles andere als neu in Xavier Le Roys Oeuvre – zuletzt durfte man noch bei der Ruhrtriennale in einem dunklen Raum über seine wechselweise realen Körper und Stoffbündel stolpern, was als begehbare Installation deutlich besser funktionierte als nun als Bühnendarbietung. Aber dergleichen ist ja aus dem Hirn des vermeintlich erinnerungslosen Le Roy verschwunden. Immerhin versöhnt er in Akt drei seiner sagen wir mal zu Zwei-Dritteln gelungenen Absenz-Show von mentalen wie theatralen Mitteln noch mit einer skurrilen Solonummer: Er hat Musik auf den Ohren, der Zuschauer nicht, und was auch immer Xavier Le Roy hören mag: Es lässt ihn irrwitzig die langen Gliedmaßen ruckeln und schlenkern und bringt ihn schließlich dazu, lang gezogene Brüller auszustoßen. Damit endet Le Roys heiter sezierende Anatomiestudie zum Theater, von der anfänglichen Inklusion der Zuschauer bis zu ihrer maximalen Exklusion, denn man kann nur noch verwundert lachen über die Urschrei-Therapie des Performers. So funktioniert also die aristotelische Katharsis-Idee im zeitgenössischen Theater – wenn nicht für diejenigen, die vor der Bühne hocken, dann doch für denjenigen, der sich darauf austoben darf.