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Tao Lin: "Taipeh"
Konturlose Wesen auf Droge

"Taipeh" ist der erste Roman des US-amerikanischen Autors Tao Lin, der ins Deutsche übersetzt wurde. Darin schreibt er über alles, was das Leben in einem sehr engen individuellen Fokus ausmacht: Essen, Sex, Wohnen in der Großstadt und Schreiben unter Drogen. Die sprachlichen Anverwandlungen seiner Drogentrips wirken allerdings lähmend, meint unser Rezensent.

Von Martin Zähringer | 30.07.2015
    Der Jungschriftsteller Paul hat gerade ein Buchprojekt abgeschlossen, jetzt muss er einige Sommermonate überbrücken, bis die Lesereise für seinen zweiten Roman beginnt. In dieser Zeit treibt er in New York von Party zu Party und von Droge zu Droge. Er beendet eine Liaison mit einer Frau, fängt eine neue an, die sogar zu einer Heirat führt, vollzogen allerdings in beiderseits zweifelhaftem Bewusstseinszustand. Das Paar gründet eine Art Online-Filmgesellschaft, die darauf beruht, den Alltag via iMac ins Internet zu bringen. Ein Teil der Geschichte spielt in New York und an anderen Orten der USA, ein anderer in Taipeh, dem Alterssitz von Pauls Eltern, die nach 30 Jahren Florida wieder nach Taiwan gezogen sind. Aber weder wird hier asiatisch amerikanische Migrationserfahrung als Thema aufgespannt, noch in ein unbekanntes Milieu eingeführt oder dem Großstadtroman eine neue Seite abgerungen. Existenziell betrachtet geht es hier um ein wichtiges neues Thema, die Entfremdung des Digital Native, literarisch um ein eher altes Problem: der junge Mann und sein Narzissmus.
    "Er wollte verschwinden, indem er durch den Punkt am Ende seiner selbst hindurch und, den Nullpunkt hinter sich lassend, zu einer negativen Größe schwand, hinein in eine Anderswelt, wo er einen Ort finden würde - inmitten einer gigantischen Stadt, die zu groß war, um sich selbst zu kennen, oder eines langsam entstehenden Vororts -, an dem er allein sein und sich behutsam ein Leben aufbauen konnte, um irgendwann anzufangen, darüber nachzudenken, was er mit sich anfangen sollte."
    Ein Hang zum Uferlosen
    Was der Leser konkret erfährt, ist etwas anderes: Die Drogen verschließen das erzählende Subjekt immer mehr im Glashaus des Ich, durch dessen dicke, unklare Scheiben es die soziale Substanz um sich herum nicht mehr wirklich erkennen kann. Restgefühle jeder Art werden als "heftig" empfunden, aber wirklich heftig ist leider gar nichts mehr, denn menschliche Emotionen sind im digitalen Nirwana entschwunden. Die echte Wahrnehmung des Anderen ist nicht mehr möglich, das erzählende Selbst kreiselt im Dauerbetrieb seines literarischen Versuchslabors, in sich gefangen, im besten Fall ein stilistisches Medium für bestimmte Drogenwirkungen.
    "Auf der Toilette von DuMont Burger schluckte Paul die Hälfte einer halben 30-Milligramm-Oxycodon und 0,5 Milligramm Xanax, ein wenig amüsiert über die Tatsache, dass er bereits leicht exzessiv von seinem Plan abwich, während seiner Lesereise vom 7. September bis zum 4. November Drogen nur zu bestimmten Zeiten und in spezifischen Mengen zu sich zu nehmen. Um festzulegen, welche Mengen welcher Drogen - MDMA, LSD, jegliche Form von Tranquilizern, Amphetaminen, Opiate - er an welchen Tagen nehmen sollte, um Angstzustände und Langeweile bei sich selbst und anderen zu minimieren, hatte er den siebenseitigen Reiseplan seines Verlages so zusammengestrichen, dass er auf eine Seite passte..."
    Leider hat Tao Lin seinen Roman nicht entsprechend zusammengestrichen. Ein Hang zum Uferlosen war auch David Foster Wallace eigen, ein Vorbild der sogenannten "New Sincerity", der Tao Lin zugeordnet wird. "New Sincerity" - "Neue Ernsthaftigkeit"? Wer ist hier das Subjekt der Ernsthaftigkeit? Es fühlt nicht mehr, sondern analysiert, wie es empfinden könnte, es geht mit vier bis sechs Freunden zu einer Party, es trifft sechs bis acht Verwandte beim Essen in Taipeh, es geht in ein Café mit zehn bis fünfzehn Gästen und die Darstellung einer Freundin besteht aus dem Hinweis, dass sie dunkle Augenbrauen und naturblondes Haar hat. Alle anderen Personen sind völlig konturlose Wesen auf Droge, von denen keines irgendetwas vom anderen begreift. Auch in der Liebe geht bei diesen Monaden folgerichtig alles schief:
    "Sie diagnostizierten beim jeweils anderen einen "akut ausgelaugten Serotoninspiegel", verursacht durch 40 bis 80 Dosen MDMA innerhalb der vergangenen drei bis fünf Monate. Als die durch die Fenster im fünften Stockwerk einfallende Morgensonne Erins Wohnung erhellte, machten sie sich zum Schlafen bereit. Erin stand an einem Fenster und steckte pinke Tabletten in den Mund, die riesig aussahen - "diskusartig", dachte Paul, in eine Decke gewickelt, aus der nur sein Kopf herausschaute."
    Kein Schlüssel zum Kosmos guter Literatur
    Bei Baudelaire und Nachfahren verhieß die künstlerische Nutzung von Drogenerfahrung noch "Künstliche Paradiese". Tao Lin erzeugt in seinem Roman "Taipeh" künstliche Höllen, in der nur mehr ein chemisch-digitales Subjekt existiert, als Effekt von technischen Medien und Spiegelungen synthetischer Drogen. Tao Lins sozusagen chemopoetischer Avantgardismus hat durchaus seine Reize, wenn die sprachlichen Anverwandlungen seiner Drogentrips nur nicht so lähmend wären. Und doch erzeugt Tao Lins Roman einen gewissen Lektüresog, zumal der Übersetzer Stephan Kleiner dieser wortreichen Fassadenkletterei durchaus zu folgen vermag. Aber Spaß macht das alles nicht. Vielleicht findet die jüngste Fraktion der Digital Natives Nachahmenswertes in diesem arg überdehnten Roman, womöglich kennt sie auch die richtige Droge als Lektüre-Code, einen Schlüssel zum Kosmos guter Literatur bietet "Taipeh" allerdings nicht.
    Tao Lin: Taipeh.
    Roman. Aus dem Englischen von Stephan Kleiner.
    Dumont, 285 Seiten.