Donnerstag, 25. April 2024

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Tarek Leitner: "Berlin - Linz"
Volle Fahrt in den Untergang

Eine Linzer Familie von Rennsportnarren wird ausgebremst, als Hitler den Anschluss seiner alten Heimat vollzieht. Wie ab 1938 der Alltag und das Kriegsende aussahen, dokumentiert Tarek Leitner nach den Tonbändern der Gespräche mit seinem Vater.

Von Christoph Haacker | 01.10.2020
Der Autor Tarek Leitner und ein Foto seines Vaters: ‚Linz 1924: Rudolf auf seiner Speedwaymaschine‘
Der Autor Tarek Leitner und ein Foto seines Vaters: ‚Linz 1924: Rudolf auf seiner Speedwaymaschine‘ (Foto links: privat (Leitner); Foto Leitner rechts: Ingo Pertramer/Brandstätter Verlag)
Bücher, die anhand der eigenen Familiengeschichte Zeitgeschichte erfahrbar machen, haben in Österreich Vorbilder. Dabei führt kein Weg an Martin Pollack vorbei: In "Der Tote im Bunker" widmet er sich dem Gestapo-Chef von Linz und Verantwortlichen für mörderische Menschenjagd, dessen unehelicher Sohn er war.
In "Das Grab meiner Tante" rückt er das Schicksal seiner Großtante in den Blick, die in ihrer slowenischen Heimat als Deutsche nach Kriegsende 1945 in der Internierung umkam. Beide Bücher werfen heikle Fragen nach Nationalismus, nach Schuld und Verantwortlichkeiten auf, nach Verdrängung und Verschweigen. So tragen sie zu einer kritischen Kultur der Selbstbefragung nicht nur in Österreich bei. Vor dieser Folie kann Tarek Leitners "Berlin – Linz" gesehen werden, auch das ein Vaterbuch:
Drängende Fragen an die Vorväter
"Das ist die Geschichte zweier Reisen meines Vaters Alfred von Berlin nach Linz. Und … darüber, auf welche Art sie mir mein Vater erzählte. Natürlich hat sich dieses Buch dadurch nicht von alleine geschrieben. Aber eine abenteuerliche Geschichte zu erfinden, das musste ich dann auch wieder nicht. Das überraschte mich. Denn mein Vater war kein Held. Er war auch kein Opfer – und ich behaupte, auch kein Täter. Mit anderen Worten, er war keiner jener Figuren, die mir aus dem Geschichtsunterricht bekannt waren."
Ähnlich vorsichtig wie Pollack nähert sich Leitner seinem Gegenstand. Wie mit Lebensläufen umgehen, die sich unter dem Nationalsozialismus abspielten – und damit mehr oder weniger angesichts von Verbrechen? Wie zu Wertungen kommen über den Horizont und die Lebensentscheidungen von Vätern und Vorvätern?
Denn Leitners Vaterporträt gesellt sich das scheinbar ebenso unspektakuläre seiner Großvaters Rudolf, Uhrmacher in Linz, hinzu. Zum Auftakt, noch vor den beiden Reisen, ist von Hitlers Triumphfahrt durch Linz am 12. März 1938 die Rede. Zwei Drittel der Bevölkerung stehen ihrem Landsmann Spalier. Von diesem Taumel ist die Familie Leitner weit entfernt.
Tarek Leitner: „Berlin - Linz. Wie mein Vater sein Glück verbrauchte“
Tarek Leitner: „Berlin - Linz. Wie mein Vater sein Glück verbrauchte“ (Buchcover: Brandstätter Verlag, Hintergrund: Gerda Bergs)
Von der Freiheit, nicht mitzujubeln
"Mein Vater, erzählte mein Vater, war erstaunlich abwesend in diesen Stunden […] Er arbeitete in seiner Werkstatt, möglicherweise länger als nötig. Ein solches Verhalten galt an diesem Abend bereits als Provokation."
Alfred Leitner indes stiehlt sich weg zu dem, was eine Hetz verspricht, eine Gaudi. An jenem Tag gibt es eine Liveübertragung im Radio und einen Animateur, wie man ihn heute vor Fernsehshows kennt. Der Mann, der die stundelange Warterei überbrückt, heißt Anton Fellner, bisher heimlicher Nazi. Nun sonnt er sich im Rampenlicht plötzlicher Bedeutung. Nichts bleibt dem Zufall überlassen, der "Führer" soll durch ein Lichtermeer gleiten:
Die Hetze gegen Juden als "Volksbelustigung"
Fensterbeleuchtung! … Bravo, alles ist beleuchtet. Was ist mit Geier …, was ist mit Feichtingers Erben, ja was ist denn mit dem Pick dort drüben? Pickt der denn noch immer? Im ersten Stock muss Licht gemacht werden, Herr Pick! Der Pick pickt immer noch, hat der Erznazi gerufen, erzählte mein Vater. Er konnte Anton Fellners Invektiven mehr als sechzig Jahre später noch immer fast wörtlich wiedergeben.
Der Pick, der war Jude. Hier bereits, unmittelbar nach der Annexion, nimmt Fahrt auf, was in Auschwitz traurig gipfelt. Die Hetz als Aufhetzung. Es ist diese Szene, die sich als verstörend, als abstoßend in Alfred Leitners Erinnerung eingebrannt hat. Sein Sohn baut sie aus zum Gedenkbild des Papierhandlungsbesitzers Adolf Pick, der im KZ umgebracht wurde.
Der "banale Böse" als Nachbar von nebenan
Der Familie von Benedikt Schwager gehörte das Zuckerlgeschäft in der Linzer Bischofsgasse. Nebenan wohnen die Leitners und eine einst aus Solingen zugezogene Familie. Die Nachbarn, die sich hier noch friedlich begegnen, geraten in eine unheilvolle Beziehung, die den mörderischen Irrsinn des Nationalsozialismus anschaulich macht. Schwagers Söhne überleben zwar ihre Verfolgung. Aus ihrem Nachbarn wird jedoch als Schreibtischtäter ein Massenmörder:
"Rudolf kannte Adolf Eichmann junior nur beiläufig. Mit seinem Motorrad, das ihm als Reisevertreter der Vacuum Oil Company für seine Fahrten ins Mühlviertel zur Verfügung stand, kam er am Wochenende oft in die Bischofstraße."
Die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus leistet Leitner nicht nur mit diesen Lebensläufen. Sein Buch ist zugleich kulturgeschichtliche Hinwendung zum Rad- und zum Motorsport, sowie zu den Zeitmessern, denn seine Familie ist dem Tempo und der Technik verfallen. So ist die erste der beiden Reisen eine aufregende Vater-Sohn-Fahrt zum Kauf eines DKW in Berlin im Juni 1938. Alfred Leitner darf als Zwölfjähriger, natürlich streng verboten, am Steuer über die neue Reichsautobahn gen Süden brettern.
Glanz und Elend der Autobahn
"Hitler war ein böser Mann / doch baute er die Autobahn", heißt es in einem Lied von Heinz Rudolf Unger in der legendären "Proletenpassion" der "Schmetterlinge". Doch Tarek Leitner nimmt auch diesen Mythos kenntnisreich auseinander. Die zweite Reise des Buchs, nun zu Fuß über jene Reichsautobahn, ist die Flucht des Soldaten Alfred Leitner von der Ostfront, die nun Berlin dramatisch nahe ist, der Weg zurück nach Linz. Die Lebensgefahr begleitet ihn, seit seiner Desertion:
"Ich öffnete den Gewehrlauf, sah darin die Patronenhülse … und schlug einmal kräftig mit dem Stein darauf. Sie war gleich verbogen ... Und so konnte ich dann rufen, MG-2 fällt aus! Ich weiß nicht, ob das jemand beobachtet hat, wie ich das Gewehr zerstört habe. Ich weiß nicht einmal, ob mir unser Aufpasser nachgeschossen hat … Ich bin nur noch gerannt, gerannt und gerannt."
Tarek Leitner hat ein Buch geschrieben, das seine Familiengeschichte für Generationen bewahrt. Er verbindet das eigenwillig mit Zeit- und Kulturgeschichte. Wertvoller ist sein Impuls, die Selbstbefragung und die Befragungen von Angehörigen über die eigene Familiengeschichte zu wagen.
Tarek Leitner: "Berlin – Linz. Wie mein Vater sein Glück verbrauchte"
Brandstätter Verlag, Wien. 240 Seiten, 30 Euro.