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Am kommenden Freitag trifft sich unter der Federführung der früheren Familienministerin Christine Bergmann, der Runde Tisch der Bundesregierung. Thema ist die aktuelle Debatte um sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen. Für den Sport sitzt DOSB-Präsident Thomas Bach am Tisch.

Von Bianka Schreiber-Rietig | 18.04.2010
    Wolfgang D. war Jugendtrainer beim Judoclub Passau und betreute die Kinder-Mannschaft. Im Januar dieses Jahres ist der 38-Jährige vom Landgericht in Passau zu sechs Jahren und neun Monaten Gefängnis sowie unbefristeter Unterbringung in der Psychiatrie verurteilt worden, -wegen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in 211 Fällen, in 30 Fällen in Tateinheit mit schwerem sexuellen Missbrauch von Kindern.

    "Kindesmissbrauch ist der Mord an der kindlichen Seele. Jeder einzelne Fall ist die Schuld des Täters, nicht des missbrauchten Kindes."

    Das sagte der Vorsitzende Richter in seiner Urteilsbegründung.

    Wegen der Kernpädophilie des Angeklagten war das Gericht von einer verminderten Schuldfähigkeit ausgegangen. Strafverschärfend hingegen werte die Kammer, dass der Angeklagte durch sein Verhalten dem Ehrenamt geschadet habe.

    Der Deutsche Olympische Sportbund scheint sich der Brisanz des Themas von "Gewalt und sexuellem Missbrauch an Kindern und Jugendlichen" bewusst zu sein. Der DOSB sitzt jedenfalls mit am "Runden Tisch" der Bundesregierung, und das ist auch dringend notwendig.

    Mit solchen Missbrauchsfällen wie des verurteilten Judo-Trainers sieht sich der organisierte Sport immer mehr konfrontiert. Missbrauch im Sport war lange ein Tabu-Thema, viel zu häufig wird es noch als solches behandelt. "So was könne doch im Sport gar nicht passieren" war und ist nicht selten die Reaktion auf Vermutungen, Informationen und Indizien, wann immer Fälle von Übergriffen bekannt werden. Aber sie passieren in grässlicher Regelmäßigkeit, weil die Gelegenheiten für Täter günstig sind: Kinder werden arglos Trainern und Trainerinnen anvertraut. Diese fungieren nicht selten als Elternersatz oder werden zum Vorbild und Idol. Kinder lieben Spiel, Sport und Bewegung, sie wollen Lob, Aufmerksamkeit, sie wollen berücksichtigt werden für das Team, für den Wettkampf, für größere Aufgaben. Sie wollen es dem Trainer "recht machen". So entstehen Abhängigkeiten, die in Versuchung führen.

    Viel zu oft ist auch im Sport nicht genau hingeschaut - oder weggeschaut worden, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Tatort Sportverein - vergleichbar mit den Missbrauchsfällen in der Familie wird hier das Schweigekartell selten durchbrochen. Die Dunkelziffer ist enorm hoch.

    "Heute ist das anders, heute wird geredet" glaubt der Vorsitzende der Sportjugend, Ingo Weiss. Ein Indiz dafür könnte sein, dass in den letzten Jahren vermehrt auch Trainer und Übungsleiter sich vor Gericht verantworten mussten. In der Leichtathletik, im Schwimmern, im Judo, im Eiskunstlauf, Biathlon, Fußball oder Turnen - der Sport ist keinesfalls besser als andere gesellschaftliche Bereiche, in ihm spiegelt sich die ganze Bandbreite menschlichen Verhaltens wider - im guten wie im schlechten Sinn.

    Der Präsident des Deutschen Kindersportbundes, Heinz Hilgers, hält nichts von dem in der kommen Woche einsetzenden Runden Tisch der Bundesregierung. In der "Augsburger Allgemeinen" warf er der Politik vor, "zu wenig getan zu haben". Jährlich würden nach wie vor Zehntausende Kinder missbraucht - und das werde auch in diesem Jahr wieder so sein.

    Die Gefahren sexuellen Missbrauchs im Sport wurden bereits Ende der 70er Jahre öfter thematisiert, das war ein Verdienst vor allem der Deutschen Sportjugend und ihren Landesverbänden, aber auch von den im damaligen Deutschen Sportbund organisierten Frauen. Innerhalb einer von der Deutschen Olympischen Gesellschaft unterstützten Fair-Play-Kampagne 1995 für Mädchen und Frauen im Sport wurde die Problematik von der britischen Forscherin Brackenridge unter dem Titel "Das kann doch hier gar nicht passieren" aufgegriffen. In Großbritannien waren zuvor - ausgelöst durch einen BBC-Bericht mit dem Titel "Geheimnisse eines Trainers" - erschütternde Geschichten von Missbrauch öffentlich geworden.

    "Wir sind schon seit langem aufgerüttelt und haben reagiert. Natürlich sind die Ereignisse der letzten Monate ein weiterer Fingerzeig, dass man noch intensiver das Netz gegen Missbrauch mit allen relevanten Behörden wie Polizei oder Jugendamt spannen muss", sagt Sportjugend-Vorsitzender Weiss. Ein "Aufmerksamkeitssystem" fordert der DOSB-Direktor für Jugendsport, Martin Schönwandt. Er setzt sich seit langem mit diesem Thema auseinander und arbeitete federführend an dem gemeinsamen Positionspapier von DOSB und Sportjugend zur "Prävention und Bekämpfung von sexualisierter Gewalt und Missbrauch an Kindern und Jugendlichen im Sport". Das Papier soll nun nach unten, an die Landesverbände, weitergeleitet werden.

    Etliche Sport-Organisationen haben seit Jahren eigene Leitbilder zum Kinderschutz und Regeln für die Ahndung von Missbrauchsfällen erarbeitet, die aufgrund der aktuellen Vorkommnisse nun aber erweitert werden. "Spätestens jetzt ist das kein Tabuthema mehr", sagt Heiner Brandi, Jugendreferent im Landessportbund LSB Berlin. Hier wie in einigen anderen Landessportbünden müssen hauptamtliche Mitarbeiter im Jugendsport inzwischen polizeiliche Führungszeugnisse vorlegen.

    Auch im Frankfurter Haus des Sports beim DOSB wurde über eine Hotline diskutiert. Man kam zu dem Schluss, dass man damit überfordert sei. "Es ist besser, mit den Jugendämtern vor Ort zusammenzuarbeiten als eine bundesweite DOSB-Nummer einzurichten", sagt Schönwandt. Auch eigens für das Missbrauchs-Problem Beauftragte vor Ort seien dort effektiver angesiedelt als in der DOSB-Zentrale. Laut Ingo Weiss verfüge man über vergleichbare Erfahrungen aus anderen Bereichen.

    Das aktuelle DOSB-Positionspapier gibt Handlungsempfehlungen, daneben setzt man verstärkt auf Prävention. "Wir versuchen vor Ort, die Kinder stark zu machen, dass sie sich wehren und ermutigt werden, sich gegenüber Vertrauenspersonen zu offenbaren, wenn ihnen etwas komisch vorkommt", sagt Weiss. In den DOSB-Ausbildungsrichtlinien werde das Thema "Prävention sexueller Gewalt" vorrangig behandelt. Wichtig ist den Sportjugend-Funktionären, für eine Kultur des Hinschauens, Nachfragens und Eingreifens zu sensibilisieren und diese in den Köpfen der Sport-Verantwortlichen zu verankern. Dazu gehörten "eine offene Haltung, ein pädagogisches Sportkonzept, das Öffnen der Hallen und Sportanlagen für Eltern" Schönwandt nennt es "das gläserne Sportumfeld".

    Nicht alle im Sport haben das begriffen. Namentlich in einigen Fachverbänden gibt es gegenüber dem Missbrauchsthema eine erschreckende Unsensibilität. Bei der Nominierung für die Olympischen Winterspiele in Vancouver standen auf der Vorschlagsliste zwei Trainer, die einschlägig vorbestraft beziehungsweise aufgefallen waren. Die betreffenden Verbände, die diese Trainer gemeldet hatten, stießen aber auf den vereinten Widerstand des DOSB-Präsidiums. Beide Trainer mussten zu Hause bleiben. Manche Funktionäre sehen sexuelle Übergriffe offenkundig immer noch als harmloses Kavaliersdelikt.

    Probleme erkannt, Gefahr gebannt? Man könne nicht ausschließen, dass es in Zukunft Vorfälle geben werde, aber man sei daran, alles zu tun, sie zu vermeiden", sagt Sportjugend-Vorsitzender Weiss. Zugleich appelliert er an Eltern, jetzt nicht panisch zu reagieren und ihre Kinder weiterhin zum Sport in die Vereine zu schicken. Eine Mutter, deren Sohn in der Schüler-Mannschaft spielt, berichtet: Auffällig sei, dass manche Eltern in letzter Zeit beim Training dabei bleiben. Nicht, weil sie kein Vertrauen zum Trainer hätten, sondern wohl mehr zur eigenen Beruhigung. Und es werde auch unter den auf die Kinder wartenden Eltern viel über Missbrauch diskutiert. Das sei vergleichbar mit dem Warten vor dem Kindergarten und vor der Schule.

    Als die Missbrauchs-Lawine, losgetreten in den Kirchen und Schulen, zum öffentlichen Thema wurde, fragten sich auch die im Sport Verantwortlichen, was auf sie zukommen werde. Bisher herrscht Erleichterung. DOSB-Pressesprecher Christian Klaue sagt, bislang hätten sich beim Sport-Dachverband Betroffene noch nicht gemeldet. Die Frage ist nur: Ist das ein gutes oder schlechtes Zeichen?