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Teil 6: Keine Lust auf Deutschland?

Jeder vierte Mensch in Deutschland verfügt über einen Migrationshintergrund. Nie war es für gut ausgebildete türkischstämmige junge Menschen leichter, in der Heimat ihrer Eltern Arbeit zu finden. Nie wurden sie aber auch dringender in Deutschland gebraucht. Wie kann man die türkischstämmigen Studierenden überzeugen, in Deutschland zu bleiben?

Von Reiner Scholz | 01.11.2008
    Nach der - eingangs bereits erwähnten - Untersuchung des Krefelder Instituts "futureorg" können sich fast 40 Prozent der türkischstämmigen Studierenden vorstellen, nach dem Examen in die Türkei auszuwandern. Als Begründung gaben fast die Hälfte der Befragten an, ihnen fehle in Deutschland "das Heimatgefühl". Nun kann man "Heimatgefühl" nicht unterrichten, nicht lernen. Man muss es spüren. Wann fühlt man sich in einem Land wohl und hat Erfolg - und wann nicht? Mit dieser Frage beschäftigen sich zunehmend Sozialwissenschaftler. Sie suchen nach sogenannten Gelingensfaktoren. Und kamen dabei schon zu durchaus überraschenden Erkenntnissen. Häufig seien es nur einzelne Personen, die eine wichtige Rolle spielten, sagt Lena Blum. Sie ist Projektleiterin bei der "Bürgerstiftung" in Hamburg, einer Einrichtung, die sich seit langem des Themas Integration angenommen hat:

    "Es gibt eine Studie von Professor Dr. Ingrid Haller, die lange Zeit an der Universität Kassel tätig war, inzwischen in Frankfurt auch Patenprojekte umgesetzt hat und in dieser Studie haben sie 26 türkische Migrantinnen befragt, die alle ein Abitur hatten und eine Berufsausbildung. Und sie wollten rauskriegen, was sind denn jetzt die Faktoren, die dazu führen, dass diese Frauen so erfolgreich integriert sind und ihren Weg gefunden haben. Und was bei allen gleich gefunden wurde, war eben, das alle diese Frauen in ihrer Kindheit Kontakt zu deutschen Frauen hatten, das waren dann zum Teil Nachbarinnen oder zufällige Bekanntschaften , die aber für diese Frauen enorm wichtig geworden sind über die Jahre und wo die Kontakte auch nie abgebrochen sind."
    Von ähnlichen Erfahrungen kann auch Güven Polat berichten. Der Unternehmensberater, Sprecher der Türkischen Gemeinde in Hamburg, kam als kleiner Junge nach Deutschland. Ende der siebziger Jahre haben ihn seine Eltern aus der Türkei geholt. Uelzen war ihre erste Station, dort trafen sie auch die ersten "Biodeutschen", wie Güven Polat deutschstämmige Deutsche halbspöttisch nennt:

    "Sie wohnten in einem biodeutschen Haushalt zur Miete und ich kam auch in diese Mietwohnung hinein, und die Eigentümer, es war ein älteres Pärchen, deutsches Pärchen, die kinderlos waren und wir hatten uns denn sehr schnell angefreundet und obwohl wir wenige Wochen weiter gezogen sind in die Nähe von Hamburg ist dieser Kontakt noch bestehen geblieben - heute noch."

    Nachbarschaftlich und familiär aufgenommen worden zu sein, das gab ihm die Sicherheit in der neuen Gesellschaft, von der er noch heute profitiert:

    "Ich bin als Siebenjähriger rumgetollt durch das Haus in dem Garten und habe dann mit Tante Vera Erdbeeren gepflückt und dann haben wir zusammen Erdbeermarmelade gekocht. Und dann bin ich mit Onkel Walter in die Lüneburger Heide, er hatte dort seine Bienenstöcke und haben die Bienenvölker besucht, haben Honig gesammelt, haben die Rähmchen zu Hause gebastelt. Also alles, was man, würde ich sagen, von seinem Großvater sich vorstellen würde. Das sind Erfahrungen, wo man sagt, dass ist mein Leben letztendlich."

    Ankommen in der neuen Gesellschaft - das ist mehr als der Grenzübertritt, das räumliche Dazugehören. Die erste Generation der türkischen Einwanderer, die Gastarbeiter, wollte gar nicht ankommen. Geld verdienen, ein Haus in der Türkei kaufen und zurück in die Heimat - das war ihr Traum. Dann kamen die Kinder in die Schule, die Heimat Türkei war in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht in keiner guten Verfassung und schon verschob man das Projekt "Rückkehr". Die zweite Generation, die Kinder, mussten nun in Deutschland zurecht kommen. Auf ihnen lastete viel - manchmal zuviel - Verantwortung und noch mehr Hoffnung. Sie waren es nun, die ihren Eltern, die allzu oft kein Deutsch sprachen, den Zugang zur fremden, zur deutschen Gesellschaft verschaffen sollten: eine schwere Aufgabe. Zumal es ihnen die deutsche Seite häufig nicht leicht gemacht hat. Güven Polat erinnert sich noch an seine Schwierigkeiten als Student:

    "Ich habe mich damals ganz salopp mit der Aussage, sie kriegen kein BAföG, weil sie Türkischstämmiger sind und weil sie nach Holland gehen, habe ich mich damit abgefunden und dann bin ich weggegangen. Und als ich zurückkam, hat es geheißen, sie hätten ja doch was kriegen können, aber dadurch, dass sie jetzt einen unerlaubten Studienortswechsel gemacht habe, kriegen sie jetzt wieder nichts."

    Der Unternehmensberater hat gelernt, dass es nötig ist, über Netzwerke zu verfügen. Zweifellos habe sich inzwischen viel verbessert. Doch reiche das Netz, über das die türkische Gemeinschaft verfüge, längst immer noch nicht weit genug in die deutsche Gesellschaft hinein. Dort seien Zugewanderte in vielfacher Hinsicht viel zu unterrepräsentiert, um sich gegenseitig so stützen und helfen zu können, wie es für die Deutschen selbstverständlich sei:

    "Also, in den Räten, ob es nun Schulrat ist oder Rundfunkrat, was es da alles gibt. Wenn sie sich das mal anschauen, da sind vielleicht vereinzelt Personen, die versuchen, irgendwo mitzuwirken, aber sie kommen nicht über die erste, zweite Stufe hinaus. Wenn wir unsern Schulrat angucken, Kreiselternräte, Schulräte, sie finden die Migrantenstämmigen nicht über der ersten, zweiten Stufe, und wenn man unterrepräsentiert ist, machen die anderen das Geschäft."

    Das gilt auf allen Ebenen - auch in der Arbeitswelt. Wer einen guten Job haben will, der muss sich auskennen. Der muss nicht nur wissen, was es für Möglichkeiten gibt, der muss auch wissen, wen er fragen kann. Von der direkten Unterstützung, durch Bekannte, Freunde oder Verwandte ganz abgesehen. So hat die OECD herausgefunden, dass in Deutschland ein Drittel aller offenen Stellen über persönliche Kontakte besetzt werden. Wo also keine Netzwerke existieren, muss man sie schaffen. Ein gutes Mittel sind Patenschaften. In Hamburg hat - auf Vorschlag von Güven Polat - die "Bürgerstiftung" Hamburg in Zusammenarbeit mit der "Türkischen Gemeinde" ein entsprechendes Projekt gestartet. Es heißt auch "Güven", also Vertrauen. Leiterin Lena Blum:

    "In kurzen Worten geht es darum, dass wir Kinder mit türkischem Migrationshintergrund verknüpfen wollen mit deutsprachigen Mentoren, die sich hier gut auskennen mit den gesellschaftlichen Strukturen. Hauptziel ist es, Kinder zu stärken in ihrer Persönlichkeitsentwicklung. Ihre Stärken zu fördern. Das geht los, indem man mit ihnen zusammen Zeit verbringt und verschiedenen Hobbys nachgeht. Das geht aber auch weiter, dass man sie unterstützt, dass sie die deutsche Sprache besser sprechen lernen und einfach Kontakt fassen zu einer Person, die hier schon lange zuhause ist."

    Patenschaften stiften, Netzwerke aufbauen - das sind Mittel, um der Heimatlosigkeit von Zuwanderern und ihren Familien entgegen zu wirken und sie zu stärken. So hat die "Körberstiftung" in Hamburg ein Netzwerk türkischstämmiger Politiker in Deutschland ins Leben gerufen. Es umfasst von Europa- über Bundestagsabgeordnete bis zum Gemeinderat fast 90 Mandatsträger und wird von Aydan Özoguz betreut:

    "Leute, die meist noch am Anfang ihres politischen Weges stehen, wollen gerne die Erfahrungen der anderen hören beziehungsweise auch die Inhalte: Was wird denn im Bundestag gerade besprochen und dann gibt es einfach ein breites Spektrum. Wir haben von der Linkspartei bis zur CSU ein breites Meinungsspektrum. Der Ansatz ist zu sagen, was finden wir denn alle gemeinsam bei manchen Themen, also das Netzwerk hat es auch geschafft, Papiere herauszubringen zur Beteiligung von Migranten in der Politik, arbeitet an einem Bildungspapier und interessant wird es ja dadurch, dass es parteiübergreifend ist."

    Netzwerke wie dieses können helfen, dem Gefühl von Ohnmacht und mangelnder Anerkennung entgegenzuwirken. Wer in Deutschland seinen Platz findet, hat keinen Grund das Land verlassen. Güven Polat träumt davon, dass deutsche und türkische Tugenden zusammen gebracht werden könnten. Dan sei man unschlagbar:

    "Ich sage immer, Mensch, eine Mischung aus den Deutschlandtürken und den Biodeutschen, das ist eigentlich die optimale Mischung, anscheinend, das Organisierte mit dem Risikofreudigen, engagierten Menschen, und wir verspüren das jetzt auch immer mehr, dass die zweite und dritte Generation, die diesen Kontakt gehabt hat, erfolgreich im gewerblichen Bereich ist."

    Jeder vierte Mensch in Deutschland verfügt über einen Migrationshintergrund. Nie war es für gut ausgebildete türkischstämmige junge Menschen leichter, in der Heimat ihrer Eltern Arbeit zu finden. Nie wurden sie aber auch dringender in Deutschland gebraucht.