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Tel Aviv
Die verrückteste Busstation der Welt

Alle Israelis hassen die Central Bus Station in Tel Aviv: Sie stinkt, ist schmutzig und der Architekt wollte, dass sich die Menschen in ihr verlaufen. Dennoch versuchen junge Künstler, das bizarre Gebäude vor der Sprengung zu retten und es zu einem angenehmeren Ort zu machen. Eine skurrile Geschichte über einen noch skurrileren Ort.

Von Florian Elsemüller | 23.08.2015
    Eine schwarze Reifenspur auf Asphalt.
    4.000 Busse verlassen täglich die Central Bus Station von Jerusalem und das mit viel Lärm. (picture-alliance / dpa/epa/Jim Hollander)
    Wir sind ganz oben, im 7. Stock. Breite Schaufenster geben den Blick frei auf die Skyline von Tel Aviv und auf die 4.000 Busse, die hier jeden Tag durch ganz Israel fahren. Zwischen den Wartebänken steht Lior Avshalom, weiße Schminke im Gesicht, ein silber-glänzendes Jackett. Und dann legt er los:
    Er steigt auf seinen blauen Koffer und sucht nach seiner großen Liebe, Susanna. Lior läuft los, 100 Zuschauer schieben sich hinter ihm her, auf die Rolltreppen; das Tel Aviver Mystorin-Theater spielt auf allen Stockwerken der Central Bus Station – einmal von oben nach unten.Lior musst schreien, damit sich die Leute nicht verlaufen, denn die Bus Station ist riesig: Drei mal größer als der Berliner Hauptbahnhof. 230.000 Quadratmeter auf sieben Stockwerken. vielleicht auch 14: jedes Stockwerk besteht aus zwei halben Stockwerken. Rolltreppen laufen kreuz und quer. Halbe Stockwerke ragen in die Luft.
    "Ergibt das irgendeinen Sinn?", fragt mich Yonatan Mishal. Und dabei kennt er die Bus-Station so gut wie kein zweiter, sie ist sein Abenteuerspielplatz. Zusammen mit anderen jungen Architekten und Künstlern, die sich in einer Gruppe namens CTLV zusammengetan haben, bietet Yonatan hier nun sogar Führungen an."
    Diese Führungen sind beliebt, denn die Bus Station ist ein Ort, an dem sich Touristen wie Einheimische gleichermaßen verlaufen. Kein Tageslicht. Alles ist krumm – oder rund. Rechte Winkel hat der Architekt so gut er konnte vermieden, sagt Yonatan Mishal.
    "Er wollte, dass sich die Leute sich verirren. Du verläufst Dich, weißt nicht, wo du hin sollst. Also bleibst du, gehst ins nächste Geschäft und gibst Geld aus."
    Architekt Ram Karmi wollte nicht nur eine Busstation bauen, sondern eine Stadt unter einem Dach. Karmi war einer der erfolgreichsten Architekten Israels: Als junger Mann half er das israelische Parlament zu bauen, die Knesset. Bewundert wird bis heute sein Neubau des Supreme Court in Jerusalem. Doch die Central Bus Station hat Ram Karmis Namen ruiniert.
    Denn 1993, als der Komplex nach 24 Jahren Bauzeit eröffnete, funktionierte Ram Karmis Plan, eine Stadt unter einem Dach zu bauen – nicht besonders lange. Kein halbes Jahr, dann mussten die sechs Kinos im ersten Stock schließen. Mittlerweile sind die unteren drei Stockwerke komplett pleite und verlassen.
    "Er hat nicht daran gedacht, dass die Leute zwar heute Geld ausgeben, aber morgen nicht mehr kommen, weil sie sauer sind – und draußen auf den Bus warten. Und das ist passiert, die Tel Avivniks hassen ihre Busstation. Es ist schmutzig, es stinkt. Gerade auf den Treppen riecht es auch mal etwas strenger nach Urin. Es ist irgendwie komisch hier zu sein",
    sagen die Menschen, die für die Theater-Performance gekommen sind und sich noch nicht so richtig wohl fühlen. Lior ist auf seiner Suche nach Susanna im fünften Stock angekommen. Hier verkaufen die Shops Bikinis und Tangas und Spielzeug. Die Schaufensterpuppen sind golden lackiert. Alles glitzert.
    Karaoke-Party vor dem Supermarkt
    Lior schnappt sich ein Plastik-Maschinengewehr. Um ihn rum springen Balletttänzerinnen in rosa-violetten Tütüs. Eine irre Szene – aber irgendwie passt sie auch in diese schrille Atmosphäre. Die Besuchern der Busstation, die zum Busfahren hierher gekommen sind, drehen sich erst gar nicht um.
    Lior springt auf die nächste Rolltreppe, runter in den vierten Stock. Der ist fest in philippinischer Hand. Jeden Samstag Abend steigt hier vor dem Supermarkt eine Karaoke-Party.
    Patricia ist glücklich, sie trifft hier ihre Freunde und Verwandten. Im vierten Stock kommen fast alle von den Philippinen. Patricia arbeitet – wie die meisten Filipinos in Israel – als Altenpflegerin. Sechs Tage die Woche. Und samstagabends, wenn sie frei hat, kommt sie zum Schaufensterbummeln her.
    Mode- und Make-up-Läden. Gewürze und Gemüse, die es sonst nur auf den Philippinen gibt. Ram Karmi hat zumindest im vierten Stock also doch eine Kleinstadt unter einem Dach gebaut. Von der Karaoke-Party nimmt mich Yonatan mit in den Keller. Hier riecht es wie im Zoo. So riechen 1.000 Fledermäuse.
    Eine Fledermauskolonie ist in einen Tunnel eingezogen. Jahrzehnte lang wurde er nicht genutzt – jetzt ist er ein Naturschutzgebiet. Nebenan: der größte Atomschutzbunker der Welt. 1969 begannen die Bauarbeiten, mitten im Kalten Krieg – eine iranische Atombombe war damals noch kein Thema. Yonatan kurbelt die rote Metalltür auf. Alles voll funktionsfähig. Dahinter ist Platz für mehr als 10.000 Menschen.
    Und dann beginnt ein Teil, den Yonatan nicht mit jeder Touristengruppe macht. Yonatan fragt mich, ob ich mich was traue. – Klar. Er findet eine Holzpalette auf dem Boden, lehnt sie an ein Absperrgitter und klettert hoch – ich hinterher. Hinter der Absperrung schraubt sich eine Metallkonstruktion in die Höhe. Es ist eine Treppe aus Stahl, die Arbeiter während der Bauarbeiten nutzten. Hier oben, glaubt Yonatan, muss es einen Raum geben, den er noch nie betreten hat.
    Wir steigen über eine hüfthohe Mauer. Yonatan weiß nicht, welche Funktion dieser Raum jemals hatte, oder haben sollte. Mit einer Taschenlampe leuchtet er auf den Boden. "Der Raum wurde nie fertiggestellt. Sie haben aufgehört, als sie die Fließen verlegt haben. Und auch die Decke haben sie nie fertiggestellt."
    Vielleicht war seit 15 Jahren kein Mensch mehr in diesem Raum
    Er macht sich auf Spurensuche, wie ein Archäologe. "Ich kann schon jetzt versuchen zu verstehen, wann Sie aufgehört haben, denn ein paar Dinge hier sind von Läden, die es hier in den 90ern gab, aber heute nicht mehr. Da ist ein Kaffeebecher von Sbarro, und die haben im Jahr 2000 geschlossen."
    Jetzt will ich sehen, was es sonst noch gibt, ob die Türen geschlossen sind. Vielleicht war seit 15 Jahren kein Mensch mehr in diesem Raum. Der Fußboden ist voller Staub, keine menschlichen Fußabdrücken. Ein paar Katzenpfoten, und diese Linien im Staub.
    "Das sind Spuren von kleinen Tieren, Ameisen und Käfer. An den Spuren kannst du sehen, dass dieser Raum seit vielen, vielen Jahren nicht genutzt wurde."
    Wir laufen weiter. Der Raum misst mehrere hundert Quadratmeter. Unfassbar. Diese Central Bus Station ist dermaßen groß, dass solche Räume einfach vergessen werden. Die Busstation ist riesig, viel zu riesig, sagt Yonatan.
    "Ein Desaster. Ich liebe es, aber es ist auch schrecklich, diese ganzen Ecken und Kurven und diese Ausmaße sind einfach nicht für Menschen gemacht."
    Er sagt, diese Busstation, ist eine einzige Katastrophe. Daran muss sich jetzt etwas ändern. Und das ist die Aufgabe von Miki. Er sitzt in seinem Büro im fünften Stock. Jede Minute bebt sein Büro und es dröhnt aus den Wänden, wenn einer der 4.000 Busse über seinen Kopf fährt. An den Wänden hängen kleine Fähnchen und Fotos aus seiner Zeit in der israelischen Armee. Zwei Jahrzehnte ist er als Soldat Panzer gefahren. Wahrscheinlich eine gute Vorbereitung auf den Job als Manager der Central Bus Station.
    "Es fühlt sich hier manchmal an wie nach der Apokalypse"
    Miki Ziv sagt, die einzigen, die diese Bus Station noch retten können, sind Künstler. Ihre Kunst könnte die Bus Station attraktiver und interessanter machen. Und deswegen hat Ziv Hunderte Quadratmeter fast kostenlos an 25 junge Künstler vermietet. Gentrifizierung ist hier die letzte Hoffnung.
    Gidi hat sein Atelier in die Bus Station verlegt. Er zeichnet mit einem Filzstift auf Holzplatten, bunte, graffiti-artige Bilder für seine neue Ausstellung. Guter Ort, um Kunst zu machen, denn die Inspiration bekommt er direkt vor der Tür.
    "Es fühlt sich hier manchmal an wie nach der Apokalypse. Und das ist die Stimmung, nach der ich suche."
    Gegenüber sortiert Mendy Kahan gerade neue Bücher in die Regale seiner jiddischen Bücherei.
    "Du, hab ich ungefähr 40.000 bis 50.000 Bücher. Bücherlach, was kommen von der ganzen Welt. Von Australien, von Johannisburg, von Brasilien, von Mexiko. Alles in Jiddisch. Was noch? Junge Leute kommen und machen Repetities für Theaterstück."
    Wie zum Beispiel Amnon Adbudbul. Er bringt hier seine Autobiografie auf die Bühne. Ziemlich konsequent, er spielt alle 15 Rollen selbst.
    Und dann fährt wieder einer der Busse über ihre Decke. "Und das Dröhnen dieser Busse lässt uns so richtig arbeiten."
    Und so wird diese verhasste Bus Station langsam zu einem Zentrum für moderne und junge Kultur in Israel.
    Zurück zum Mystorin-Theater. Die sind mittlerweile ganz unten angekommen, in der einsamen, weißen Halle mit den geschwungenen Wänden vor den stillgelegten Kino-Sälen. Viele im Publikum sind noch nie hier runter gekommen. Alexis war seit 16 Jahren nicht mehr so tief in der Busstation.
    Großes Finale. Lior findet Susanna – und steckt sie in eine Holzkiste. Das Publikum ist begeistert, von den Schauspielern, und komischerweise auch von dieser Busstation.
    "Ich hatte nie gute Gefühle für diese Busstation, bevor ich das gesehen hab. Die nehmen die etwas besseren Teile und machen was draus."