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Telefonate aus dem Gefängnis
Was russische Häftlinge vom Alltag hinter Gittern berichten

Folter, Schikane, Ratten in den Zellen: Die Zustände in russischen Gefängnissen sind Dauerthema am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Der Besuch in einer Haftanstalt wurde unserer Reporterin nicht genehmigt - doch am Telefon schildern ihr Gefangene die schlechte Versorgungslage.

Von Gesine Dornblüth | 25.11.2019
Ein Häftling läuft über den Hof der russischen "Besserungskolonie Nr. 2" im Distrik Karymsky
Ein Häftling in einer russischen "Besserungskolonie" im Distrikt Karymsky - einer Mischung aus Arbeitslager und Gefängnis (picture alliance/ dpa/ Yevgeny Yepanchintsev)
Iwan geht sofort ans Telefon. Er sitzt in einem Untersuchungsgefängnis in Zentralrussland. Iwan ist nicht sein richtiger Name. Seine Identität soll anonym bleiben, denn der Besitz von Mobiltelefonen ist Gefangenen verboten. Doch in russischen Haftanstalten ist es wie überall in Russland: Die Gesetze sind streng, trotzdem ist fast alles möglich.
Ein Telefon in den Händen eines Häftlings ist für einen Wärter Gold wert. Er kann es dem Insassen jederzeit abnehmen und für die Herausgabe Schmiergeld verlangen. Deshalb schauen viele Aufseher weg.
"Der Geruch ist unerträglich"
Iwan erzählt, er sitze mit drei anderen Häftlingen in einer Zelle. Ein Tisch, zwei Bänke, zwei Doppelstockbetten, ein Waschbecken mit kaltem Wasser. "Das Gebäude ist sehr baufällig. Die Fußböden knarren, alles ist durchlöchert." Das Klo sei ein einfacher Kasten mit einem Loch.
Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe Strafvollzug in Russland - "In der Zone bist du ein Stück Vieh".
"In den Zellen hier gibt es Ratten. Nebenan ist eine Ratte unter dem Boden verreckt, da hängt ein schrecklicher Gestank in der Luft. Die Leute werden trotzdem nicht verlegt. Der Geruch ist unerträglich. Zum Waschen gehen wir einmal die Woche in die Banja. Hofgang ist selten. In den zwei Wochen, die ich hier bin, waren wir nur zwei Mal draußen."
Mangelnde medizinische Versorgung
Sie bekämen nicht einmal Bettlaken gestellt, erzählt Iwan. "Einer hier hat die Krätze. Er ist schon vier Monate hier und wird ärztlich nicht versorgt, nicht mal mit einem Desinfektionsmittel. Wir haben einen Antrag auf einen Arztbesuch geschrieben. Aber nichts passiert. Sie beachten das nicht."
Die schlechte medizinische Versorgung zählt zu den größten Problemen im russischen Strafvollzug.
Schlechtes Essen
In einer Besserungskolonie in Zentralrussland geht ein weiterer Häftling ans Telefon – nennen wir ihn Jurij. Er sagt, er sitze in einem Trakt mit mehreren Dutzend Mitgefangenen. Juri berichtet vom schlechten Häftlingsessen. Das könne krank machen. Er lasse das Frühstück meist aus.
"Es gibt sowieso nur einen schlechten Brei. Zum Mittag gehe ich auch nicht gern. Das gibt es meist Sauerkraut. Das wird mit getrockneten Kartoffeln zu einer Suppe aufgekocht."
Im Fernen Osten Russlands sitzt Andrej, gleichfalls ein Pseudonym.
"Was gab's zum Frühstück?"
"Immer Kohl."
Arbeit für wenig Lohn
Viele Häftlinge bekommen Essenspakete von Verwandten oder Freunden. Oder sie versorgen sich im Laden der Anstalt. Jeder hat ein eigenes Konto. Auf das wird auch ihr Lohn überwiesen, sofern sie arbeiten. In den meisten Kolonien gibt es Werkstätten: Industrie- oder Handwerksbetriebe. Die Arbeit dort ist freiwillig. Er gehe jeden Tag in die Näherei, erzählt Jurij. Denn dort gäbe es, anders als im Trakt, warmes Wasser. Der Lohn sei nicht der eigentliche Grund zu arbeiten.
"Ich bekomme umgerechnet zehn Dollar im Monat, manchmal fünf, manchmal 15. Ein großer Teil wird einbehalten, für Kost und Betriebskosten. Ich habe mich deshalb bei der Staatsanwaltschaft beschwert, denn was sollen das für Betriebskosten sein: Unser Trakt wird nicht beheizt, und es gibt auch kein heißes Wasser."
Je weiter von Moskau entfernt, desto schlimmer die Zustände
Andrej geht deshalb in seinem Lager im Fernen Osten gar nicht erst zur Arbeit: "Zu viel der Mühe. Es gibt ja doch nur Ärger, sie zahlen wenig oder gar nicht." Lieber bleibe er im Trakt und schreibe an seiner Klage, erzählt er. Ein Gericht hat ihn zu fast 20 Jahren Haft verurteilt - zu Unrecht, sagt Andrej. Es gebe Menschen, die seine Unschuld bezeugen könnten, doch das Gericht habe sie nicht mal angehört.
"Die Gerichte arbeiten sehr bösartig. Die Richter sind hier nahezu gottgleich. Sie lochen alle ein, wenn sie nur den kleinsten Anlass sehen."
Solidarität unter Häftlingen
Russische Menschenrechtler nennen eine Faustformel: Ein Drittel der Gefangenen in Russland sitze unschuldig ein, ein Drittel aufgrund unangemessener Urteile, ein Drittel sei schuldig. Je weiter von Moskau entfernt, desto schlimmer seien die Zustände, meint Andrej aus dem Fernen Osten:
"Die setzen dich in die Strafzelle, auch wenn du gar nichts getan hast. Nur, damit die Bilanz gut aussieht. Denn einer muss ja in der Strafzelle sitzen. Es ist ein Staat im Staat."
Sich zu beschweren, führe zu nichts, sagt Andrej. "Hier wäscht eine Hand die andere. Es ändert sich sowieso nichts. Es ist so niederträchtig."
Immerhin sei die Solidarität der Häftlinge untereinander groß, berichtet Iwan aus seiner Viererzelle im Untersuchungsgefängnis. "Wir kommen gut miteinander aus, wir reden miteinander, unterstützen uns gegenseitig. Anders überlebst du hier nicht.