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Terhechte: Die globale Krise ist angekommen im Kino

Laut Christoph Terhechte dominieren Filme über die globale Wirtschaftskrise die diesjährige Berlinale. Er zeigte sich darüber hinaus erfreut, dass Werner Herzog diesmal die Jury leitet - für ihn "der herausragende deutsche Regisseur".

Christoph Terhechte im Gespräch mit Bettina Klein | 11.02.2010
    Bettina Klein: In Berlin begrüße ich Christoph Terhechte, er ist Leiter der Sektion Forum bei der Berlinale, also jenes Bereiches, in dem vor allem Arbeiten junger Filmemacher, experimentelle Filme und eher Risikofreudige zu sehen sind. Er war aber auch in der Auswahlkommission des Wettbewerbs, hat also den Blick auf die Berlinale insgesamt. Guten Morgen!

    Christoph Terhechte: Guten Morgen!

    Klein: Herr Terhechte, es sind die 60. Filmfestspiele, was ist davon, abgesehen für Sie, das Besondere in diesem Jahr?

    Terhechte: Außerdem hat das Forum seinen 40. Geburtstag, also zusammen sind es schon 100. 1971 wurde das Forum gegründet, als Reaktion auf eine größere Krise der Berlinale, da blieben auch die Zuschauer weg, davon kann man heute natürlich nicht mehr sprechen.

    Klein: Lassen sich denn Themen erkennen, die in diesem Jahr dominieren werden?

    Terhechte: Sicher, ja, ich glaube, dass die globale Krise angekommen ist im Kino. Das dauert ja immer eine ganze Weile, bis man Filme machen kann, die sich mit einer Zeitstimmung beschäftigen. So zwei Jahre muss man dem Latenzzeit gewähren, und wir haben eine ganze Menge Filme, die sich jetzt nicht explizit mit der Wirtschaftskrise beschäftigen, aber schon die Stimmung, die allgemeine, eher deprimierte Stimmung weltweit aufgreifen und künstlerisch verarbeiten.

    Klein: An welche denken Sie da?

    Terhechte: Zum Beispiel an einen Film der heißt "The Oath" von Laura Poitras, ein Film über einen ehemals ranghohen El-Kaida-Kämpfer, der ausgestiegen ist, der den Amerikanern wichtige Informationen zur Verfügung gestellt hat und der heute in dem Konflikt lebt, quasi beide Seiten verraten zu haben, und sein Cousin, der in Guantánamo inhaftiert war, den quasi mit reingerissen zu haben. Ein wahnsinniges Porträt eines Mannes, den man so nie erleben würde, wenn man jetzt sich auf das Fernsehen oder normale Berichterstattung verlassen müsste, so was kann eigentlich nur das Kino bringen, ein so intensives Porträt. Aber auch Filme, die sich gar nicht explizit mit der Welt beschäftigen, sondern eher introspektiv sind. Ein spanischer Film namens "Fin", in dem sich drei Jugendliche verabreden, zu einer Reise, die – man spürt es dann im Laufe des Films – nicht gut ausgehen kann.

    Klein: Ein Wort zu den deutschen Filmen, was erscheint Ihnen da herausragend?

    Terhechte: Es gibt sehr viele deutsche Filme wieder dieses Jahr, ich möchte einen aus unserem eigenen Programm herausheben, der heißt "Eine flexible Frau" von Tatjana Turanskyj, ein Erstlingsfilm. Da geht es um eine Frau Anfang 40, die ist Architektin, verliert ihren Job, und plötzlich driftet sie so durch Berlin, findet nirgendwo Halt, muss eigentlich unzumutbare Arbeit annehmen und weigert sich reinzupassen in diese Hartz-IV-Gesellschaft, die einen degradiert, die einen erniedrigt, und sie rebelliert dagegen. Es ist ein ziemlich tolles und sehr, sehr zeitnahes Porträt einer sicherlich nicht untypischen Figur.

    Klein: Es gibt ja Kinoliebhaber, die sagen, die eigentlich spannenden Filme, die laufen eher nicht im Wettbewerb, sondern in den kleineren Reihen, wie zum Beispiel im Forum. Woran liegt das eigentlich?

    Terhechte: Das würde ich so gar nicht unbedingt unterstreichen, das kommt drauf an, was man will. Für mich sind diese Filme spannender und natürlich auch für Zuschauer wie die eben gehörte Zuschauerin, die sich einfach festgelegt hat auf ein bestimmtes Programm, wo sie am meisten erwartet. Natürlich gibt es andere Zuschauer, die sagen, wir sehen sowieso nur im Wettbewerb, was wir sehen wollen, da gibt es mehr Spektakel, da gibt es mehr Unterhaltung, das finde ich vollkommen gerechtfertigt. Ich finde auch wunderbar, wenn die Filmemacher, die ursprünglich mal im Forum oder im Panorama debütiert haben, dann später im Wettbewerb zu sehen sind. Das ist der Lauf der Dinge, und wir müssen einfach die Augen offen halten, immer wieder entdecken, immer wieder Neues finden. Die einen mögen das Neue lieber, die anderen das Vertraute.

    Klein: Wer entscheidet denn letztendlich, nach welchen Kriterien wo welcher Film am besten hinpasst?

    Terhechte: Zunächst mal natürlich der Produzent, der sich überlegt, wo soll ich eigentlich, wo will ich eigentlich laufen und viele melden sich ganz gezielt im Forum an oder im Panorama, weil sie da wissen, sie kriegen ihr Publikum. Andere versuchen es erst mal überall und dann hat der Wettbewerb natürlich Priorität, aber der zeigt ja auch nur 20 Filme, und da bleibt schon einiges über für die anderen. Nur, dass man schon auch die Filme von uns aus einstuft, als typischer Wettbewerbsfilm oder typischer Forumsfilm. Da gibt es sehr, sehr schwer zu fassende und eigentlich aus der Filmauswahl selbst resultierende Kriterien.

    Klein: Es ist nicht mehr so leicht zu schockieren mit einem Film, wie vor 30 oder gar 60 Jahren. Die meisten Tabus sind auch auf der Leinwand gefallen. Was bringt den Film heutzutage weiter, wie erreicht man als Filmemacher noch das Außergewöhnliche?

    Terhechte: Ich würde sagen, indem man sich selbst treu bleibt, indem man Geschichten erzählt, die nicht ausgedacht sind, sondern die aus einem herauskommen. Ich meine nicht, dass man nicht Fiktion erzählen soll, aber dass man Geschichten erzählt, die wirklich etwas mit einem selbst zu tun haben, die nicht aufgesetzt wirken. Oder als Dokumentarfilmer, indem man sich einfach wirklich einlässt auf seine Sujets, indem man beobachtet und nicht vorher schon alles besser weiß.

    Klein: Der Jurypräsident trägt in diesem Jahr wieder einmal einen großen Namen, nämlich Werner Herzog. Was erwarten Sie?

    Terhechte: Ich finde es großartig, ich kann mir niemanden Besseren vorstellen als Werner Herzog. Das ist für mich der herausragende deutsche Regisseur, der in unterschiedlichen Kulturen gearbeitet hat, der viel gewagt hat, wirklich viel mehr gewagt hat als jeder andere, an den ich mich erinnere. Vielleicht mal abgesehen von Fassbinder, dessen Karriere ja sehr kurz war und dessen Leben auch sehr kurz war. Werner Herzog hat mit äußerst vielen Filmen – ich weiß gar nicht, wie viele der gemacht hat, weit über 40 – ein Oeuvre geschaffen, was ihn zu einem Vorbild macht für die unabhängigen Filmemacher heute.

    Klein: Die Einschätzung von Christoph Terhechte, Leiter der Sektion Forum bei der Berlinale. Die internationalen Filmfestspiele beginnen heute und sie finden zum 60. Mal statt. Ich bedanke mich für das Gespräch, Herr Terhechte!

    Terhechte: Vielen Dank!