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Terror im Namen des Islams
Schuldfrage treibt Muslime in Türkei um

Nach dem Anschlag auf "Charlie Hebdo" hat die türkische Führung eine mögliche Mitverantwortung der Satiriker mehrfach angedeutet. Das trifft auf Zustimmung in der Bevölkerung. Doch auch hier ist eine Debatte in Gang gekommen, die noch für Überraschungen sorgen könnte.

Von Luise Sammann | 12.01.2015
    Hagia Sofia in Istanbul
    Die Hagia Sophia in Istanbul: erst Kirche, dann Moschee, heute Museum (Marius Becker/dpa)
    "Der Täter ist der Westen." Mit dieser Schlagzeile lockte die türkische Tageszeitung Yeni Akit ihre Leser am Tag nach dem Anschlag gegen Charlie Hebdo in Paris. Die religiöse Yeni Akit ist bekannt für ihre radikalen Texte und Titel. Die meisten Türken geben wenig darauf. Doch auch, wenn andere es nicht derart direkt ausdrücken würden: Allein ist das Blatt mit seiner Reaktion nicht.
    "Wir als die Türkei verurteilen jede Art von Terror. Egal, von welcher Rasse und welcher Region, egal mit welcher Begründung und welchen Zielen", stellte der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu am Mittwoch fest – um dann jedoch ebenfalls auf "den Westen" zu sprechen zu kommen, der zumindest eine Mitschuld trage: "Etwas anderes, das heute die Menschen und unsere Werte bedroht, sind wachsender Rassismus und Xenophobie, Diskriminierung und Islamophobie. Wir sehen, dass all diese wachsenden Strömungen und der Terror sich leider gegenseitig nähren."
    "Verteidigung durch Angriff" nannte ein Journalist die Strategie, die mehrere Politiker der türkischen AK-Partei in diesen Tagen wählten. Richtig so, findet einer ihrer Wähler. "Sonst zeigen ja immer gleich alle mit dem Finger auf uns!" Und ein junger Mann erklärt: "Wir haben es einfach satt, uns als Muslime ständig rechtfertigen zu müssen, nur weil irgendwelche Extremisten unsere Religion missbrauchen."
    "Ich fühle mich nicht schuldig, weil ich Muslim bin"
    "Ich fühle mich als Mensch verantwortlich für jede Ungerechtigkeit in der Welt. Und wenn ein Bewaffneter jemanden überfällt, dann ist das eine Ungerechtigkeit. Aber ich fühle mich nicht schuldig, weil ich Muslim bin. Ich sehe das nicht so, als hätten 'meine Leute' hier einen Anschlag verübt."
    Während er spricht, kritzelt der junge Mann eine Figur auf eine Papierserviette vor sich. Faruk Günindi ist Karikaturenzeichner. Die Opfer bei Charlie Hebdo waren in gewissem Sinne Kollegen. Mit dem Unterschied, dass Faruk niemals Witze über seine oder irgendeine andere Religion machen würde. Das Magazin "Cafcaf", das er mit anderen jeden Monat herausbringt, ist das einzige islamische Karikaturenmagazin der Türkei. Die Frage, ob und wie man sich zu dem Anschlag in Paris positionieren – oder ob man sich gar schuldig fühlen müsse, war selbstverständlich Thema in der "Cafcaf"-Redaktion. Faruk hatte seine Position schnell gefunden: "Wir Muslime kämpfen nicht gegen den Teufel. Das Wichtigste ist, sich von ihm fernzuhalten. Das gilt auch für diese Ereignisse. Alles, was wir deswegen tun müssen, ist, uns von so etwas fernzuhalten."
    Rufe nach Positionierung werden lauter
    Es gibt einen Vergleich, der in der Türkei bereits nach dem 11.September 2001 die Runde machte: "Muss sich jeder Jude schuldig fühlen, wenn Israel im Gazastreifen palästinensische Kinder tötet?" Ümit Kivanc verdreht die Augen, wenn seine Landsleute davon anfangen. Was hat das mit uns zu tun, fragt er gereizt.
    "Natürlich erwarte ich, dass jemand reagiert, wenn in seinem Namen oder im Namen seines Glaubens Menschen umgebracht werden. Die Leute sollten sagen: Wer zur Hölle seid ihr, dass ihr es wagt in unserem Namen zu töten?!"
    Ümit Kivanc ist politischer Autor und Blogger in der Türkei. Seit dem Anschlag vom vergangenen Mittwoch hat er – der sich selbst betont säkular gibt – ein neues Thema: "Es gibt zwei Milliarden Muslime auf der Welt. Natürlich wäre es Quatsch zu sagen, dass diese zwei Milliarden jetzt verantwortlich sind. Aber zumindest wenn man Politiker ist, islamische Politik macht, dann muss man sich nach so einem Ereignis äußern!"
    Ümit Kivanc ist nicht allein mit dieser Meinung: "Der einzige Weg, um zu verhindern, dass der 7. Januar der muslimischen Gemeinschaft ähnlich schaden wird, wie es der 11.September getan hat, ist, dass die Muslime sich solchen Ereignissen an vorderster Stelle entgegenstellen", schrieb auch Cengiz Candar, einer der bekanntesten Journalisten der Türkei.
    Noch sind Stimmen wie diese eine Ausnahme am Bosporus. Doch auch unter den Demonstranten, die vergangene Woche auf dem Taksim-Platz ihre Solidarität mit den Opfern von Paris ausdrückten, konnte man sie hören.