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Terrorgefahr
"Die Extremisten schaukeln sich gegenseitig hoch"

Die Terrorgefahr in Europa sei heute größer als in den vergangenen 15 Jahren, sagte der Terrorismusforscher Peter Neumann im Deutschlandfunk. Neben der Bedrohung für den Einzelnen berge das vor allem eine politische Gefahr: Es gehe darum, die Gesellschaften zu destabilisieren.

Peter Neumann im Gespräch mit Doris Simon | 11.10.2016
    Der Terrorismus-Experte Peter Neumann vom Londoner King's College spricht im März 2016 in einer Fernsehsendung.
    Der Terrorismus-Experte Peter Neumann vom Londoner King's College. (picture alliance / dpa / Karlheinz Schindler)
    Neumann sagte weiter, dieser Effekt sei derzeit überall in Europa sichtbar. Die Extreme würden dadurch stärker - und zwar nicht nur auf islamistischer Seite, sondern auch auf rechtspopulistischer Seite. Die Extremisten schaukelten sich gegenseitig hoch.
    Der Forscher betonte, in Deutschland sei das noch nicht so schlimm wie beispielsweise in Frankreich oder Belgien. "Das Wichtigste ist natürlich, nicht das Spiel des IS zu spielen." Die Gesellschaft dürfe diese Polarisierung nicht mitmachen. Aus seiner Sicht sei es das Beste, Muslimen nicht mit Misstrauen gegenüberzutreten.
    Anders sei das bei Menschen, die beruflich mit Flüchtlingen zu tun hätten. Sie müssten sensibilisiert und trainiert werden. Zudem müssten die Sicherheitsbehörden die entsprechenden Ressourcen aufstocken. Das allerwichtigste sei, dass die Flüchtlinge sich untereinander kontrollierten. Die Festnahme eiens Terrorverdächtigen in Leipzig zeige, dass diese Bereitschaft existiere.

    Das Interview in voller Länge:
    Doris Simon: Der Bombenfund von Chemnitz, die Festnahme des Mannes hinter dem Anschlag, das heißt übersetzt: Auch Deutschland bleibt ein Ziel für Terroristen. Der Chemnitzer Bombenbauer ist Syrer, lebte hier als Flüchtling; es ist noch offen, ob er gezielt eingeschleust wurde oder sich erst hier zum Radikalen entwickelte. Das ist eine Entwicklung, die Polizei und Sicherheitsbehörden besonders Sorgen macht: Junge Leute, die sich erst in Deutschland islamistischen Terrororganisationen anschließen und sich radikalisieren.
    Professor Peter Neumann vom King’s College in London - er leitet das Institut zur Erforschung von Radikalisierung - hat sich zuletzt mit genau diesen hausgemachten Terroristen, Homegrown Terrorists, beschäftigt, also denen aus dem eigenen Land. Guten Morgen!
    Peter Neumann: Guten Morgen!
    Simon: Herr Neumann, nach Ihren Recherchen, wie sehr bedroht dieser hausgemachte Terrorismus unsere Gesellschaft?
    "Es geht letztlich darum, auch unsere Gesellschaften zu destabilisieren"
    Neumann: Na ja, er bedroht uns mehr als an irgendeinem Punkt in den letzten 10 bis 15 Jahren, und er bedroht uns auf unterschiedliche Art und Weise. Er bedroht uns nicht so sehr, weil er unsere Existenz bedroht. Natürlich tötet Terrorismus und es werden auch bei weiteren Anschlägen noch Leute umkommen. Aber es gibt noch eine weitere und genauso wichtige Gefahr, und das ist die politische Gefahr durch den Terrorismus. Bei Terrorismus geht es um das Terrorisieren. Es geht darum, politische Effekte zu erzeugen, und es geht letztlich darum, auch unsere Gesellschaften zu destabilisieren. Terrorismus hat die Absicht, Misstrauen zu säen, Angst zu schüren, Gesellschaften zu polarisieren, und das sehen wir ja jetzt genau überall in Europa, dass durch terroristische Anschläge die Extreme stärker werden, und zwar nicht nur auf islamistischer Seite, sondern auch auf rechtspopulistischer Seite. Die Extremisten, die kugeln sich gegenseitig hoch.
    Simon: Herr Neumann, es wäre ganz nett, wenn Sie nahe ans Handy herangehen, weil die Leitung ab und zu ein bisschen wechselhaft ist. - Wenn Sie das so schildern, sind wir da schon mitten drin in dieser gefährlichen Entwicklung in Deutschland?
    "Das Beste, was man tun kann, ist normal zu bleiben"
    Neumann: Ich glaube, in Deutschland ist es noch nicht so schlimm wie in Frankreich, in Belgien, in Schweden oder in Dänemark. In anderen Ländern ist es schon weitergegangen. Aber natürlich besteht diese Gefahr auch in Deutschland und wir müssen uns dessen bewusst sein, denn das Wichtigste ist natürlich, nicht das Spiel des Islamischen Staates und derjenigen zu spielen, die genau diesen Prozess verursachen wollen.
    Simon: Was heißt das, das Spiel nicht spielen?
    Neumann: Genau diese Polarisierung nicht mitzumachen. Ich werde häufig zum Beispiel gefragt, was kann ein normaler Mensch tun gegen den Terrorismus, und meine Antwort darauf ist: Im Prinzip das Normalste oder das Beste, was man tun kann, ist normal zu bleiben und zum Beispiel Muslimen nicht mit Misstrauen gegenüberzutreten, sich nicht anders zu verhalten, das Spiel des Islamischen Staates und der Extremisten nicht mitzuspielen.
    Helfer, die mit Flüchtlingen professionell zu tun haben, sensibilisieren
    Simon: Dann machen wir es doch mal konkret. In Deutschland mit einer Million Flüchtlingen, von denen einige sehr allein, sehr verzweifelt, psychisch auffällig sein dürften - und wir haben ja inzwischen diese Anschläge gehabt -, haben Sie inzwischen viele Menschen, die sagen, ich habe da Angst. Wie ist es hinzubekommen, denen die Angst zu nehmen und gleichzeitig nicht blind zu sein für die Gefahr?
    Neumann: Absolut! Ich denke, es ist wichtig, dass die Sicherheitsbehörden und dass der Staat absolut etwas tun, und gerade zum Beispiel bei den Flüchtlingen ist es so, dass natürlich die Sicherheitsbehörden ganz genau aufpassen müssen, dass Ressourcen in dieses Problem gesteckt werden müssen, dass auch die Kapazität geschafft werden muss, wo diese Kapazität nicht existiert, dass zum Beispiel Leute, die mit Flüchtlingen zu tun haben, auf dieses Thema sensibilisiert werden, auch darauf trainiert werden und dass der Staat hier ganz genau aufpasst.
    Aber wenn Sie mich fragen, die normale Bewohnerin eines Dorfes, in dem ein Flüchtlingswohnheim existiert, soll die sich gegenüber Flüchtlingen anders verhalten, misstrauischer verhalten, dann ist die Antwort darauf: Absolut nein! Das wäre die falsche Antwort. Aber die Leute, die mit Flüchtlingen professionell zu tun haben, natürlich müssen die trainiert werden und sensibilisiert werden, um mit dieser Gefahr umzugehen.
    Simon: Herr Neumann, da sagen Sie genau das, was am Montag Sebastian Fiedler vom Bund Deutscher Kriminalbeamter bei meiner Kollegin Bettina Klein gesagt hat. Nur sehen Sie denn auch die Bereitschaft - das kostet ja nicht nur viel Geld -, nicht nur in Sicherheit aufzurüsten, sondern auch Geld da reinzustecken, zum Beispiel bei uns in Deutschland?
    Selbstkontrolle unter Flüchtlingen
    Neumann: Ich denke, die Bereitschaft muss es geben, weil, glaube ich, jeder jetzt versteht, dass es potenziell zumindest eine Gefahr gibt. Übrigens die allerwichtigste Aufklärungsarbeit, die geleistet werden muss, oder das Allerwichtigste, was geschehen muss, ist in diesem Fall wie auch in anderen, dass sich Flüchtlinge gegenseitig kontrollieren, was wir ja auch sehr positiv gesehen haben im Fall von Chemnitz, dass die beste Kontrolle die Selbstkontrolle ist, nämlich dass Flüchtlinge sozusagen selber aufpassen auf andere Flüchtlinge, weil sie wissen, dass es in ihrem eigenen Interesse ist, dass dort nichts passiert. Und dass bei den Flüchtlingen selber die Bereitschaft existiert, das hat Chemnitz bewiesen.
    Simon: Kann das politisch gefördert werden?
    Neumann: Es kann insofern gefördert werden, als dass man Aufklärung schafft und dass man dort, wo auch Ressourcen benötigt werden, diese Ressourcen reinsteckt.
    Simon: Das heißt aber - und das ist politisch nicht immer sehr populär -, zum Beispiel in aktive Beobachtung nicht nur vom Verfassungsschutz, sondern auch durch Helfer von Flüchtlingen, wenn sie kommen.
    Neumann: Nein, es geht nicht um Beobachtung. Wenn man das als Beobachtung porträtiert, dann geht es natürlich schief, weil das dann den Überwachungsstaat wieder aufleben lässt. Ich glaube, es geht schlicht und einfach darum, vernünftig zu sein und zu sagen, zum Beispiel Helfern zu sagen, wenn hier etwas geschieht, was wirklich ungewöhnlich ist und was eurer Meinung nach die Polizei interessieren sollte, dann müsst ihr das auch die Polizei wissen lassen und euch verhalten, wie jeder normale Bürger sich verhalten sollte.
    Da geht es nicht darum, Leute anzustiften, Spione zu sein oder als inoffizielle Mitarbeiter zu arbeiten. In Deutschland ist das ja immer ganz schnell die Diskussion. Nein, es geht schlicht und einfach darum, Leuten zu sagen: Wenn ihr etwas bemerkt, was wirklich ungewöhnlich ist und was euch so seltsam vorkommt, dass ihr Angst bekommt, dann müsst ihr das auch zum Beispiel den Sicherheitsbehörden melden. Das ist das Normalste in der Welt und das sollte jeder Bürger machen.
    Simon: Peter Neumann war das zur Frage, wie verhindern wir Radikalisierung bei uns im Land, eine sehr aktuelle Frage nach den Ereignissen in Chemnitz und in Leipzig. Dazu hat Peter Neumann auch ein Buch geschrieben, das heute erscheint: "Der Terror ist unter uns". Herr Neumann, vielen Dank für dieses Interview.
    Neumann: Danke nach Köln.
    Simon: Auf Wiederhören!
    Neumann: Auf Wiederhören!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.