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"Terrorismus ist einfach Teil unseres Lebens"

Am 5. September 1972 verübten palästinensische Terroristen während der Olympischen Sommerspiele 1972 in München einen Anschlag auf die israelische Mannschaft. Schwimm-Trainer Avraham Melamed kam mit dem Leben davon.

Von Heiko Oldörp | 02.09.2012
    Avraham Melamed sitzt auf einer Parkbank in Peekskill, einem kleinen Ort rund eine Autostunde nördlich von New York. Der 68-Jährige schaut auf den Hudson-River, der durch das Tal fließt. Er genießt die Sonnenstrahlen, wirkt entspannt - auch wenn er über das Massaker von München redet.

    "”Ich habe die Geschehnisse von damals hinter mir gelassen, mein Leben nicht darauf fokussiert. Aber jetzt ist vieles zurückgekommen, denn die Menschen mögen Jahrestage. Und es ist halt eine Art Tradition, an diesen Jahrestagen an Dinge zu erinnern, zu feiern oder zu trauern.”"

    Melamed ist 1972 ein klassisches Beispiel für die Sicherheitslücken im Olympischen Dorf. 1964 und 1968 hat er als Schwimmer an den Sommerspielen teilgenommen, die Qualifikation für München jedoch knapp verpasst. Eine israelische Zeitung will ihn dennoch zu den Spielen schicken, hat aber weder eine Akkreditierung, noch eine Unterkunft für ihn. Da passt es gut, dass Shlomit Nir, die einzige Schwimmerin des israelischen Teams, den erfahrenen Melademd als Trainer an ihrer Seite haben möchte - der Verband stimmt zu und so wohnt Avraham Melamed mit der Mannschaft. Eine Akkreditierung hat er jedoch nicht. Melamed verhält sich unauffällig, trägt eine israelische Trainingsjacke um ins Olympische Dorf zu kommen, am Eingang der Schwimmhalle erzählt er den Kontrolleuren, er habe die Akkreditierung in seinem Zimmer vergessen - das genügt.

    Melamed ist zusammen mit Gehern, Schützen und Fechtern in Appartment 2 der Conollystraße 31 untergebracht. Er schläft im Erdgeschoss, als er am frühen Morgen des 5. September plötzlich Schüsse und Krach nebenan in Appartment eins hört. Hier wohnen Kampfrichter und Trainer und hier versucht Ringercoach Mosche Weinberg, den alle nur Muni nennen, die Terroristen des "Schwarzen September” an der Tür aufzuhalten.

    "”Wir wurden durch einen Schuss und die Aufruhr geweckt, als Muni sich ihnen in den Weg stellte. Anschließend blieb es für einige Zeit still. Ich habe versucht, meine Gedanken zu ordnen und dachte, vielleicht feiern die Uruguayer mal wieder, die nicht weit entfernt untergebracht waren. Die hatten in den Tagen zuvor oft gefeiert.”"

    Was dann passiert, kann Melamed bis heute nur erahnen.

    "”Wir alle denken, dass die Terroristen Muni, dem sie in den Kiefer geschossen hatten, zwangen, sie zu den anderen Athleten zu bringen. Und er hat sie wohl zu Appartment 3 geführt, weil er dachte, dass die dort wohnenden Ringer und Gewichtheber eventuell was ausrichten könnten.”"

    Auf dem Weg dorthin, gehen die schwer bewaffneten Eindringlinge an jener Wohnungstür vorbei, hinter der Avraham Melamed mittlerweile wieder eingeschlafen ist, eher er von erneutem Krach und weiteren Schüssen - diesmal aus Appartment drei - abermals wach wird.

    "”Ich versuchte mir weiterhin einen Reim auf alles zu machen und wieder einzuschlafen. Obwohl mir der Gedanke an Terrorismus kam, wollte ich es nicht wahrhaben. Eines der Teammitglieder kam von oben und erzählte, was passiert war. Ich konnte es nicht glauben und ging hinauf ins Obergeschoss. Von dort konnte ich durch das Fenster sehen, wie Muni in einer Blutlache lag. Ich erblickte auch den Terroristen-Anführer, wie er sich mit Leuten stritt, vielleicht waren das auch schon Verhandlungen. Erste TV-Kameras waren auch bereits vor Ort.”"

    Aufgrund der Fernsehkameras kommt Melamed zu dem Entschluss, dass das Schlimmste wohl vorbei sei und entscheidet sich, als Erster das Appartment durch eine Hintertür zu verlassen. Den Rest des Tages verfolgt er die Geschehnisse zusammen mit anderen Team-Mitgliedern vor dem Fernseher. So auch die Meldung, dass angeblich alle Gefangenen befreit worden sind.

    "”Wir haben vor Freude geschrien, applaudiert, unsere Fäuste in die Höhe gerissen. Aber einige Zeit später kam die Meldung, dass alles falsch war und alle gestorben sind. Das war, als wenn man vom Cliff springt und direkt auf dem Meeresboden aufschlägt. Schrecklich.”"

    Um ihn herum weinen die Menschen, Melamed indes ist überrascht von seinem Mangel an Emotionen. Wie viele stellt auch er die Schuldfrage - und zeigt bis heute auch auf Deutschland.

    "”Als Israeli habe ich großes Vertrauen in die Ausbildung unseres Militärs und die Spezial-Einheiten, um solche Situationen abzuwickeln. Deutschland hatte damals keine derartigen Einheiten, man brauchte sie nicht und man hatte vor allem keine Erfahrung. Am meisten tut mir weh, dass die Deutschen es keinem israelischen Spezialteam erlaubt haben, einzugreifen. Das war ein riesiger Fehler.”"

    Viermal pro Woche nimmt Avraham Melamed den Zug von Peekskill zur Arbeit nach Manhattan. Die Fahrt dauert knapp eine Stunde - viel Zeit, um nachzudenken.

    "”Ich frage mich, warum Terroristen noch keinen Anschlag auf die Grand Central Station oder den Times Square verübt haben? Täglich sind dort Hunderttausende Menschen und ich weiß nicht, ob jeder daran denkt, dass so etwas passieren könnte. Ich denke ständig daran, ich schaue mich um. Meine Erfahrungen von München haben dazu beigetragen. Terrorismus ist einfach Teil unseres Lebens. Wir haben nicht mehr den Luxus, dies zu ignorieren.”"