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Terrormiliz
"IS kann in Türkei weitgehend ungestört agieren"

Die türkische Regierung behindere den Islamischen Staat in der Türkei keineswegs, sagte der Nahost-Experte Michael Lüders im Deutschlandfunk. Auch Behörden und Geheimdienste stellten sich dem IS nicht in den Weg - weder in Sachen Grenzverkehr mit Syrien noch bei der Rekrutierung neuer Kämpfer.

Michael Lüders im Gespräch mit Jürgen Zurheide | 04.10.2014
    Eine IS-Flagge hängt an der Moschee in Mossul (12.9.2014)
    Eine IS-Flagge hängt an der Moschee in Mossul (dpa / picture-alliance / Str)
    Im Grunde genommen besorge der IS das Geschäft der Türkei, indem er die kurdischen Autonomiebestrebungen im Norden Syriens zerstört, sagte Nahost-Experte Michael Lüders. "Und gleichzeitig kann man auf diese Art und Weise die PKK schwächen, die in der Türkei als Terrororganisation gilt."
    Die türkische Regierung begehe denselben Fehler wie viele andere Akteure in der Region auch, "die geglaubt haben, man könne radikale Islamisten für die eigenen Zwecke benutzen."
    Auch sei nicht auszuschließen, so Lüders, dass die Türkei im letzten Moment die Entsendung von Soldaten in den Norden des Irak beschließe - in Richtung Kobane. Lüders: "Aber ganz gewiss nicht, um den Kurden dort beizustehen in politischer Hinsicht, sondern um sich dort als Besatzungsmacht einzurichten - um einen Streifen Land in Syrien zu erobern, von dem aus dann der Kampf gegen Assad vorangetrieben werden kann - wohlwissend, dass dieser Konflikt dann sehr schnell eskalieren kann."
    Was Syrien angehe, wolle die Türkei um jeden Preis das Assad-Regime gestürzt sehen. Die türkische Regierung glaube offenbar, dass die über eine Million syrischen Flüchtlinge dann wieder in ihre Heimat zurückkehrten.

    Das komplette Interview zum Nachlesen:
    Jürgen Zurheide: Zunächst einmal, guten Morgen, Herr Lüders!
    Michael Lüders: Schönen guten Morgen, Herr Zurheide, hallo!
    Zurheide: Fragen wir doch einfach mal: Diese etwas unklare Haltung ISIS oder IS gegenüber, war das, ich sag mal, nur den Geiseln geschuldet, die eine Zeit lang die Türkei möglicherweise zu einer etwas zurückhaltenden Haltung bewegt haben, oder gibt es andere Gründe?
    Lüders: Nein, das war eher ein vorgeschobener Grund. Der eigentliche Grund ist ein anderer. Die türkische Regierung in Ankara verfolgt eine Strategie, die mit dem Begriff zwiespältig noch sehr höflich umschrieben ist. Die Türkei verfolgt zwei Ziele gegenüber Syrien. Zum einen hat sie noch immer den Traum, dass man den Diktator Baschar al-Assad in Damaskus stürzen könnte. Und vor diesem Hintergrund versucht sie, ihre eigenen Truppen im Norden Syriens zu stationieren. Offiziell mit der Begründung, es gehe darum, die Kurden zu schützen im Norden des Irak, die ja gerade in der Grenzstadt Kobane einen Überlebenskampf führen, wenige Kilometer entfernt nur von der türkischen Grenze. Aber das ist ein sehr vergiftetes Angebot, denn im Grunde genommen besorgt der Islamische Staat das Geschäft der Türkei, indem er die kurdischen Autonomiebestrebungen im Norden Syriens zerstört. Und gleichzeitig kann man auf diese Art und Weise die PKK schwächen, die in der Türkei als Terrororganisation gilt. Die Türkei hat eine strategische Möglichkeit, sich zu unterscheiden, entweder den islamischen Staat zu bekämpfen oder aber die kurdischen Autonomiebestrebungen. Und sie hat sich, für den Augenblick jedenfalls, für Letzteres entschieden.
    Zurheide: Wie wird denn das dann weitergehen, auch zum Beispiel in Kobane, wo es jetzt ja heißt, na ja, die Türken wollten dafür sorgen, dass die Kurden sich dort halten – also Sie glauben nicht daran?
    Michael Lüders , aufgenommen am 14.10.2011 auf der 63. Frankfurter Buchmesse in Frankfurt am Main.
    Über Michael Lüders
    Geboren 1959 in Bremen. Er studierte arabische Literatur in Damaskus und Islamwissenschaften, Politologie und Publizistik in Berlin, wo er auch promovierte. Lüders engagiert sich in verschiedenen Organisationen, unter anderem in der Deutschen Orientstiftung. Er ist Berater für staatliche Institutionen und erstellt Fachgutachten.
    Lüders: Nun, es ist nicht auszuschließen, dass die türkische Regierung im letzten Moment die Entsendung von türkischen Soldaten beschließt, Richtung Kobane. Aber ganz gewiss nicht, um den Kurden dort beizustehen in politischer Hinsicht, sondern um sich dort als Besatzungsmacht einzurichten, um einen Streifen Land in Syrien zu erobern, von dem aus dann der Kampf gegen Baschar al-Assad vorangetrieben werden kann. Wohl wissend, dass dieser Konflikt dann sehr schnell eskalieren kann. Und genau darauf dürfte Ankara gegenwärtig spekulieren, auf den NATO-Bündnisfall. Man möchte um jeden Preis das Regime von Baschar al-Assad gestürzt sehen. Das wollen andere auch – aber die Amerikaner zumindest haben doch im Augenblick einen gewissen Pragmatismus. Sie sagen sich, wir gehen erst einmal gegen den Islamischen Staat vor. Und dann in einem zweiten Schritt gegen Baschar al-Assad. Beides kann man nicht miteinander verbinden, auch deswegen nicht, weil Russland und der Iran nach wie vor das Regime in Syrien unterstützen. Und wenn hier der Kampf zusätzlich aufgenommen wird gegen Baschar al-Assad, dann droht eine gefährliche Internationalisierung des Konfliktes.
    Zurheide: Damit sind wir aber in einer ganz komplizierten Situation, denn gerade jetzt, wie Sie sagen, dass der Westen, ich will noch nicht sagen, sich Assad annähert, aber zumindest den Kampf gegen Assad ein Stück zurückstellt. Genau in dem Moment kommen die Türken jetzt wieder ins Spiel. Wir reden möglicherweise, zumindest indirekt, mit Assad, und jetzt kommen sie da rein. Ist das auch einer der Gründe, warum sie jetzt aktiver werden?
    Lüders: Ich denke schon, dass die türkische Regierung sich gesagt hat, wenn die Dinge sich weiter so entwickeln und der Westen möglicherweise sich mit Baschar al-Assad arrangiert, dann haben wir ein ganz großes Problem. Vergessen wir nicht, dass Erdogan, der türkische Premierminister und jetzige Präsident einer der ersten war, der mit Baschar al-Assad gebrochen hat. Er hat allerdings unterschätzt, das zum einen die Minderheit der Alawiten im eigenen Land, in der Türkei, mit dieser Entscheidung gar nicht einverstanden war – sie steht eher auf Seiten von Baschar al-Assad und dessen Glaubensbrüdern, den Alawiten in Syrien. Und zum anderen ist Baschar al-Assad nach wie vor an der Macht. Mit dem Ergebnis, dass mittlerweile über eine Million syrischer Flüchtlinge in der Türkei sich befinden. Und die türkische Regierung glaubt offenbar, je eher Baschar al-Assad gestürzt wird, umso schneller werden diese Flüchtlinge zurückkehren. Man ist ein bisschen eingekeilt in den Fehleinschätzungen der eigenen Politik. Und nun weiß man in Ankara nicht so genau, wie es weitergeht, hat sich aber ganz klar entschieden für eine zumindest stillschweigende Kooperation mit dem Islamischen Staat, auf Kosten der Kurden.
    Zurheide: Jetzt haben Sie gerade den möglichen Bündnisfall schon angesprochen. Also, stellen wir uns das Szenario vor: Die Türken gehen aktiver vor im Norden, in Kobane, und dann geht Herr Assad wiederum gegen die vor – dann haben wir den Bündnisfall, oder?
    Lüders: Ja, das kann darauf hinauslaufen, im worst case. Es muss nicht so kommen, aber die Weichen sind zumindest gestellt in eine Richtung von Unübersichtlichkeit, Unüberschaubarkeit und einer möglicherweise gefährlichen Eskalation, die eigentlich niemand will, die aber aus der Situation heraus geboren wird. Moskau hat unmissverständlich klar gemacht, dass in dem Moment, wo Baschar al-Assad ins Visier genommen wird im Zuge dieses Krieges gegen den Islamischen Staat, Russland Syrien hochmoderne Boden-Luft-Raketen liefern wird. Sodass also die Einrichtung einer Flugverbotszone, was die Türken fordern, nicht mehr möglich sein dürfte, es sei denn um den Fall einer massiven Eskalation. Und auch Teheran hat ganz klar gesagt, dass es eine rote Linie gibt in Sachen Syrien, die nicht überschritten werden darf. Und das ist wirklich gefährlich in dieser jetzigen Phase. Es ist das eine, den Islamischen Staat bekämpfen zu wollen, aber die geostrategischen Interessen in der Region sind so unterschiedlich, dass es kaum möglich erscheint, die verschiedenen Akteure, darunter die Türkei, den Iran, Saudi-Arabien in ein Boot zu bringen. Und das birgt die Gefahr von wirklich einer massiven Eskalation. Und es offenbart natürlich auch, wie gutgläubig nicht zuletzt deutsche Politik auch ist: Man bewaffnet die Kurden im Norden des Irak, die Kurden im Norden Syriens aber werden gewissermaßen ihrem eigenen Schicksal überlassen beziehungsweise deren Hoffnung auf mehr Autonomie oder gar Unabhängigkeit hat sich erst einmal zerschlagen. Und das weiß man natürlich auch in Berlin und anderswo.
    Zurheide: Jetzt auf der anderen Seite, Sie haben es gerade gesagt, da sind viele Fehleinschätzungen mit dabei. Jetzt gehen wir noch mal auf die türkische Seite und fragen: Hat man nicht ISIS auch unterschätzt? Denn, wir haben es gesagt, da ist möglicherweise die Rekrutierung nicht behindert worden von ISIS-Kämpfern. Man hat Öl durchgelassen und damit für Ressourcen gesorgt – hat man nicht auch ISIS vielleicht unterschätzt?
    Lüders: Mit Sicherheit. Die Türkei, die türkische Regierung begeht den selben Fehler wie viele andere Akteure in der Region auch, die geglaubt haben, man könne radikale Islamisten für die eigenen Zwecke benutzen. Das hat Anwar al-Assad, der damalige ägyptische Präsident, auch gedacht. Er glaubte, mithilfe der radikalen Muslimbrüder könne er die damals sehr einflussreichen Nasseristen in Ägypten vor allem aus den Hochschulen herausdrängen. Das Ergebnis ist bekannt. Und so könnte es auch der türkischen Regierung gehen, die glaubt, sie könne sich des Islamischen Staates bedienen. Aber wenn man den Geist einmal aus der Flasche gelassen hat, ist er schwer zu kontrollieren. Der Islamische Staat kann in der Türkei weitgehend ungestört agieren. Es gibt ein Gentleman's Agreement – die türkische Regierung, die Behörden, die Geheimdienste behindern den Islamischen Staat nicht in Sachen Rekrutierung, in Sachen Grenzverkehr mit Syrien. Vor zwei Monaten erregte ein Video großes Aufsehen in der Türkei, was offenkundig eine Ramadan-Feier zeigte in Istanbul, die organisiert wurde vom Islamischen Staat. Mittlerweile sollen mehr als tausend Türken sich den islamischen Kämpfern dieser Organisation angeschlossen haben. Es ist also eine sehr gefährliche Politik, auch für die Türkei. Natürlich, umgekehrt gilt: Würde sich die Türkei offen gegen den Islamischen Staat richten, würde der Islamische Staat indirekt der Türkei den Krieg erklären. Drei, vier Anschläge in Antalya würden reichen und die Tourismusindustrie beispielsweise wäre am Ende.
    Zurheide: Eine schwierige Gemengelage im Nahen Osten. Was dahintersteckt, hat uns Michael Lüders erklärt. Herr Lüders, ich bedanke mich heute Morgen für das Gespräch!
    Lüders: Vielen Dank!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.