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Terrororganisation oder Verhandlungspartner?

Die palästinensische Hamas-Organisation hat gedroht, die Gewalt gegen Israel auch im Falle einer einseitig erklärten Waffenruhe fortzusetzen, da diese nicht den Rückzug der israelischen Armee aus dem Gazastreifen beinhalte, sagte ein Hamas-Vertreter in Kairo. Indes geht auch der Abschuss von Raketen aus dem Gazastreifen weiter, doch was will die Hamas damit erreichen?

Von Kristin Helberg | 17.01.2009
    "Gaza wird nicht untergehen, Gaza, Palästina und das palästinensische Volk werden siegen." Ismail Haniye, der Ministerpräsident der Hamas, bemüht sich um Zuversicht, in einer Videobotschaft aus seinem Versteck irgendwo in Gaza. Angesichts von mehr als 1100 Toten und 5200 Verletzten von Sieg zu sprechen, mag für westliche Ohren zynisch klingen. Für viele Palästinenser aber scheinen die Parolen wichtig, um die Kampfhandlungen durchstehen zu können. Vor allem, wenn sie von Haniye kommen. Der Hamas-Mann mit dem kurz gestutzten weißen Bart hält sich im Gazastreifen auf. Und er gilt vielen als Realpolitiker. Neben kämpferischen Tönen enthält Haniyes Rede deshalb auch politische Aussagen.

    "Wir arbeiten positiv mit jeder Initiative zusammen, die die Aggressionen gegen unser Volk und die Besatzung Gazas beendet und die die Öffnung der Grenzen und ein Ende der Blockade garantiert."

    Damit bestätigt Haniye die vier Forderungen, die zuvor die politische Führung in Damaskus an eine Waffenruhe geknüpft hat. Erstens müsse Israel seine Angriffe auf Gaza einstellen, zweitens sein Militär aus Gaza zurückziehen, drittens müssten die Sanktionen gegenüber Gaza aufgehoben und viertens die Grenzübergänge geöffnet werden. Nichts davon scheint unmöglich, denn auch die UNO-Resolution 1860 erwähnt diese Maßnahmen. Im Gegenzug sei die Hamas bereit, die Raketenangriffe auf Israel einzustellen.

    Jerusalem vertritt den Standpunkt, Israels derzeitige Militäraktion habe defensiven Charakter und sei eine Erwiderung auf die Qassam-Raketen, die ab 19. Dezember abgefeuert wurden. Hamas habe damit den Waffenstillstand gebrochen. Für die Hamas stellt sich dieser Sachverhalt entgegengesetzt dar. Osama Hamdan, ihr Sprecher im Libanon.

    "Die Israelis haben 35 Tage vor dem Ende des Waffenstillstands angefangen zu schießen und im November 2008 20 Palästinenser getötet, damals haben sie alle Grenzübergänge geschlossen. Hamas und der Widerstand haben nicht darauf reagiert bis zum 19. Dezember, dem Ende des Waffenstillstands. Das bedeutet, obwohl Israel die Waffenruhe nicht eingehalten und Palästinenser getötet hat, haben wir uns bis zum Schluss an die Waffenruhe gehalten."

    Auch eine weitere Abmachung der Feuerpause vom Juni 2008 habe Israel nicht eingehalten, so Hamdan: die schrittweise Normalisierung des Grenzverkehrs.
    Die Menschen im Gazastreifen hätten auch weiterhin im Belagerungszustand gelebt, es habe ihnen an Nahrungsmitteln, Treibstoff und Medikamenten gefehlt. Tatsächlich hatte die UNRWA, die für die Palästinenser zuständige UNO-Organisation, am 13. November 2008 erklärt, sie habe keine Nahrungsmittel mehr zu verteilen. Ihr Sprecher Christopher Gunness bezeichnete die Blockade als "barbarisch" und "unmenschlich". Wie aber konnte es so weit kommen?

    Ein Rückblick: Im Januar 2006 gewinnt die Hamas die Parlamentswahlen in Palästina. Der Westen fordert von ihr einen Gewaltverzicht sowie die Anerkennung Israels und bisheriger Abkommen. Doch die Hamas verweigert dies. Die USA und die EU stellen ihre Zahlungen an die palästinensische Autonomiebehörde ein. Der Versuch, mit der unterlegenen Fatah von Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas eine Regierung der nationalen Einheit zu bilden, misslingt. Im Juni 2007 eskaliert die Gewalt zwischen den beiden Palästinenserfraktionen. Während Abbas im Westjordanland eine Notstandsregierung ernennt, übernimmt die Hamas die Kontrolle im Gazastreifen. Von Israel und der westlichen Welt wird diese Übernahme als "Putsch" bezeichnet. Aus Sicht der Hamas ist sie das Gegenteil: Die "Durchsetzung des Wählerwillens". Israel riegelt daraufhin den Gazastreifen ab. Für die 1,5 Millionen Bewohner bedeutet das noch größeres Elend als zuvor.
    Mit dem Schließen der Grenzen verfolgte Israel - so ist anzunehmen - eine bestimmte Absicht: Angesichts der wachsenden Not sollten die Palästinenser der Hamas die Schuld geben und sie entmachten. Doch diese Rechnung geht nicht auf. Über ein Tunnelsystem schmuggeln die Islamisten Waffen und Munition in den Gazastreifen und demonstrieren mit dem Abschuss von Raketen, dass sie gegen die Blockade ankämpfen. Auch diese Rechnung geht jedoch nicht auf. Ende Dezember beginnt Israel seine Operation "Gegossenes Blei". Die Folgen: Tod und Zerstörung im Gazastreifen. Und viele zivile Opfer. Hamas-Sprecher Hamdan.

    "Die Israelis versuchen, mit dem Töten von Zivilisten Druck auf die Hamas auszuüben. Aber die Menschen, die sie töten, sind unsere eigenen Leute, unsere Verwandten, unsere Anhänger. Deshalb ist es ein zweischneidiges Schwert, Palästinenser zu töten. Am Ende wird es auf sie zurückfallen."

    Ihren Rückhalt in der palästinensischen Bevölkerung hatte sich die Hamas einst durch soziales Engagement erarbeitet. Seit ihrer Gründung im Dezember 1987 kümmert sie sich auch um Erziehung, Bildung und Gesundheit. Dabei galt sie vielen als uneigennützig, unbestechlich und effizient - im Gegensatz zur Fatah des ehemaligen Palästinenserführers Arafat. Bei den Kommunalwahlen 2004 und 2005 gewinnt die Hamas überraschend viele Gemeinden. Weil die Bevölkerung der Fatah das Vertrauen entzieht und fortan ihre Hoffnungen auf die Hamas ausrichtet.
    Doch die Hamas ist auch Miliz. Ihr bewaffneter Arm, die Kassam-Brigaden, hat einer israelischen Studie zufolge zwischen 1993 und 2004 mindestens 80 Selbstmordattentate verübt. Khaled Mashaal, der in Syrien lebende Chef des Politbüros der Hamas, rechtfertigt die Attentate im April 2006 als Reaktion auf Israels anhaltende Aggression gegenüber der palästinensischen Zivilbevölkerung.

    "Wenn Israel aufhört, palästinensische Zivilisten zu töten, hören auch wir auf, Zivilisten anzugreifen. Aber kann man von uns verlangen, uns nicht zu verteidigen, während Israel weiter Frauen, Kinder und Alte tötet? Wir sind keine zwei Staaten, die Krieg führen, sondern eine Besatzungsmacht und ein schwaches Volk, das sich mit einfachen Mitteln verteidigt."

    Im Interview mit westlichen Journalisten gibt sich Mashaal professionell und pragmatisch, gegenüber seinen Anhängern bedient er sich einer kämpferischen Polemik. Für die Hamas stellt das offenbar keinen Widerspruch dar: Als politische Partei, so heißt es, suche sie eine Lösung am Verhandlungstisch. Und als Miliz greife sie, wenn nötig, zu den Waffen. In einer Fernsehansprache vom vergangenen Wochenende betont Mashaal noch einmal das Recht auf Widerstand. Und er wehrt sich gegen die Stationierung internationaler Beobachter an Gazas Grenzen.

    "Wir akzeptieren keine internationalen Truppen, denn sie garantieren nur die Sicherheit Israels und verhindern den Widerstand. Jede internationale Truppe, die unserem Volk aufgezwungen wird, werden wir als Besatzer betrachten."

    Israel fordert von der Hamas, den Raketenbeschuss einzustellen. Warum machen die Islamisten dennoch weiter, riskieren dafür Tag für Tag neue Tote und Verletzte?
    Mit dem anhaltenden Raketenbeschuss auf Israel scheint die Hamas beweisen zu wollen, dass sie mit militärischer Gewalt nicht zu bezwingen ist. Hamas-Sprecher Hamdan fordert dennoch ein schnelles Ende des Blutvergießens.

    "Wir senden positive Signale aus, aber die Israelis reagieren nicht darauf. Sie denken, positive Signale der Hamas sind ein Zeichen von Schwäche, aber sie müssen verstehen, dass der Widerstand weitergehen wird, solange die Besatzung anhält."

    Die Frage ist, welche Gebiete die Hamas damit meint. Ihre Charta aus dem Jahr 1988 spricht von einem islamischen Staat in ganz Palästina - das heutige Israel inbegriffen. Hamas-Kenner wie die deutsche Politologin Helga Baumgarten glauben allerdings, dass die Charta an realpolitischer Bedeutung verloren hat. Ziel der Hamas sei heute die Beendigung der israelischen Besatzung in den Gebieten von 1967, nicht aber die Zerstörung des Staates Israel.
    Äußerungen der Hamas-Führer könnten auf die Richtigkeit dieser These hinweisen. Sowohl Ministerpräsident Haniya in Gaza als auch Politbürochef Mashaal in Damaskus haben Israel einen langfristigen Waffenstillstand angeboten, sollte es sich aus den 1967 besetzten Gebieten zurückziehen. Mashaal verweist dabei auf Scheich Ahmad Jassin, den Gründer der Hamas.

    "Bevor Scheich Ahmad Jassin 2004 von Israel getötet wurde, hat er Israel einen langfristigen Waffenstillstand in den Grenzen von 1967 angeboten. Aber das respektierte Israel nicht. Die arabischen Staaten haben bei ihrem Gipfel in Beirut im Jahr 2002 ebenfalls ein Angebot gemacht: Einen umfassenden Frieden gegen den Abzug Israels aus den Gebieten, die es 1967 besetzt hat. Was war das Ergebnis? Israel und die USA haben die Initiative ignoriert und die internationale Gemeinschaft hat nichts unternommen."