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The Marshall Project
Der "Sauerstoff" für kritische Juristen

Bill Keller gab 2011 seinen Job als Chefredakteur der New York Times auf, um ein gemeinnütziges, journalistisches Projekt zu leiten, das sich ausschließlich mit dem amerikanischen Justizsystem beschäftigt: "The Marshall Project" wirft einen kritischen Blick auf Missstände in Gefängnissen, Gerichtssälen und Polizeistationen.

Von Sacha Verna | 15.05.2017
    Anfang Juni startet auf Netflix die fünfte Staffel von "Orange Is the New Black". 6,7 Millionen Zuschauer werden dann verfolgen, wie es mit den Insassinnen des Litchfield Gefängnisses in Upstate New York weitergeht, wo die Protagonistin Piper Chapman eine 15-monatige Strafe wegen Drogenschmuggels verbüßt. Vom Alltag der 2,2 Millionen Menschen, die in den Vereinigten Staaten tatsächlich hinter Gittern sitzen, zeigt die populäre Serie natürlich nur eine arg geschönte Version. Doch ist Kirsten Danis froh, dass es sie gibt.
    Häftlingen ein Gesicht zu verleihen - das sei es, was Shows wie "Orange Is the New Black" gelinge und was sie beim The Marshall Project ebenfalls versuchten, sagt die Leiterin der 25-köpfigen Redaktion.
    Glaubwürdige Informationen vermitteln
    Der Chefredakteur Bill Keller sieht die Online-Publikation als Teil eines Ökosystems:
    "Wir sind keine Befürworter oder Gegner einer bestimmten Politik. Aber es gibt ein Netzwerk von Anwälten, Gesetzgebern, Akademikern und Journalisten, die sich mit der maroden Strafjustiz dieses Landes beschäftigen und sie reformieren wollen. Sie versorgen wir mit Sauerstoff, indem wir ihnen glaubwürdige Informationen vermitteln, die sie verwenden können, um die Gesetzgebung zu verändern."
    890 Reportagen, Porträts und Analysen hat das Marshall Project seit seiner Lancierung im Herbst 2015 veröffentlicht. Geschichten über die Missstände im berüchtigten Gefängnis von Rikers Island zum Beispiel. Eine andere über das Versagen der Behörden bei der Untersuchung einer Reihe von Vergewaltigungen in mehreren Staaten, die vom selben Mann begannen wurden. Dafür erhielt das Marshall Project gemeinsam mit ProPublica, einer anderen Organisation für investigativen Journalismus 2016 einen Pulitzer-Preis.
    Die Zusammenarbeit mit anderen Medien, vor allem mit Mainstreammedien - wie der Washington Post, Radio und Fernsehen - sei entscheidend, so Bill Keller. Verglichen mit den über 5 Millionen Besuchern, die etwa die New York Times auf ihrer Homepage in 24 Stunden verzeichnet, ist die Reichweite des Marshall Projects mit 400.000 pro Monat nämlich noch minimal.
    Für Werbetreibende nicht interessant
    Bill Keller war selber 30 Jahre lang bei der New York Times, acht davon als Chefredakteur. Er ist sich bewusst, dass das Marshall Project nur als Nonprofit-Unternehmen mit spendablen Förderern eine Chance hat, denn als Werbeträger seien Artikel über Vergewaltigungen im Gefängnis oder über die Datenbank für Missbrauchstäter nicht besonders attraktiv.
    Das Marshall Project verfügt über ein Jahresbudget von 5 Millionen Dollar. 98 Prozent dieses Geldes stammt von Stiftungen und privaten Sponsoren.
    Wird kritischer Journalismus zu einem "gemeinnützigen Unterfangen"?
    Einer der Sponsoren ist der Gründer und Vorsitzende Neil Barsky. Barsky begann als Journalist und machte ein Vermögen als Hedgefondsmanager. Seiner Ansicht nach war Journalismus nie profitabel. Einträglich war die Packung, in der er verkauft wurde. Mit der Abwanderung von Inserenten zu Google und Facebook hat dieses Geschäftsmodell ausgedient.
    Neil Barksy prophezeit, dass kritischer Journalismus mehr und mehr zu einem gemeinnützigen Unterfangen werden wird. Heute schon subventionieren Multimilliardäre Prestigeblätter, wie Amazon-Gründer Jeff Bezos die Washington Post. Die schreibt zwar Verluste tut aber dem Image von Bezos’ Imperium gut. Laut Barsky ist diese Entwicklung nicht unbedingt wünschenswert, aber unvermeidlich. Bleibt zu hoffen, dass ihm und anderen Giesskannenbesitzern die Freude an pflegeintensiven Topfpflanzen wie dem Marshall Project nicht plötzlich vergeht. Denn wenn Aufklärung an die Unterhaltungsindustrie delegiert wird, heisst es nicht mehr "Orange Is the New Black", sondern Alarmstufe rot.