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Theater auf Tuchfühlung

Die "Perser" von Aischylos über den Sieg der Griechen in der Seeschlacht 480 vor Christus werden wegen der Größe des Stückes nicht gerade häufig gespielt. Regisseurin Claudia Bosse hat rund 500 Bürger aus der Nähe Braunschweigs für ihre "Perser"-Inszenierung auf die Bühne geholt. Das Theaterexperiment zum Thema Demokratie hatte beim Festival "Theaterformen" neben anderen schönen Aufführungen Premiere.

Von Jan Lauer | 08.06.2008
    Amüsant war der Auftakt. Passend zum Titel "La Baraque" hat das Théâtre Dromesko aus Rennes eine solche Baracke vor dem Braunschweiger Rathaus aufgebaut - aus verwittertem Holz, urig eingerichtet mit grob gezimmerten Tischen und Stühlen für 150 Gäste. Man nimmt Platz, bedient sich an der Bar und lässt sich überraschen.

    Diese "musikalische Kantine" verfolgt keine durchgehende Handlung, sie unterhält mit Abwechslung. Die tschechischen Puppenspieler Petr, Matej und Milan Forman, Söhne des Regisseurs Milos Forman, bespielen mit einem Jahrmarkts-Kasperletheater auf Rädern oder einer Kleinstbühne am Fenster von außen einzelne Tische mit schrägen Szenen. "La Baraque" entwickelt so den Charme einer außer Kontrolle geratenen Familienfeier und ist etwa so köstlich wie die herzhafte Suppe, die in der Pause von den Forman-Brüdern gereicht wird.

    Ganz anders: die Tragödie "Die Perser" von Aischylos. Die festivaleigene Produktion unter der Regie von Claudia Bosse bildet den Kern der "Theaterformen" und behandelt beispielhaft das Leitthema "Demokratie". Intendant Stefan Schmidtke:

    "Wie funktioniert Demokratie? Wie funktioniert defekte Demokratie? Was sind Defekte in Demokratie? Und wer sind die Bürger, die daran teilhaben? Die Frage, die sich daraus gestellt hat, wie wir konzeptuell herangegangen sind - dass nämlich die Bürger von Athen in einem theatralisch-politischen öffentlichen Prozess Dinge verhandelt haben, die aktuell wichtig waren für die Existenz der athenischen Demokratie - legen wir um, indem wir fragen: Wer sind die Bürger heute?"


    Die antike Tragödie erzählt von der Seeschlacht von Salamis, in der die Griechen die überlegene persische Flotte vernichteten. Aischylos lässt das Geschehen aus Sicht der Besiegten beschreiben: Den Chor persischer Greise, der den Verlust des Heers beweint, verkörpern rund 300 Braunschweiger Bürgerinnen und Bürger.

    "Das hier, der Perser, gegangen,
    nach Hellas in das Land wird genannt Treue..."


    Sprache als Waffe, Sprache als Instrument, Identität und Politik zu verhandeln - Regisseurin Claudia Bosse serviert dem Publikum einen schweren Brocken. Dazu kommt noch ein weiteres Stilmittel: Das Publikum steht mit dem Chor auf der Bühne. Der eiserne Vorhang ist herabgelassen. Der Chor, in seiner Alltagskleidung nicht von den Zuschauern zu unterscheiden, ist in dieser theatralen "black box" in der Übermacht und bewegt sich, den Text deklamierend, durch den Raum.

    Mal gleiten die Sprecher wie Quecksilber zwischen den Zuschauern hindurch, mal werden diese von einer geschlossenen Phalanx buchstäblich an die Wand gedrängt. Das ist durchaus bedrohlich. Menschen und Sprache füllen den Raum, das kollektive Atmen ist fühlbar. Das Ergebnis dieses Theaterexperiments ist überzeugend, vor allem durch diese bedrückende Körperlichkeit.

    Inhaltlich scheint die Inszenierung mit Anspruch etwas überfrachtet. Auch ist der Text nicht immer verständlich. Aber es gibt starke Bilder: Wenn etwa die 300 Chorsprecher zu Boden sinken - erst vor Gram, dann wie tödlich verletzt - ist der Bühnenboden komplett mit Leibern bedeckt, den Zuschauern bleibt kaum Platz zum Stehen - Theater auf Tuchfühlung.

    Und noch ein Kontrast: Mit der Produktion "The Candlestickmaker" ist das junge Theater "Indian Ink” aus Neuseeland erstmals in Deutschland zu Gast. "The Candlestickmaker" erzählt von einem jungen Neuseeländer, der nach Indien reist, um das Land seiner Vorfahren zu sehen und seinen Großonkel, einen berühmten Astrophysiker, zu treffen. Am Ende findet er eine ganz eigene, Weltformel: Ein einfaches Fischcurry ist das Rezept zum Glücklichsein.

    Der in Indien geborene Ensemblechef Jacob Rajan wechselt mit von der Commedia dell’arte inspirierten Masken blitzschnell zwischen allen vier Rollen hin und her und verbindet dabei westliche und östliche Theaterformen wie etwa das Schattenspiel mit Slapstickhumor. Das Stück dürfte eher ein jüngeres Publikum fesseln. Wenn aber ein einfaches Papierboot auf dem Bühnenboden die Reise vorantreibt oder eine auf Ungarisch singende Ente alle Aufmerksamkeit auf sich zieht, dann entsteht pures, träumerisches Theater.