Donnerstag, 25. April 2024

Archiv

Theater in der Türkei
Lebendig wie nie zuvor

Während in der Türkei der Druck auf die Medien und Intellektuelle zunimmt, spielt sich das Theater zunehmend frei. Das Theaterfestival Istanbul kündigte an, dass es seine Frequenz verdoppeln und ab sofort jährlich stattfinden wird statt alle zwei Jahre. Auch bei den Zuschauerzahlen verzeichnen die türkischen Bühnen einen kräftigen Zuwachs.

Von Susanne Güsten | 12.05.2017
    Peformer auf dem International World Theater Day in Istanbul am 27. März 2017.
    Trotz politischer und wirtschaftlicher Krise wird in der Türkei nicht weniger Theater gemacht, sondern immer mehr, auch in Istanbul. (imago / Erhan Demirtas )
    So quicklebendig und aktiv ist die türkische Theaterszene, dass sie nicht mehr in das bisherige Format des Theaterfestivals hineinpasst, sagt die Direktorin des Festivals, Leman Yilmaz von der renommierten Istanbuler Stiftung für Kunst und Kultur.
    "Alleine in den letzten zwölf Monaten sind in Istanbul 165 neue Produktionen auf die Bühnen gekommen, insgesamt waren es 200 Theaterstücke - das ist eine gewaltige Anzahl. Praktisch jeden Tag gibt es hier Premieren, kommen neue Theaterstücke auf die Bühne. Wegen dieser Energie haben wir beschlossen, das Festival umzustellen und jetzt jedes Jahr zu machen."
    Kaum ein Drittel dieser Stücke kommt von den staatlichen Theatern, zu 70 Prozent werden sie von freien Theatern auf die Bühne gebracht. Trotz politischer und wirtschaftlicher Krise wird in der Türkei nicht weniger Theater gemacht, sondern immer mehr. Das sei schließlich der Zweck der Kunst, sagt Leman Yilmaz:
    "In Zeiten von Repressionen, Kriegen und Konflikten verspüren wir vermehrt das Bedürfnis, uns mitzuteilen und unsere Gefühle durch die Kunst auszudrücken, ob als Künstler oder Publikum. Insofern sind dies gute Zeiten für das Theater in der Türkei."
    Aus der Not geboren
    Die Zuschauerzahlen stützen diese Beobachtung: Knapp sechs Millionen Zuschauer verzeichneten die türkischen Bühnen im vergangenen Jahr – ein Plus von 25 Prozent innerhalb von sechs Jahren. Und das, obwohl bei den politischen Säuberungen der jüngsten Zeit viele Künstler von den staatlichen Theatern gefeuert wurden. Der Schauspieler Levent Üzümcü war der erste – er wurde wegen öffentlicher Kritik an der Regierung schon 2015 vom Stadttheater Istanbul entlassen und ist noch immer verbittert.
    "Ich habe am Stadttheater weniger verdient als ein Busfahrer, aber ich bin Sozialist, ich wollte für fünf Lira für das Volk auftreten. In unseren privaten Theatern kostet die Karte fünfzig Lira."
    Trotz dieser Eintrittspreise spielt Üzümcü sein jüngstes Stück seit Monaten vor vollen Theatern. Ähnliche Erfahrungen machen andere Künstler, die aus staatlichen Häusern entlassen wurden. In Diyarbakir etwa wurden im Januar alle Schauspieler des Stadttheaters auf die Straße gesetzt. Die Künstler gründeten inzwischen ein freies Theater und spielen nun, was sie wollen. An der Universität Ankara wurden fast alle Lehrkräfte des renommierten Theaterinstituts gefeuert – sie veranstalten nun im privaten Bereich gefragte Workshops.
    Damit verstärkt sich der Trend zum freien Theater in der Türkei, der aus der Not geboren ist. Schon seit Jahren konnten die staatlichen Theater nicht mehr alle Schauspieler aufnehmen, die von den vielen neuen Hochschulen im Land ausgebildet werden – alleine in Istanbul sind es inzwischen 150 im Jahr. Das Ergebnis, erzählt der freie Regisseur Emrah Eren:
    "Die Absolventen haben sich kleine Kellerbühnen gemietet oder alternative Theater gegründet und begonnen, ganz andere Geschichten zu erzählen. Früher wurden immer nur die alten Stücke gespielt, aber heute haben wir im alternativen Theater eigene Bühnenautoren, neue Schriftsteller und Regisseure – einen frischen Wind."
    Das freie Theater soll künftig sogar staatlich unterstützt werden
    Insofern seien dies tatsächlich gute Zeiten für das türkische Theater, sagt Eren, der selbst diesen Weg gegangen ist. Heute inszeniert er auf einer freien Bühne in Istanbul ein kritisches Theaterstück über Personenkult. Scherereien habe er bisher keine gehabt, sagt der Regisseur.
    "Das heißt nicht, dass es auch künftig keine geben wird, aber bis jetzt erfahren wir weder Zensur noch Selbstzensur."
    Das freie Theater soll künftig sogar staatlich unterstützt werden, so sehen es neue Richtlinien zur Kulturpolitik vor, die im März vom Nationalen Kulturrat vorgelegt wurden. Schon seit Jahren tritt die Regierung für eine Privatisierung der staatlichen Theater ein, die von den alten Eliten des Landes dominiert wurden. Nun sollen die Subventionen für das staatliche Theater über die nächsten fünf Jahre schrittweise heruntergefahren werden; zugleich werden Subventionen für die freien und unabhängigen Theater eingeführt.