Freitag, 29. März 2024

Archiv

Theater in Villeurbanne
Bettencourt-Affäre auf der Bühne

Steuerhinterziehung, illegale Parteispenden, Rivalitäten unter Erben, Geldadel und Regierung - der Skandal um die reichste Frau Frankreichs, Liliane Bettencourt, war nicht nur eine politische Affäre und ein Gesellschaftsskandal großen Ausmaßes. Er hatte auch Züge eines Dramas. Für die Bühne hat Michel Vinaver die Affäre dramatisiert und auf ein menschliches Maß gebracht.

Von Eberhard Spreng | 20.11.2015
    Eine Unzahl von Artikeln in der Regenbogen- und der seriösen Tagespresse, zahllose Fotos und Illustriertenbeiträge haben sie zu gewaltigen Ikonen eines jahrelangen Gesellschaftsskandals mit politischen, juristischen und familiären Aspekten gemacht. Und nun stehen sie auf der großen Bühne des Théâtre National Populaire quasi auf menschliches Maß geschrumpft, vor den Augen des Publikums.
    Michel Vinaver schildert sie so: Die reichste Frau Frankreichs, Liliane Bettencourt, erlaubt sich nach dem Tod ihres Mannes an der Seite des Glamour-Fotografen François-Marie Banier ein paar emotionale Eskapaden, ihre Tochter Françoise Bettencourt-Meyers, die ob der Millionengeschenke der Mutter an Banier den Klageweg beschreitet, der Vermögensverwalter Patrice de Maistre, der Ex-Minister Éric Woerth, der trotz seines Rufs als hochkorrekter Beamter in Verruf gerät, und seine Frau Florence, die bei den Bettencourts nur eingestellt wurde, weil sie bei der "Steueroptimierung" der Vermögensverwaltung gute Dienste leisten soll. Regisseur Christian Schiaretti hat viele der zahlreichen Rollen typnah besetzt: Vergnügt erkennt das Publikum sie wieder, noch bevor die Akteure ein Wort sagen: Allen voran die Liliane Bettencourt der Francine Bergé, die die Grande Dame zugleich als zierliche Person und maliziösen Drachen zeichnet:
    Didier Flamand spielt den Charmeur und Nonkonformisten François-Marie Banier, in dem die Milliardenerbin einen großen von den Museen verkannten Künstler sieht. Aber von der Exaltiertheit des Dandys lässt Didier Flamand wenig ahnen.
    Im Grunde liegt in dem merkwürdigen Verhältnis zwischen der alten Dame und ihrem Freund eine shakespearesche Dimension: Sie ähnelt dem alternden Lear und seinem Narren. Die Bettencourt vernachlässigt die gesellschaftliche Rolle, die ihr als Milliardenerbin zukommt, zugunsten einer emotionalen Unbedachtheit. Und Banier gaukelt ihr schlau vor, nur mit ihm könne sie einen Blick in die Tiefen ihrer unerfüllten Wünsche werfen. Dass all dies mit Geld zu tun hat, und dass die zunehmend verwirrte Dame das mit den Gefühlen und das mit dem Geld verwechselt, steht im Kern der Intrige.
    Historische Tiefenschicht wird frei gelegt
    Michel Vinaver hat den Justizskandal in seiner in 30 Szenen zerlegten Sammlung von Aspekten der Affäre Bettencourt getilgt, dagegen aber eine historische Tiefenschicht frei gelegt. Das Geld der Erbin entstammt bei ihm den furiosen Erfolgen ihres erfinderischen, aber rechten und rassistischen Firmengründers, der mit seinem Geld die sogenannte Cagoule, eine militante rechtsradikale Organisation finanzierte.
    L'Oréal-Gründer Eugène Schueller gegenüber steht der Rabbiner Robert Meyers, Vater des Ehemannes der Bettencourt-Tochter. Deren Söhne hat der Regisseur dem Stück des 88-jährigen Dramatikers als stumme Figuren hinzugefügt: In ihren Adern fließt, so Vinaver, das Blut eines in Auschwitz vergasten Juden und das eines antisemitischen Rechtsradikalen. Die tiefen Risse im Urgestein der französischen Gesellschaft unterhalb der zeitgenössischen Skandaloberfläche interessieren einen Autor, der seine Figuren immer schon in ihrer Widersprüchlichkeit und Ambivalenz gezeichnet hat und auch hier keinen an sich guten, keinen an sich bösen Charakter entwirft. Aber: "Was hat das Theater mit dieser Geschichte zu tun" fragt Vinaver mit den Worten des Erzählers am Ende. Die Frage bleibt in Teilen ohne Antwort.
    Die blauen, roten, gelben und weißen Karrés, die sich von den Gassen und dem Schnürboden in immer neuen Konstellation ins Blickfeld schieben, erinnern an die Abstraktionen eines Piet Mondrian, sie können sich in einem kleinen Sarkozy-Monolog zu einem flüchtigen Trikolorendekor verdichten, aber sie entrücken das Geschehen in eine formalistische Beliebigkeit. In diesem Theater gibt es kaum Protagonisten. Alle der 16 Figuren aus Politik-, Wirtschafts- und Kunstbetrieb sind gleichberechtigte Puzzlesteinchen in einem Gesellschaftstableau, in dem sich das Frankreich der Happy Few spiegelt.