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Theater
Kein Kern und keine Seele

Ivan Panteleev hat am Deutschen Theater Berlin Henrik Ibsens "Peer Gynt" als Zwei-Personen-Stück inszeniert. Panteleev hat das dramatische Gedicht mit seiner Minimalbesetzung auf einen zentralen Beziehungspunkt gebracht. Das bedeutet allerdings nicht, dass er etwas Essenzielles über Mutter-Sohn-Beziehungen erzählen würde.

Von Eberhard Spreng | 01.10.2015
    Peer Gynt und Mutter Aase am Weltenende: Auf leerer Bühne ein einsames Zelt, durch dessen Wände eine müde Funzel leuchtet. Auf dem Boden weißer Sand, oder ist es Schnee? Eine Polarexkursion oder ein Wüstenabenteuer? Auf jeden Fall ist dieser Peer Gynt mit diesem Bild schon da angekommen, wohin es ihn im Ibsenschen Original erst noch treiben muss: In der Erkenntnis, dass, wenn alle Schalen der Zwiebel abgeschält sind, das pure Nichts bleibt. Das Verschwinden der Welt, mit allen ihren Trollen, ihrem exotischen Marokko, ihren Wüsten und Oasen und ihrer Kairoer Irrenanstalt ist hier schon vorweggenommen. Ebenso Peers Selbsterkenntnis, wenn er alle Rollen abgestreift hat: den armen Bauernjungen, den Geschäftsmann, den König der Selbstsucht, den treulosen Liebhaber und rastlosen Abenteurer. Der Zustand melancholischer Leere steht hier nicht am Ende einer bunten und bilderreichen Theaterreise, sondern ist dem Theater schon als Seinszustand vorausgesetzt. Eine Peer-Gynt-Meditation also, Scharren nach Ibsen-Spuren im Sand, über das ein grelles Streiflicht fällt. Auch wirft dieses radikal vereinfachte Licht zwei große Schatten auf die schwarze Bühnenrückwand. Den von Samuel Finzi, dem traurigen Gauner, und den von Margit Bendokat, dem hintergründigen Mütterchen.
    In Peers Leben kann es keine andere Frau geben
    "Die Liebe muss neu entdeckt werden. Das wirkliche Leben ist woanders. Die Landschaft fliegt vorbei, Jahrhunderte und Aberjahrhunderte entschwinden wie Gewitterwolken im Himmel. Solveig, tanz mit mir."
    "Ich weiß nicht".
    Margit Bendokat spielt Mutter Aase, spielt Solvejg, spielt Anitra und so weiter, spielt also die Mutter und die immerfort von Peer Gynt verlassenen Geliebten. Das ist tiefenpsychologisch konsequent, denn den Peer hat sie so eng an sich gebunden, dass es in seinem Leben keine andere Frau geben kann. Und auch seine Beziehung zur Welt hat sie fest im Griff. Alles, was Peer widerfährt, jeder Mensch, den er trifft, bleibt letztlich auf seine Mutter bezogen; da nützt kein Wegrennen, kein Abenteuer, keine Weltreise. Dass Ivan Panteleev das dramatische Gedicht mit seiner Minimalbesetzung auf den zentralen Beziehungspunkt gebracht hat, bedeutet allerdings umgekehrt nicht, dass er an diesem kurzen Peer-Gynt-Abend etwas Essenzielles über solche Mutter-Sohn-Beziehungen erzählen würde. Bendokat und Finzi bleiben sich innerlich und äußerlich fern, getrieben nur von einer hohen Sprachkultur, in die sich allerdings ein paar fremde Einsprengsel mischen: Heiner Müller etwa.
    Der Gestus erinnert sehr an Gotscheff.
    Mit zeremonieller Langsamkeit und als solcher etwas penetranten Kunstwilligkeit wird das aus rohen Zweigen zusammengesetzte Zelt diagonal über die Bühne gezogen. Die Bendokat schneidet mit einem Messerchen ein Fensterchen hinein, später wird Finzi die Pergamentbespannung des Zeltes regelrecht zerfetzen und das nackte Holzgerüst zurücklassen. Dass er einen seiner Texte von einem der so entstehenden Papierfetzen abzulesen vorgibt, gehört zu den eher fragwürdigen Regieideen, die dieses von Bühnenbildminimalist Johannes Schütz entworfene Dekor nahe legt. Schöner ist zu sehen, wie er sich in rasanter Folge sein Taschentuch über den Kopf wirft und ein mohammedanisches Gebet andeutet, dann einen Juden mit Gebetsriemen skizziert, schließlich eine buddhistische Meditation, immer wieder mit dem raschen Blick nach oben, zum Allerhöchsten, gefolgt von enttäuschtem Kopfschütteln. "Nein", keine Reaktion erkennbar. Was dem Menschen bleibt, ist radikale Versenkung in die eigene narzisstische Störung.
    "Die neue Zeit ist angebrochen.
    Die Vernunft ist tot. Es lebe Peer Gynt!
    Euer Kaiser ist gekommen.
    Ein Mann, der er selbst ist."
    Natürlich ist auch in Ivan Panteleevs reduziertem und auf technischen Bilderschnickschnack verzichtenden Peer-Gynt-Oratorium einiges von der Kunst dieser beiden Ausnahmeschauspieler zu erkennen. Der ganze dramaturgische und szenische Gestus erinnert allerdings auch sehr an den verstorbenen Lehrmeister Dimiter Gotscheff. Aber die Kunstwilligkeit ist hier übermächtig, und die Aufführung hat wie Peer Gynts Zwiebel, keinen Kern und keine Seele.