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Theater-Premiere
Nur die Harten kommen in den Garten

Mit Darwinismus, Kapitalismus und Landflucht beschäftigt sich Judith Schalansky in ihrem Roman "Der Hals der Giraffe". Im Zentrum steht dabei eine Biologie-Lehrerin vom alten Schlag. Am Deutschen Theater Berlin kam der Roman jetzt als Bühnenstück heraus.

Von Barbara Behrendt | 23.09.2019
Judith Hofmann während der Fotoprobe zu "Der Hals der Giraffe" im Deutschen Theater Berlin, Box, 20. September 2019. Nach dem Roman von Judith Schalansky
Judith Hofmann in "Der Hals der Giraffe" am Deutschen Theater Berlin (imago images / Martin Müller)
Der Hals der Giraffe ist das Symbol der Anpassung im Überlebenskampf. Über zahllose Generationen hinweg haben sich jene Tiere fortgepflanzt, die die meisten Blätter auf den Baumkronen zu fressen bekamen.
Biologie-Lehrerin Inge Lohmark: "Und so kam eins zum anderen. Und die Giraffe zu ihrem langen Hals. Und alle anderen, alle die, die sich nicht genug angestrengt hatten, gingen jämmerlich zugrunde. Wir alle versuchten, an die schwer erreichbaren Blätter heranzukommen. Das Leben war ein Recken und Strecken. Für jeden Einzelnen von uns."
Von diesem "höher, schneller, weiter" des Darwinismus und Kapitalismus ist Inge Lohmark müde. 30 Jahre lang hat sie in der Vorpommerschen Provinz Kinder an der Schwelle zur Adoleszenz unterrichtet - Schüler mit, so sagt sie, "talgblühenden Gesichtern", "geistlosem Ausdruck", "Gehirnen wie Hohlorganen".
Predigten über Zucht und Auslese
Voller Pessimismus schaut sie auf den verfallenden Osten, auf die paar Übriggebliebenen, die sie noch unterrichtet, bevor die Schule dicht gemacht wird. Die Jungen ziehen weg. Die Natur holt sich das brach liegende Land zurück. Die verhärmte, aber intelligente, glasklar formulierende Inge Lohmark hat selbst im Sozialismus an ihrem darwinistischen Weltbild festgehalten, als man den Menschen zum Besseren erziehen wollte. Noch immer predigt sie über Zucht und Auslese:
"Es lohnte sich einfach nicht, die Schwachen mitzuschleifen. Sie waren nur Ballast, der das Fortkommen der Anderen behinderte. Früher oder später blieben die Unterbelichteten ohnehin auf der Strecke. Wer den hoffnungslosen Fällen weismachte dazuzugehören, der brauchte sich nicht zu wundern, wenn sie irgendwann mit Rohrbomben und Kleinkalibergewehren in die Schule marschierten, um sich zu rächen für all das, was ihnen jahrelang versprochen und vorenthalten wurde."
Doch ihr System bekommt Risse: Ihre Unterrichtsmethoden werden gerügt. Körperlich fühlt sie sich plötzlich zu ihrer Schülerin Erika hingezogen. Das bröckelnde Überlebensprinzip legt jedoch kein neues frei, alles ist Zerfall und Niedergang.
Mensch als vorübergehender Parasit
Judith Schalansky schreibt von Überalterung, Klimawandel, Landflucht und Systemumbrüchen. Eine philosophische Betrachtung, die infrage stellt, ob der Mensch die Natur beherrscht - oder umgekehrt. Freier Wille, Humanismus, Aufklärung haben im Weltbild der Protagonistin keinen Platz. Der Mensch ist ein vorübergehender Parasit:
"Irgendwann, schon in ein paar Jahrhunderten, wird hier ein stattlicher Mischwald stehen. Und von allen Gebäuden wird höchstens die Kirche übrig sein. Der Mensch ist ein flüchtiges Vorkommnis auf Proteinbasis. Ein zugegeben recht erstaunliches Tier, das diesen Planeten für kurze Zeit befallen hat und schließlich wie ein paar andere wundersame Wesen wieder verschwinden wird. Von Würmern, Pilzen und Mikroben zersetzt. Ein lustiges Fossil. Von niemandem mehr ausgegraben."
Der Regisseur Philipp Arnold versucht diese intellektuelle Einlassung hauptsächlich in Bildreize zu übersetzen. Er lässt die Geschichte nicht in einer ostdeutschen Schule nach der Wende spielen, sondern steckt seine drei Spieler in schwarze Kostüme aus dem Elisabethanischen Zeitalter mit Halskrausen, Perücken, dazu weiß geschminkte Gesichter.
Sie sprechen an der Rampe, vor einer Holzwand, von der die Farbe abbröckelt. Darauf werden Schatten projiziert, von Bäumen, Vögeln, Tigern. Immer wieder tut sich dieser Zaun auf - doch von der Welt bleibt man ausgegrenzt.
Innensicht statt Dialoge
Judith Hofmann, Bernd Moss und Linn Reusse monologisieren Lohmarks Gedanken. Moss und Reusse verwandeln sich zwar auch mal in eine Schülerin oder den Ehemann, doch da der Roman aus der Innensicht der Lehrerin geschrieben ist, kann es keine Dialog- und kaum Spielszenen geben.
Tiermasken werden aufgesetzt, Linn Reusse trägt als Schülerin Erika violettes Heidekraut über dem Kopf. Und so bleibt die Inszenierung in der Verfremdung und in einem atmosphärischen Raunen stecken, das sich der intellektuellen Auseinandersetzung entzieht. Den geschichtsphilosophischen Gehalt des Romans verunklärt der Regisseur mit seiner surrealen Bildästhetik und der historischen Konkretisierung. Denn die Verlegung ins Elisabethanische Zeitalter führt auf die falsche Fährte - als habe die Geschichte ihren Platz in eben dieser Epoche. Wer das Buch nicht gelesen hat, der wird an diesem Abend ohnehin seine Schwierigkeiten haben, die großen Themen zu entdecken, die in diesem Stoff liegen.