Samstag, 20. April 2024

Archiv

Theateraufführung von "89/90"
Ein Blick in die Zeit des Umbruchs

Der Journalist Peter Richter beschreibt in "89/90", seinem voriges Jahr erschienenen Roman, eine Art Familie, die in jenem Auf- und Umbruchs- und Zusammenbruchs-Jahr zerbricht. Das Buch ist ein Dresden-Roman, im Staatsschauspiel dort fand nun die Theaterpremiere statt.

Von Michael Laages | 28.08.2016
    Mehrere hunderttausend Menschen aus Ost und West feiern am 31.12.1989 zum ersten Mal seit dem Bau der Berliner Mauer ausgelassen ein gesamtdeutsches Silvester am Brandenburger Tor.
    Mehrere hunderttausend Menschen aus Ost und West feiern am 31.12.1989 zum ersten Mal seit dem Bau der Berliner Mauer ausgelassen ein gesamtdeutsches Silvester am Brandenburger Tor. (Wolfgang Kumm, dpa picture-alliance)
    Jeder hat die eigene Erinnerung an dieses Damals … "Das Chaos ist aufgebraucht - es war die beste Zeit!" - der Satz aus Bert Brechts frühem Stück "Im Dickicht der Städte" prangte jahrelang an einer Fassade gleich neben der Ostberliner Volksbühne; er bezeichnete jenes wilde, unberechenbare Jahr zwischen der Agonie der DDR und dem Anschluss von deren Resten an den reicheren Nachbarn im Westen, die Bundesrepublik Deutschland.
    Genau von diesem Chaos-Jahr erzählt Peter Richters Roman – und wer da gestern (sagen wir mal) als Mutter oder Vater mit den heranwachsenden Kindern von heute im Kleinen Haus vom Dresdner Schauspiel saß, hat danach auf dem Heimweg und zu Hause sicher die eine oder andere private Nachhilfe-Stunde in allerjüngster Geschichte geben müssen. Gut so, sagt Peter Richter - wer das Leben von vor über 25 Jahren nicht noch mal genau ins Visier nehme, interessiere sich womöglich auch nicht sonderlich für die Gegenwart; von der Zukunft ganz zu schweigen.
    Neue Nazis kommen
    Irgendwie bricht alles weg im Frühsommer 1989 - viel zu viele Mädchen sind in den Westen geflüchtet, der letzte Schüler-Lehrgang durchleidet politische Indoktrination und die Zwangsverschickung ins Wehrlager, und aus China kommen die Nachrichten von den Schlachten auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Beijing. So erlebt es die Clique um P.; in der Dresdner Neustadt sind sie alle zu Hause, und der illegale nächtliche Besuch in der Bülauer Badeanstalt bietet das Maximum an kleiner, privater Grenzüberschreitung. Kein Jahr später stecken sie alle inmitten gelebter Anarchie - die Züge mit den Geflüchteten aus der Prager Botschaft rauschen durch am Dresdner Hauptbahnhof, die brutalen Polizei-Einsätze gegen Demonstranten beginnen auch hier.
    Im November ist die Mauer weg, im Dezember steht Kanzler Kohl, Helmut der Heilsbringer, vor der (damals noch) Ruine der Frauenkirche und ruft den Kampf für die Einheit der Nation aus. Da sind P. und seine Jungs schon beinahe eingekesselt von den Cliquen neuer Nazis, die wie Unkraut aus dem Boden geschossen sind in ganz kurzer Zeit. Während die linken Jungs Abbruchhäuser besetzen, ziehen die schwarzbraunen Glatzen schon mit Baseballschlägern durch die Neustadt.
    Das Chaos aufgebraucht
    Das alles ist bei Richter atmosphärisch dicht erzählt, wenn auch ohne allzu viel Weltpolitik im Hintergrund. Regisseurin Christina Rast erzählt im Ambiente der Schwester und Bühnenbildnerin Franziska dazu eine Art kollektiver Revue - die Figur des Ich-Erzählers wird praktisch unfassbar, weil sie durchgängig auf sechs Stimmen verteilt ist; wer gerade nicht von sich erzählt, übernimmt das Leben der Anderen und deren Stimmen. Das funktioniert recht gut im ersten, längeren Teil, der szenisch all die altbekannten Schreckens-Szenarien der DDR-Jugend einzufangen versucht, live unterlegt vom Heavy-Metal-Rock des "Dyse"-Duos; Silvester 1989 ist Pause.
    Danach, also rein historisch bis zum Sommer nach den ersten Wahlen und kurz vor dem Beitritt im Oktober 1990, funktioniert das Kollektiv dann nicht mehr - mit Schnipsel-Zitaten aus Richters Buch (und mit ihm in der Hand) wird eine Art Text-Puzzle ausgelegt über die signifikanten Neuigkeiten im Alltag der Anarchie. Die Macht des Geldes wird immer wieder beschworen, auch die wachsende Verzweiflung derer, die tatsächlich auf ein "neues" Deutschland gehofft hatten. Dann war - wie gesagt - das Chaos aufgebraucht und am Straßenstrich hinter der tschechischen Grenze wie im Lärm der Rave-Keller zerbrachen auch die letzten alten Gemeinsamkeiten der Clique um P. Was bleibt, ist ein schönes Bild: das vom "atmosphärisch-kollektiven Tinnitus"; einem Klang, der nicht mehr weggegangen ist, auch nicht im Vierteljahrhundert seither.
    Viel Projektion ist notwendig
    Den Vergleich mit Tellkamps "Turm" hat "89/90" nicht verdient; es hält ihn aber auch nicht aus. Das Regie-Team um Rast & Rast sucht (und findet zuweilen) Bilder für etwas, was im Grunde vor allem eine Reportage ist - viel Projektion flackert auf dem hinteren Vorhang, riesige Papp-Gesichter der weltpolitisch handelnden Personen können auch ulkig mit den Mäulern klappen. Das Ensemble müht sich redlich um die Vielfalt der Figuren. Und ein Bild lässt tatsächlich stutzen – da baut ein älterer Herr im alten DDR-Trainingsanzug den ganzen zweiten Teil über eine neue Mauer auf die Bühne.
    Die trennt vielleicht jetzt die Zivil-Gesellschaft in Deutsch-Dresden vom rechten Mob, der schon in der Wende wuchs. Auch das werden die Eltern den Kindern erklären müssen, wenn sie "89/90" hinter sich lassen.