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Theaterfestival Avignon
Die jungen Braven auf dem Vormarsch

Die eigentlich angekündigte Abwendung von performativer Avantgarde hin zum literarischen Theater der Schauspieler hat das Theaterfestival Avignon dieses Jahr nicht überzeugen geleistet. Auch die angekündigten neuen Namen gingen eher unter. In der Provence ist der Konventionalismus am Werke.

Von Eberhard Spreng | 24.07.2015
    Der Leiter des Theaterfestivals von Avignon, Olivier Py, während der Pressekonferenz am 27. März 2015.
    Der Leiter des Theaterfestivals von Avignon, Olivier Py, während der Pressekonferenz am 27. März 2015. (Picture alliance / EPA / Etienne Laurent)
    "Je suis l'autre", "Ich bin der Andere". Unter diesem Festival-Motto wollte Olivier Py ein halbes Jahr nach dem Anschlag auf das Satiremagazin Charlie Hebdo für Empathie und Offenheit werben und gegen den vom in der Region starken Front National favorisierten Rückzug aufs Eigene. Kein Abend konnte die Idee, dass der andere ein Spiegel des Selbst ist, schöner beglaubigen als ein Konzert, das Chansons der europäischen Jüdin Barbara mit solchen der orientalischen Christin Fairuz verband, interpretiert von der aus dem muslimischen Tunesien stammenden Dorsaf Hamdani.
    Theaterleute haben es schwerer beim quer über das Mittelmeer reichenden Kulturdialog. Vor allem wenn es zunächst nicht um das Heilen der Wunden geht, sondern um die Suche nach Gerechtigkeit im Verhältnis von ehemaligen Kriegsgegnern, von Kolonialherren und Kolonisierten. So hatte der algerische Journalist und Autor Kamel Daoud in seinem "Meursault – Contre Enquête" eine romaneske Entgegnung auf Camus berühmten "Fremden" verfasst. Dem bei Camus eben nur der "Araber" genannten Mordopfer verleiht Daouds Roman Namen und Geschichte, im Selbstgespräch des traumatisierten Bruders in einer Bar. Leider hat Philippe Berling dies in einem geradezu folkloristisch anmutenden, dörflichen Dekor inszeniert, die Mutter zu einem Jammerweib verkitscht und die über die individuelle Biografie hinausgehenden Betrachtungen getilgt. Wo Daoud sich vom literarischen Lehrmeister Camus emanzipiert und dem existentialistischen Meister auch literarisch quasi auf Augenhöhe begegnet, versinkt die Theaterversion in einer verstaubten Ästhetik und politisch-kultureller Wirkungslosigkeit.
    Olivier Py arbeitet mit einem ziemlich strapazierfähigen Süd-Begriff, wenn er von einem seiner diesjährigen Programmschwerpunkte spricht: Denn sein Süden umfasst neben dem Mittelmeer auch Südamerika, genauer Argentinien mit einigen Gastspielen
    Inmitten der argentinischen Pampa, so scheint es, ist Adas Caravan stehen geblieben. In der von Claudio Tolcachir geleiteten Kollektivinszenierung "Dinamo" denkt die ältere Dame an bessere Zeiten als Popsängerin zurück und ruft auf ihrem Notebook immerfort einen alten Konzertmitschnitt auf. Dann taucht plötzlich die aus einer psychiatrischen Klinik entlassene Nichte Marisa auf, und die geisterhafte Harima, die sich auf dem Dach eingerichtet hat und sich nur, wenn die anderen schlafen, an der Küchezeile zu schaffen macht. Drei Einsamkeiten, eine davon eine Flüchtlingsexistenz, stoßen hier in milde absurden Verrichtungen aufeinander. Wieder, wie so oft in diesem Festivaljahr, ist die Aufführung nach einer guten Stunde zu Ende, an einer Stelle, die in klassischen Dramaturgien den zweiten Akt einleiten würde. Das Dekor ist äußerst realistisch: Der Längsschnitt durch einen altmodischen Wohnwagen. In vergleichbarem Hyperrealismus und einer ähnlich provisorischen Behausung spielt "El Syndrome", das der argentinische Schauspieler und Regisseur Sergio Boris in Buenos Aires mit französischen Schauspielstudenten konzipiert hat. Elendsbehausungen, aus ein paar Brettern zusammengezimmert, beherbergen eine Gruppe von jungen Leuten mit einer unerklärlichen Krankheit in einer Huis Clos Situation, ein Tableau, ein Gruppenbild in ständiger Bewegung.
    Konventionalismus auf dem Vormarsch
    Eher überzeugend war Mariano Pensottis "Wenn ich zurückkomme bin ich ein anderer". Ein Spiel um die Veränderungen des Ich in verschiedenen Epochen der Geschichte, ausgehend von dem Fund alter, in einem Garten verbuddelter Dokumente aus der Zeit der Militärdiktatur. Zeit- und Lebensgeschichten in einer raschen Szenenkollage, im filmähnlichen Fluss gehalten von zwei Laufbändern, die Szenen, Bilder und Objekte aus den Bühnengassen ins Blickfeld bringen.
    Die von Olivier Py eigentlich angekündigte Abwendung von performativer Avantgarde zum literarischen Theater der Schauspieler hat das diesjährige Programm in der sengenden Hitze der Provence und begleitet vom Lärmen der Zikaden nicht überzeugend geleistet. Auch die angekündigten neuen Namen gingen in Avignon eher unter. So war auch die vom 29 Jahre jungen Benjamin Porée inszenierte "Trilogie des Wiedersehens" von Botho Strauss eine merkwürdig abgeklärte, nicht besonders präzis eingerichtete Szenenfolge ohne Seele und künstlerische Durchdringung. Ein neuer Konventionalismus ist hier am Werke, man kann auch sagen: Die jungen Braven sind auf dem Vormarsch. Und der Akademismus geht weiter: Fürs nächste Jahr ist die alt-ehrwürdige Comédie Française angekündigt, allerdings unter der Regie des modernen Formalisten Ivo van Hove.
    Die diesjährige Festivalrechnung nach oben abrunden konnte zum Schluss ein Gastspiel-Solo von Filmstar Fanny Ardant: Begleitet von kongenial dramatisierenden Orchesterklängen sprach sie die Übersetzung von Christa Wolfs "Kassandra". Da war es, das Literaturtheater, konzentriert gespielt, professionell eingerichtet, sauber gearbeitet.