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Theaterfestival in Avignon
Julien Gosselin inszeniert gewaltiges Epochenkunstwerk

Für den zehnstündigen Theatermarathon beim Festival in Avignon braucht man in diesem Jahr viel Sitzfleisch und Ausdauer. Der Regisseur Julien Gosselin thematisiert anhand von drei Romanen des US-Schriftstellers Don DeLillo das Aufkommen des Terrorismus. Gelungen ist ihm ein suchtbildendes Überwältigungstheater.

Von Eberhard Spreng | 09.07.2018
    Eine Szene aus Julien Gosselins "Mao II, Joueurs, Les Noms" beim Festival D'Avignon 2018
    Eine Szene aus Julien Gosselins "Mao II, Joueurs, Les Noms" beim Festival D'Avignon 2018 (Festival d'Avignon / Christophe Raynaud de Lage / Hans Lucas)
    In einer der Handlung vorangestellten Filmsequenz mit Dokumentarfilmaufnahmen aus dem New York vergangener Jahrzehnte ist immer wieder der Doppelturm des World Trade Centers zu sehen, eine historische Stadtmarke, die die Zeitenrechnung vor und nach dem 11. September 2001 kennzeichnet und als Symbol auf die wirklichkeitsverändernde Macht des Terrorismus verweist. In DeLillos Romans "Die Spieler" von 1977 ist Pammy im World Trade Center tätig, ihr Juppie-Freund Lyle arbeitet als Händler an der Börse. Beide sind wohlstandsbeschädigt, beziehungsmüde, blasiert und zynisch und vertreiben sich die Zeit mit Seitensprüngen und aufgedrehtem Geplauder mit Kollegen und Freunden.
    70er Jahre Design, wohin das Auge blickt
    Braune, groß gemusterte Teppiche, ein orangefarbenes Telefon mit Wählscheibe, ein Receiver im Retrodesign und andere Objekte verorten das Geschehen in den 70er-Jahren, bis Lyle an seinem Arbeitsplatz Zeuge eines Anschlags wird, dem sein Chef George Sedbauer zum Opfer fällt. All das sieht der Zuschauer im ersten Teil eines zehnstündigen Bildertheaters auf einer großen Leinwand, deren ungemein sauber gearbeitete Bilder an John Cassavetes, David Lynch oder Jim Jarmusch erinnern. Später öffnet sich die Vorderwand und diverse Innenräume werden sichtbar, für das mittlerweile bekannte Zusammenwirken von physischem Spiel und filmischer Dopplung.
    Eine Szene aus Julien Gosselins "Mao II, Joueurs, Les Noms" beim Festival D'Avignon 2018
    Eine Szene aus Julien Gosselins "Mao II, Joueurs, Les Noms" beim Festival D'Avignon 2018 (Festival d'Avignon / Christophe Raynaud de Lage / Hans Lucas)
    In Gosselins Gesamtkunstwerk aus Schrifteinblendungen, Film, Musik, Theater geht es anhand der drei Romane Don DeLillos aus den Jahren 1977 bis 1991 nur oberflächlich um das immer wieder auftauchende Motiv der Terrorismus, vom abendländischen Linksterrorismus in der Folge des Vietnamkriegs bis zu Anschlägen im Nahen Osten. Auch wenn die Terrorzelle, mit der der Börsianer Lyle aus Langeweile und infolge einer amourösen Verstrickung in Kontakt kommt, in der einzigen ironisch gebrochenen Szene der langen Aufführung mit Holzmaschinengewehren schwenkt, bevor auf der Vorderbühne die Zugabteilszene aus Jean-Luc Godards Revoluzzerfilm "La Chinoise", nunmehr theatral, nachgespielt wird.
    Überwältigungstheater in zehnstündiger Länge
    Naives Revolutionsgerede von der Klassenkultur, für solch schematisches Denken hat der 31-jährige Julien Gosselin nur Ironie parat. Alles andere allerdings wird bravourös gespielt und grandios ins Bild gesetzt: Die Frustration der Körper im uneinlösbaren Glücksversprechen der modernen Welt, die wachsende Gewalt in der von Geld beherrschten Zivilisation, die Not des alternden Schriftstellers mit der Macht und den Grenzen der Sprache, die vergeblichen Versuche, sich selbst zu entkommen, wie bei Börsenhändler Lyle, Versicherungsmathematiker Axton, oder wie die aus der modernen Zivilisation ausbrechenden Alter Egos von Don DeLillo alle heißen.
    Hier wird einmal nicht mit fadenscheiniger Ästhetik eine phrasenhafte Botschaft illustriert. Hier entfalten ganze Schichten künstlerischer Präzision ein szenisches Eigenleben, das für die schnelle politische Mitteilung nicht taugt. In Gosselins melancholischem Blick auf die Geschichte der 1970er bis 90er-Jahre gibt es immer wieder Inseln der Behutsamkeit, Momente tiefer Nachdenklichkeit nach theatererschütterndem Lärm. Es ist und will sein: Überwältigungstheater, ist suchtbildend, könnte immer weiter gehen bis zur Erschöpfung, da mit jeder neuen Figur eine weitere Farbe ins Spiel kommt, eine weitere Variante von menschlicher Überlebensstrategie. Am Berührendsten in diesem Triptychon ist der von schwarz-weiß Videobildern begleitete Mittelteil "Mao II", in dem sich der vom wunderbaren Frédéric Leidgens verkörperte Schriftsteller Bill Gray, die Frage stellt, ob die Literatur die Imagination der Welt am Ende des 20. Jahrhunderts nicht längst an die Terroristen abgegeben hat. Die überfallen jetzt das Bewusstsein und nicht mehr die Literaten. Und während Gray über sein Verschwinden nachdenkt, darf den menschenscheuen alten Mann eine Fotografin verewigen.
    Drei Romane werden zum Epochenkunstwerk
    Gosselin fahndet mit DeLillo nach der Stofflichkeit der Schriftzeichen, ihren geheimnisvollen Binnenbeziehungen, ihren verborgenen Verhältnissen mit Bildern und Ansichten. Aber der Bilderregisseur kann am Ende doch nicht umhin, nunmehr auf leerer, karger Bühne ohne jedes weitere Bildwerk zu enden: Mit Leidgens als DeLillo und seinem Versuch, eine nächtliche Erfahrung in Worte zu fassen. Julien Gosselin und seiner Truppe ist nach Bolaños "2666" erneut ein gewaltiges Epochenkunstwerk gelungen.