Freitag, 29. März 2024

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Theaterfestival "Under The Radar"
Rituale gegen das Vergessen

Europa als verfluchter, bluttriefender Kontinent - Theatermacherin Selina Thompson kritisiert in ihrem expressiven Stück "Salt" die Folgen des Kolonialismus. Thompson ist eine von Dutzenden jungen Performance-Künstlerinnen und -Künstlern, die das New Yorker Indie-Festvial "Under The Radar" zeigt.

Von Andreas Robertz | 14.01.2020
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Ddie Schauspielerin Rochelle Rose im Stück "Salt" von Selina Thompson ((c) Festival Under The Radar, New York 2020)
Die Frau im schneeweißen Kleid zerhackt mit einem großen Vorschlaghammer einen Block Salz auf der Bühne. Jeder im Publikum hat eine Sicherheitsbrille auf. Auch, wenn es unwahrscheinlich ist, dass Brocken bis in die zwanzigste Reihe des Theaters fliegen. Doch die Brillen gehören zum Ritual im Soloabend "Salt".
Der Salzblock steht für Millionen von Afrikanern, die zwischen dem 15ten und 18ten Jahrhundert ermordet und zu Tode gequält wurden oder ertrunken sind im Atlantik zwischen Afrika, der Karibik und Nordamerika. Europa und die USA sind auf Kosten dieser Menschen reich geworden: Sklaven aus Afrika, Rum und Zucker aus der Karibik, Baumwolle aus den USA.
Schweißgebadet schlägt die Frau auf der Bühne auf das Salz ein, als wäre jedes einzelne Salzkorn eine Seele, die sie aus dem Block befreien muss.
"One day a girl raised a hand and ask the teacher: Why black people are black, why white people are white, and why some black people are really black?"
Ein etabliertes Anti-Establishment-Festival
Die Aufführung ist bewegend und stark – weil Selina Thompson den "verfluchten, Blut triefenden Kontinent Europa", wie sie ihn nennt, schonungslos kritisiert. Drei Wochen lang reist sie auf einem italienischen Frachtschiff nach Afrika, erfährt dort Isolation, Depression und ungeschminkten Rassismus. Wut und Trauer werden zu einer unaufhaltbaren Kraft, die gegen das Vergessen kämpft, bis auch das letzte Korn sich im Meer der Erinnerung auflösen kann.
Marl Russell: "Es ist ein etabliertes Anti-Establishment-Festival. Viele Festivals in Europa hatten dasselbe Problem. Erst ist alles voller Aufbruch und Abenteuer und dann muss man sich alle fünf oder zehn Jahre neu erfinden. Das ist hart."
Das "Under The Radar"-Festival ist in seinem 16ten Jahr, und für Intendant Mark Russell ist es extrem wichtig, offen zu bleiben. Denn von Anfang an war es als innovative Plattform konzipiert, die neuen und weitgehend unbekannten Künstlern Raum geben sollte. Mittlerweile weltbekannte Truppen wie der Elevator Repair Service, 600 Highwaymen oder Taylor Mac konnte man hier zum ersten Mal sehen.
Rituale gegen das Vergessen und gegen die Gewalt
Russell: "Es passiert gerade unheimlich viel in Comedy und Jazz Clubs anstatt auf der Bühne."
Zum Beispiel das Stück "Susan" des kanadischen Comedian und Jazzmusikers Ahamefule J. Oluo.
"My name is Ahamefule J. Oluo, spelled exactly how it sounds."
Es beschreibt seine Reise über den Atlantik: Der Sohn einer weißen Mutter aus Kansas sucht seinen liberianischen Vater. Der hatte seine Familie nach der Geburt des Sohnes verlassen, in Richtung Liberia. Als der Sohn in Afrika ankommt, muss er erfahren, wie er wegen seiner hellen Hautfarbe als Weißer behandelt wird.
Eine wichtige Balance gefunden
Doch eigentlich ist "Susan" eine Hommage an seine Mutter. Mit sehr unterhaltsamen Geschichten, toller Musik der achtköpfigen Jazzband und einem überraschenden Ende: Die Mutter, Susan, tritt selbst auf und singt.
Russell: "Es wird interessant dieses Jahr mit all dem, was gerade in der Welt passiert: Australien brennt, die USA flippen aus und der Iran will uns eine Lektion erteilen. Und immer wieder Trump, der alle Aufmerksamkeit auf sich zieht. Viele haben Angst. Aber gerade jetzt muss man diesen marginalisierten Künstlern zuhören."
Das "Under The Radar"-Festival hat in diesem Jahr zwischen Unterhaltung und ernsten Themen eine wichtige Balance gefunden. Und viele Arbeiten sind, wie "Salt", Rituale gegen das Vergessen und gegen die Gewalt.