Donnerstag, 18. April 2024

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Theatermacher zur Bewegung "Aufstehen"
"Von links AfD-Wähler und Nichtwähler zurückholen"

Was könnte linke Politik heute? Dafür müsse man den Menschen "wieder zuhören", sagte Bernd Stegemann, Dramaturg und Mitinitiator von "Aufstehen", im Dlf. Denn das Potenzial an Wut, Ängsten und Ungeduld werde momentan nur von einer einzigen Partei instrumentalisiert. Das sei eine "falsche Entwicklung".

Bernd Stegemann im Gespräch mit Maja Ellmenreich | 04.09.2018
    Sahra Wagenknecht (2vr), Vorsitzende der Bundestagsfraktion der Partei Die Linke, Ludger Volmer (r, Bündnis 90/Die Grünen), Simone Lange (verdeckt, SPD), Oberbürgermeisterin der Stadt Flensburg, und Bernd Stegemann (3vr), Autor und Dramaturg, stellen in der Bundespressekonferenz offiziell die Bewegung «Aufstehen» vor.
    Sahra Wagenknecht sei "eine der intelligentesten, belesensten Politikerinnen in Deutschland", sagte Bernd Stegemann im Dlf. Im Bild: Bernd Stegemann, Sahra Wagenknecht und Ludger Volmer. (dpa/picture alliance/ Bernd von Jutrczenka)
    Maja Ellmenreich: Über 100.000 Anmeldungen sind eingegangen bei der linken Sammlungsbewegung "Aufstehen", die sich für den sozialen Frieden einsetzen und die eine linke Mehrheit in Deutschland schaffen will.
    Mehr als 100.000 Unterstützer haben sich gemeldet, seit die Initiative Anfang August offiziell an den Start gegangen ist. Heute nun endlich: Informationen und Absichtserklärungen, Hintergründe und Zustandsbeschreibungen - unter anderem von der Initiatorin, der Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht:
    "Deutschland verändert sich in eine Richtung, die viele Menschen nicht wollen. Die sozialen Spaltungen sind tiefer geworden, das Klima wird rauer. Es wird teilweise auch aggressiver, und der Zusammenhalt geht verloren. Was wir in Deutschland erleben, ist eine handfeste Krise der Demokratie."
    Und dieser Krise möchte "Aufstehen" offensichtlich die Stirn bieten - parteiübergreifend und außerparlamentarisch. Schon der zweite Redner in der Bundespressekonferenz heute Vormittag, das zweite Gesicht von "Aufstehen" war und ist das eines Kulturschaffenden: das Gesicht und die Stimme von Bernd Stegemann - er ist Professor für Dramaturgie an der Ernst-Busch-Hochschule in Berlin und selbst auch Dramaturg, und zwar am Berliner Ensemble, dem Haus von Bertolt Brecht also. Und mit Bernd Stegemann habe ich am frühen Nachmittag gesprochen.
    Die Süddeutsche Zeitung hat Sie als "graue Eminenz" dieser neuen Sammlungsbewegung bezeichnet; die Wochenzeitung "Die Zeit" nennt sie das "Mastermind" und einen Ratgeber mit größtem Einfluss. Nun kennen Sie sich als Dramaturg ja gut mit Rollen aus: Welche spielen Sie bei "Aufstehen"?
    Bernd Stegemann: Diese Bezeichnungen, die erschrecken einen natürlich, weil mit Sahra Wagenknecht haben wir es natürlich mit einer der mit Abstand intelligentesten, belesensten Politikerinnen zu tun, die wir in Deutschland haben. Und ich denke, wenn es einen Politiker in Deutschland gibt, der keinen Menschen braucht, der ihm sagt, was er sagen soll, dann ist es Sahra Wagenknecht. Insofern ist das für mich ein eher spannender Dialog, der sich seit fast einem dreiviertel Jahr zwischen uns beiden entsponnen hat, wo wir uns gegenseitig Lesetipps geben oder ich ihr Texte von mir schicke und sie sich dazu äußert und wir auf einer sehr auch durchaus abstrakten und theoretischen Ebene uns mit den Fragen beschäftigen, was linke Politik für uns heute bedeuten kann.
    Serverzusammenbruch wegen zu großer Aufmerksamkeit
    Ellmenreich: Also sind Sie eher so was wie ein Sparringspartner?
    Stegemann: Ja, das ist jetzt wieder ein anderer Begriff. Ich habe irgendwann spaßeshalber gesagt, ich bin der Dramaturg der Bewegung. Aber der Dramaturg am Theater macht ja im Prinzip genau das. Er spricht mit den Regisseuren, den Schauspielern und Schauspielerinnen, liefert Input, schlägt vor, wie was warum man machen könnte und so weiter. Das ist im Prinzip auch meine Rolle dort.
    Ellmenreich: Da bringen Sie mich gleich zur Theaterszene, einen Schritt weiter, denn die Anbahnung der heutigen Pressekonferenz, die war ja schon außergewöhnlich. Es gab einen Netzauftritt, es gab wenige Inhalte erstmal. Dann wurde man eigentlich wochenlang hingehalten, und trotzdem haben mehrere Zehntausende ihre Namen, ihre Unterstützung zugesagt. Was wollten Sie mit dieser Inszenierung bewirken? Spannung aufbauen, Aufmerksamkeit generieren wie vor einer Theaterpremiere?
    Stegemann: Absolut! Wir hatten natürlich ein bisschen das Problem, dass wir den Aufruf eigentlich schon im Frühjahr machen wollten. Nur dann verzögerte sich aus verschiedenen Gründen, die irgendwelche technische Ursachen hatten, der Zeitraum, und dann landeten wir irgendwann in der Fußball-Weltmeisterschaft. Dann dachten wir, nun gut, das ist jetzt keine gute Idee, zumal wir nicht wissen konnten, dass die für Deutschland nach wenigen Tagen wiederum vorbei ist. Dann haben wir gesagt, gut, dann machen wir es danach.
    Danach ist aber Sommerloch. Dann haben wir gesagt, nun gut, dann machen wir es im Sommerloch, aber genau in diesem Spannungsbogen. Wir fangen quasi sehr soft an, mehr emotionale, sehr persönliche Eindrücke, die dort vier Wochen lang zu sehen waren, die auch sehr einvernehmlich sind und sehr menschlich sind, um erst mal neugierig zu machen. Ich habe auch immer gesagt, dass wir eine Art Schaufenster sind, wo man sagt, in vier Wochen wird dann hier mal ein neuer Laden aufmachen, aber ihr könnt jetzt schon mal ein bisschen gucken, was vielleicht da im Angebot sein wird.
    Dass sich daraufhin so viele Menschen melden würden - wir haben heute alleine wieder einen Zuwachs um 10.000 Interessierte bekommen, während der Pressekonferenz, sind jetzt mittlerweile schon über 110.000 gewachsen - damit hatte keiner von uns gerechnet. Und das hat uns dann auch ein bisschen überrollt und teilweise auch technisch wirklich an die Grenzen gebracht. Heute Morgen ist zum Beispiel der Server zusammengebrochen aufgrund dieses unfassbaren Ansturms, dass allein 50.000 Menschen den Livestream auf unserer Facebook-Seite von der Pressekonferenz verfolgt haben. Das bringt dann selbst das Internet an seine Grenzen.
    "Eigentlich der common sense des linken politischen Spektrums"
    Ellmenreich: So viel zur Aufmerksamkeit. Kommen wir mal zu den Inhalten. Heute hat Ralph Stegner von der SPD "Tüddelkram" gesagt zu Ihrer Sammlungsbewegung, und Johannes Kahrs, auch von der SPD, der hat "Aufstehen" den "Egotrip einer einzelnen Politikerin genannt". Damit meinte er ganz sicher Sahra Wagenknecht. Das sind jetzt ja ziemlich verbal gewürzte Definitionen. Können Sie mal mit einigen und wahrscheinlich sachlicheren Worten umschreiben, was diese Sammlungsbewegung "Aufstehen" eigentlich sein soll?
    Stegemann: Ja, ich kann es versuchen. Das was mich natürlich jetzt immer irritiert in den letzten Wochen ist, dass mit einer dermaßen verbalen Keule auf etwas draufgeschlagen wird, von dem ja niemand genau wissen kann, welche Bewegung da jetzt eigentlich in Gang gesetzt wird. Wir haben ein Gründungsmanifest geschrieben, schon Anfang des Jahres. Das haben sehr viele Menschen überarbeitet und durchgelesen und wieder daran herumkorrigiert, so dass wir am Ende eine Art komprimierte Fassung haben. Das ist wie eine Art Diskussionsgrundlage der politischen Ziele, und die sind ja auch nicht nagelneu. Es sind eigentlich klassische alte sozialdemokratische, friedensbewegte Umweltschutzpositionen, die wir dort zusammengetragen haben, eigentlich der common sense eines linken politischen Spektrums.
    Das wird jetzt zur Grundlage genommen, um dann dieses neue Tool, was heute Morgen wie gesagt gleich zusammengebrochen ist, nämlich "Polis" im Internet dafür zu nutzen, dass unsere Follower oder unsere Mitglieder jetzt über einzelne, daraus entwickelte Themen kontrovers sich austauschen können. Sie können Argumente austauschen und sie können auch tatsächlich versuchen, in eine konstruktive Debatte zu kommen, so dass sie am Ende womöglich auf so etwas wie Lösungsvorschläge oder Kompromissvorschläge kommen. Das wäre erstmal der Teil, der bisher überhaupt bekannt ist.
    Ellmenreich: Wie wollen Sie denn mit "Aufstehen" politisch Einfluss nehmen, wenn Sie sich nicht in die konventionellen parlamentarischen Strukturen fügen wollen, wenn Sie sich nicht der parlamentarischen Instrumente bedienen wollen?
    Stegemann: Für mich ist das komischerweise gar nichts. Ich verstehe die Frage immer aus dieser parteitaktischen Sicht. Aber da ich ja keiner Partei angehöre, finde ich diese Frage immer ganz komisch, weil wir versuchen etwas ganz anderes. Wir versuchen, erst mal zu sagen, es gibt in diesem Land offensichtlich ein ganz großes Potenzial an Wut, an Frustration, an Ängsten, auch an Ungeduld. Dieses Potenzial wird momentan von einer einzigen Partei auf eine brutal unmenschliche Art und Weise instrumentalisiert. Das finde ich eine total falsche Entwicklung. Das heißt, wir versuchen, erst mal wieder zuzuhören, was die ganzen Menschen, aber auch nicht nur die wütenden, sondern auch vielleicht die zufriedenen oder die hoffnungsvollen erst mal zu sagen haben, was für Wünsche die haben und was sie sagen, was könnte denn in diesem Land einfach mal besser laufen oder was wäre für mich persönlich eine Verbesserung, die durch Politik herbeigeführt werden kann. Das ist der Urgedanke von "Aufstehen". Das ist eine Sammlungsbewegung im Sinne von: Wir sammeln erst mal, was gesagt wird.
    Der Versuch, die Nichtwähler zurückzuholen
    Ellmenreich: Sammeln Sie das, was ohnehin schon da ist, oder fordern Sie und fördern Sie eine Bewegung von unten? Da ist für mich ein kleiner Widerspruch in dieser Wort-Neuschöpfung Sammlungsbewegung.
    Stegemann: Na ja, sowohl als auch. Wir haben natürlich, die Initiatoren, ungefähr 80 Menschen haben quasi eine Art Vorarbeit geleistet, für die Webseite, für diese Art Gründungsaufruf und so weiter. Jetzt sind diese 110.000 Menschen inzwischen dazu aufgerufen, sich zu den Themen, für die sie sich interessieren, zu äußern. Das ist der Teil, der im Internet stattfindet.
    Dann gibt es natürlich einen zweiten Teil, der dann in der Realität stattfindet, so dass in den jeweiligen Orten, wo die Menschen dann sitzen, sie anfangen können, über Aktionen nachzudenken, dass sie sagen können, da ist jetzt ein bestimmtes Thema diskutiert worden auf diesem "Polis"-Tool, jetzt haben wir eine ganz bestimmte interessante Forderung daraus abgeleitet und damit gehen wir jetzt auf die Straße und sagen, das möchten wir bitte, dass das sich jetzt irgendwie ändern soll.
    Ellmenreich: Sie klingen ein bisschen, als wären Sie vom Erfolg überrannt worden, zumindest jetzt in diesen Tagen. Sie haben vorhin in der Pressekonferenz über das Thema Geld gesprochen. Sie sind ja keine Partei, sind auf Spenden angewiesen. Sie, Herr Stegemann, haben auch ganz deutlich gesagt, wir brauchen Geld, und ein bisschen gequält haben Sie hinzugefügt, es ist ja sonst die Frage, wie lange man so was überhaupt durchhalte. Wie lange soll man das durchhalten beziehungsweise was ist das Ziel, womöglich, dass "Aufstehen" sich eines Tages wieder erledigt hat?
    Stegemann: Na ja, gut. Das kann man nicht prognostizieren, weil die tatsächliche Energie wird ja von den vielen jetzt kommen, den vielen, die sich bei uns eingetragen haben, die sich auch schon über diverse Rückfrage-Mails über ihr Engagement bekundet haben, auch schon konkrete Vorschläge gemacht haben, was sie machen wollen, und so weiter. Das verbreitert sich ja über das ganze Land, wird dann überall kleine Wurzeln schlagen und kleine Pflänzchen hervorbringen, und das wird dann die Bewegung sein. Gleichzeitig gibt es natürlich die, die in Berlin momentan die ganze Arbeit machen. Das bin ja am wenigsten eigentlich ich, sondern das sind ja ganz viele andere Menschen, die dieses Internet programmieren und betreuen, administrieren und so weiter. Das ist ja einfach ganz handwerkliche Arbeit, die getan werden muss. Da müssen wir natürlich irgendwann einer ehrenamtlichen Seite auch mal Geld bezahlen und wollen wir irgendwann auch mal Geld bezahlen.
    Ellmenreich: Die Frage ist, wohin das führen soll. Anlauf für eine neue Partei - dann wäre es die Vortäuschung anderer Ziele. Oder ist das eine Generalprobe für ein rot-rot-grünes Bündnis auf Bundesebene womöglich? Oder vielleicht auch einfach nur der schlichte Versuch von links, den einen oder anderen AfD-Wähler zurückzuholen?
    Stegemann: Es ist vor allen Dingen von links der Versuch, nicht nur den AfD-Wähler, sondern auch einfach die Nichtwähler zurückzuholen. Wenn man sich alle Umfragen anguckt, ist das untere Drittel der Gesellschaft überproportional gering in seiner Wahlbeteiligung. Das heißt, da sind sehr viele Menschen, die haben quasi einfach aufgegeben, die sind frustriert, die sagen, ich kann wählen was ich will, es ändert sich für mich sowieso gar nichts. Das ist ein Drittel, wenn nicht sogar 40 Prozent unserer Bevölkerung. Das kann man ja nicht einfach so hinnehmen und sagen, na prima, dann wählen die nicht, wir wohlsituierten, hochprivilegierten Menschen wählen das dann unter uns aus und machen eine Politik, die nur für uns gut ist. Das, finde ich, ist eine extrem unsoziale und vor allen Dingen eine hochgefährliche Angelegenheit, weil jetzt plötzlich die AfD genau diese Leute adressiert und sagt: Aha, Du bist unzufrieden. Ich sage Dir mal, wer Schuld hat, das ist der Flüchtling. Bums, hat man wieder einen AfD-Wähler mehr.
    Ellmenreich: Also lesen Sie den Namen Ihrer Sammlungsbewegung "Aufstehen" mit einem deutlichen Ausrufezeichen, als Imperativ an die, die zurzeit nicht wählen gehen?
    Stegemann: Na ja, an die, die so wie ich wählen gehen und sich politisch engagieren wollen, aber eben nicht nur für meine eigenen Interessen, sondern tatsächlich für die Interessen derjenigen, die momentan in der Gefahr stehen, dass sie sich so abgehängt fühlen, dass sie aus Not oder aus Verzweiflung oder auch aus Dummheit einfach sehr gefährlichen Tendenzen ihren Zuspruch geben.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.