Theaterprojekt zum NSU-Komplex

Die überhörten Stimmen

Oratorium Manifest(o) in der Jenaer Philharmonie
Oratorium Manifest(o) in der Jenaer Philharmonie © Candy Welz
Von Manuel Waltz · 05.11.2021
Erst waren da die Morde, dann Verdächtigungen durch Polizei und Medien, dann Versäumnisse bei der Aufklärung. Schließlich der NSU-Prozess, die Enttäuschung der Geschädigten und die Frage: Warum hört keiner zu? Die Initiative „Kein Schlussstrich!“ will es nun besser machen.
Den Opfern eine Stimme geben, das ist der Anspruch des bundesweiten Theaterprojekts "Kein Schlussstrich!". Mit künstlerischen Mitteln soll in ganz Deutschland an die Taten des rechtsextremen Terrornetzwerks NSU gedacht werden, aber nicht, wie oft geschehen, durch eine Beschäftigung mit den Tätern, sondern aus der Perspektive der Betroffenen. Zentrum des Projekts ist Jena, die Geburtsstadt des Terror-Trios Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe.
Zusammen mit seinem Sohn, den er im Kinderwagen vor sich herschiebt, nimmt Jonas Zipf an einem Stadtrundgang im Rahmen von "Kein Schlussstrich" teil. Zipf ist der Leiter des Kulturamts Jena und einer der Initiatoren von "Kein Schlussstrich!". Der Rundgang soll die Stadt aus der Sicht derer zeigen, die von rechter Gewalt und Diskriminierung betroffen waren und es immer noch sind. Eine Gruppe von etwa 15 Menschen durchquert die Jenaer Fußgängerzone und kommt dabei an einem großen Plakat vorbei. Es steht quer auf der Einkaufsstraße und zeigt etwa 20 sogenannte Vertragsarbeiter aus Mosambik, die in den 1970er-Jahren in die DDR zum Arbeiten kamen. Bis zu 80 Prozent ihres Lohns wurde von den Betrieben einbehalten, informiert das Plakat. Bis heute kämpfen sie vergeblich um eine Wiedergutmachung. Auch diese Stellwand ist Teil des Theaterprojekts, erklärt Jonas Zipf: "Beim NSU reden wir über Opfer der Gastarbeiter- und Gastarbeiterinnen-Generationen im Westen. Natürlich gibt es die analoge Geschichte im Osten auch. Die ist nur vollkommen unbekannt. Selbst den Menschen hier im Osten. Verdrängt, vergessen, vergessen gemacht."
Theaterprojekt "Kein Schlussstrich!" - Stadtrundgang, Menschen sitzen auf zwei Parkbänken. Im Fordergrund ein junger Mann mit Kopghörer und Mikrophon, einen Zettel in der Hand haltend.
Theaterprojekt „Kein Schlussstrich!“ - Stadtrundgang © Deutschlandradio / Manuel Waltz
Produktives Ringen um den Umgang mit Geschichte
Rund 70 Veranstaltungen finden hier in Jena im Rahmen von "Kein Schlussstrich!" statt. Es gibt Konzerte, den Stadtrundgang, Seminare, Filme, Ausstellungen und Interventionen im öffentlichen Raum, wie die Plakate in der Innenstadt. Jonas Zipf verschweigt aber auch nicht, dass es Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Interessensgruppen darüber gab und gibt, wie der richtige Umgang mit der Stadtgeschichte aussehen soll: "Die erste Batterie waren quasi Bilder, auf denen man die Vertragsarbeiter*innen in ihren ärmlichen Verhältnissen in Mosambik gesehen hat, bevor sie hierhergereist sind. Und das hat die PoC-Community hier in Jena dazu gebracht, uns zu spiegeln: Hey, damit reproduziert ihr rassistische Stereotype. Und das wurde diskutiert in den sozialen Medien." Schließlich wurden die Bilder gegen Bilder der Vertragsarbeiter und ihrer Lebensumstände in der DDR ausgetauscht.
Lothar König hingegen ist unversöhnlich. Bis zu seiner Pensionierung leitete er die evangelische Junge Gemeinde in Jena, die sich seit Jahrzehnten im Kampf gegen rechts engagiert. Er erzählt, dass frühere Versuche der Gemeinde, die Nazi-Strukturen und die Gewalt in Jena aufzuarbeiten, von der Stadtverwaltung nicht unterstützt wurden: "Ich traue diesen Leuten nicht, vom OB angefangen. Ich traue denen nicht, dass sie wirklich wollen, weil die Bürger selber nicht wollen. Da muss man noch tiefer ansetzen. Was geht denn hier ab? Und warum und wieso? Wo kommt das her, diese Fremdenfeindlichkeit und so weiter und diese Angst?"
Den Opfern einen Namen geben
Ein Höhepunkt der Veranstaltungsreihe in Jena ist das Oratorium "Gleißendes Licht" von Marc Sinan, das in der Philharmonie geprobt wird. Unterstützt durch ein Orchester und einen Chor, die live vor Ort sind, wird ein Kinderchor aus Buchenwald, ein Pianist aus Berlin und eine Frau aus Tel Aviv auf Leinwänden zugeschaltet. Das Stück behandelt vordergründig die Geschichte der Shoah in Deutschland. Der Komponist Marc Sinan hat es aber auch in Zusammenhang mit dem NSU und seinen vorwiegend muslimischen Opfern gesetzt, um zu betonen, dass alle Opfer von rechter Gewalt sind – im Dritten Reich genauso wie in der Bundesrepublik Deutschland: "Am Schluss sagt die Sprecherin: ‚Sagt meinen Namen, und ich habe wieder einen Namen, sagt meinen Namen, und ich habe wieder einen Namen, sagt meinen Namen, und ich habe wieder einen Namen‘, weil das genau die große Schwierigkeit ist, dass die Opfer eben nicht als Menschen erkannt werden und oftmals namenlos bleiben. Dagegen wollen wir uns stellen."
Die Toten waren ein Teil von uns allen
Die Kunstvermittlerin Ayşe Güleç ist Teil des Kuratoriums von "Kein Schlussstrich!" und kritisiert, dass Menschen mit Migrationsgeschichte nach wie vor oft nicht als Teil der deutschen Gesellschaft anerkannt sind. Indem den Opfern des NSU und ihren Angehörigen nicht zugehört wurde, indem sie sogar verdächtigt wurden, selbst etwas mit den Morden und den Anschlägen zu tun gehabt zu haben, wurde ihnen nach den Anschlägen erneut Gewalt angetan, betont sie. Danach gefragt, was von dem Projekt bleiben wird, sagt sie, ihr sei es wichtig, dass "wir begreifen, dass das, was passiert ist, die Menschen, die uns genommen worden sind, ein Teil von uns waren".
Gefördert durch Neustart Kultur.
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