Donnerstag, 25. April 2024

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Theaterstück "Schande"
Die Schande des alternden Salonchauvinisten

Der Regisseur Luc Perceval inszeniert den Roman "Schande" des südafrikanischen Literaturnobelpreisträgers J. M. Coetzee für die Münchner Kammerspiele. Ein weißer Literaturprofessor stolpert dabei über die Affäre mit einer Studentin - und seine Tochter wird vergewaltigt.

Von Sven Ricklefs | 21.12.2013
    Was für ein Bild: Sie sind viele und sie füllen den ganzen Bühnenraum der Münchner Kammerspiele, Männer Frauen Kinder, starr stehen sie, stumm, bewegungslos. Schwarz sind sie alle und bunt gekleidet, diese Schaufensterpuppen, Denkmäler ihrer selbst, Mahnung und Bedrohung in einem. Sie sind das Volk und die Mehrheit, sie waren es während der Apartheid und sie sind es nun, danach. Die Bühnenbildnerin Katrin Brack hat wieder einmal einen ihrer genial einfachen Räume erfunden und wie so oft in ihrer Zusammenarbeit, weiß ihn der Regisseur Luc Perceval kongenial zu nutzen. Vor dem Hintergrund dieser schwarzen Masse erzählt er John M. Coetzees Geschichte des weißen Literaturprofessors David Lurie, der wegen einer Affäre mit einer Studentin und wegen seiner Unfähigkeit, darüber offiziell Reue zu zeigen, seinen Universitätsposten verliert.
    - "Du bist sehr schön, verbringe die Nacht mit mir."
    - "Warum sollte ich?"
    - "Weil die Schönheit einer Frau nicht ihr allein gehört, sie hat die Pflicht sie zu teilen."
    Die Schande des alternden durchaus zur Selbstreflektion fähigen Salonchauvinisten wird konterkariert durch die Schändung seiner lesbischen Tochter, auf deren kleine Farm er sich zurückgezogen hat, als sie eines Tages von drei Schwarzen überfallen werden. Während Lury schwere Verbrennungen zugefügt werden, wird seine Tochter Lucy vergewaltigt – und wie sich später herausstellt – geschwängert.
    "Ich versuche, gegen die Tür zu treten. Lucy, sag was."
    Nur dieses quietschende Geräusch erzählt von der Ungeheuerlichkeit, die der jungen Frau widerfährt. Ein wenig bewegt sich der alte Pickup im Hintergrund der Bühne, auf dem ebenfalls schwarze Puppen sitzen und stehen. Lucy aber, Lucy wird sich in ihr Schicksal fügen, sie wird das Kind annehmen, das die Frucht ist von Gewalt, mehr noch, sie wird sich in den Schutz des neuen schwarzen Patriarchen begeben, der einst ihr Handlanger war und nun ihr Nachbar ist. Diese extreme Demut wird für ihren Vater unverständlich bleiben.
    Die großartige Qualität von John M. Coetzees Roman "Schande" liegt in der literarischen Geradlinigkeit, mit der es der Autor verstanden hat, eine einfache Geschichte zu erzählen, die zugleich auf vielfache Weise als hochkomplexe Parabel gelesen werden kann. Eine Parabel über die durch das System der Apartheid geschändete Gesellschaft Südafrikas. Schuld und Sühne, Vergeltung und Demut, Täter und Opfer unter umgekehrten Vorzeichen, das sind die Themen. Und der männliche Chauvinismus, in dem der Kolonialismus fortexistiert.
    Für seine Bühnenfassung hat Luk Perceval Teile des Romans in die Ich-Perspektive übertragen, erzählte Passagen wechseln sich mit gespielten ab oder überblenden sich. Und immer steht David Lurie im Mittelpunkt, diese vielfach gespaltene Figur, die durchaus schonungslos von der erotischen Panik eines alternden Mannes erzählt, von der hilflosen Liebe zu seiner Tochter und manchmal, versteckt nur, auch von der Unfähigkeit, mit den neuen Verhältnissen umzugehen beziehungsweise sie zu akzeptieren.
    Und so ist diese eindringliche Theatralisierung von Coetzees Roman "Schande" ein Abend des Stephan Bissmeier. Es ist, als habe sich Regisseur Luk Perceval, dessen herausfordernde Inszenierungen durchaus auch einmal aggressiv daherkommen können, diesmal ganz auf diesen leisen und stillen Schauspieler eingelassen und seinen tastenden und zögernden Duktus zum Rhythmus des Abends gemacht. Während sich Bissmeiers Mitspieler für ihre Auftritte aus der dunklen Masse der Schaufensterpuppen herausschälen, bleibt dieser vorne immer bestimmend und hält mit seiner schmalschultrigen Präsenz die Konzentration ganz auf sich.
    Die Kraft eines Bildes, die Präsenz eines Schauspielers und das Verstörungspotenzial eines Romans: Luk Perceval hat daraus großes Theater gemacht.