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Themenreihe Mittelpunkt Mensch
Kindheit mit kranken Eltern

Drei bis vier Millionen Mädchen und Jungen leben in Deutschland bei psychisch kranken Eltern. Nicole ist eine von ihnen. Sie hat versucht, die Aufgaben ihrer Mutter zu übernehmen: den jüngeren Bruder, den Haushalt, bürokratische Angelegenheiten. Sich kümmern, so gut es eben ging. Dafür opferte sie ihre Kindheit.

Von Judith Grümmer | 03.02.2017
    Eine Frau sitzt am 09.05.2016 in Rüsselsheim (Hessen) in einem Raum des Caritas-Zentrums bei Diplom-Pädagogin Jessica Ranitzsch (l). Unter einem Dach bietet der Wohlfahrtsverband hier nahezu die gesamte Beratungspallette an, wenn Menschen in familiäre, psychische oder finanzielle Schieflage geraten sind. Die Flüchtlingshilfe nimmt mittlerweile auch einen sehr großen Raum ein. Foto: Frank Rumpenhorst/dpa | Verwendung weltweit
    Nicole will lieber anonym bleiben. Rückblickend sagt sie über ihre Kindheit: "Es wäre schön gewesen, wenn ich selbst auch mal im Mittelpunkt gestanden hätte und nicht immer nur die Krankheit meiner Mutter" (Deutschlandradio / Frank Rumpenhorst)
    Mein Name ist Nicole*, ich bin 35 Jahre alt und ich arbeite an einer deutschen Universität. Und gleichzeitig bin ich Karriereberaterin zum Thema Netzwerken, Selbstpräsentation und Zeitmanagement.
    Ich bin in einer Familie groß geworden, in der ich viel Krankheit erlebt habe. Ich habe einer Mutter, die psychisch krank ist und einen Vater, der körperlich krank war. Ich musste seit meinem elften Lebensjahr und während meiner gesamten Jugend sehr viel Verantwortung schon übernehmen.
    Es war so, dass meine Mutter gerade in den akuten Phasen wenn sie krank war und in der Klinik war, aber auch wenn sie nach Hause kam nur wenige Aufgaben, manchmal auch gar nichts im Haushalt übernehmen konnte.
    Eine Elfjährige und ihr zweieinhalb Jahre alter Bruder haben in dem Moment keine Mutter zur Verfügung. Aber irgendwie muss ja der Alltag, der Haushalt - all das, was da passieren muss, die Schule weitergehen, und ich musste halt Verantwortung Zuhause übernehmen: Wäsche waschen, Abwasch, Einkaufe, Müll rausbringen - dass das alles eben funktioniert hat. Ich wurde dort im Grunde genommen meiner Jugend beraubt.
    Krankheit in der Familie verheimlicht
    Ich hab mich um meinen Bruder gekümmert, hab darauf geachtet, dass er Hausaufgaben gemacht hat, dass ich morgens für ihn noch ne Hose gebügelt hab bevor er zur Schule gegangen ist. Ich hab relativ früh gelernt, wie man mit Geld umgeht und so wirtschaftet, dass es für den ganzen Monat reicht und war dadurch natürlich irgendwo auch Ansprechpartnerin und Vertraute meines Vaters.
    Also dass meine Mutter diese Erkrankung hat, das wurde innerhalb der Familie geheim gehalten. Das hat natürlich oft dazu geführt, da mir das auch peinlich war, dass ich mich nicht Zuhause mit Freunden getroffen hab. Ich war ziemlich verunsichert, verängstigt, weil ich nicht wusste was ich von dem, was Zuhause passiert, preisgeben darf, preisgeben kann.
    Gymnasialempfehlung als Notausgang
    Es ist eigentlich eins der Schlüsselerlebnisse meines Lebens gewesen, dass mir schon in der fünften und sechsten Klasse, in der Orientierungsstufe, als es darum ging: Welche Schulempfehlung bekomme ich? Da war mir persönlich schon ganz früh klar: Okay, ich muss - koste es was es wolle - die Gymnasialempfehlung bekommen.
    Weil ich einfach wusste, wenn ich das nicht schaffe, dann geht ne Tür zu, die ich nie wieder aufbekommen werde. Und dann schaffe ich es auch nicht, da rauszukommen. Für mich war immer klar: Nur Bildung führt mich in ein Leben, das ich gestalten kann.
    Krankheit der Mutter stand stets im Mittelpunkt
    Wenn ich darüber nachdenke, wie mich das geprägt hat, dann kann ich einfach sagen, dass ich mir nie richtig die Frage gestellt habe, wer ich eigentlich selbst bin. Ich habe mich immer viel mehr damit beschäftigt, dass alles organisiert ist, dass ich alles unter Kontrolle habe, dass alles funktioniert. Ja, und es wäre eben schön gewesen, wenn ich selbst auch mal im Mittelpunkt gestanden hätte und nicht immer nur die Krankheit meiner Mutter.
    Ich bin dann als Erwachsene selbst krank geworden. Ich hab Depressionen bekommen und hab dann eine Therapie gemacht. Ich war selbst in einer Klinik und hab damit das erlebt, was meine Mutter damals erlebt hat. Und in der Zeit bin ich zum Glauben gekommen. Hier in der Gemeinde kann ich einfach so sein, wie ich bin. Hier geht es nicht darum, dass ich etwas leiste. Sondern hier weiß ich einfach, dass ich geliebt, dass ich gewollt bin so wie ich bin. Und ich mich hier einfach sicher fühle, geborgen fühle, wo ich Teil der Gemeinschaft sein kann.
    Niemand stellte Fragen
    Heutzutage weiß ich aus meiner eigenen Erfahrung, dass es einfach schön für mich und meinen Bruder gewesen wäre, wenn wir ein Unterstützungsangebot gehabt hätten. Wenn ein Elternteil doch so schwer erkrankt ist und auch noch Analphabetin ist, dann muss ich doch eigentlich als Arzt oder als Ärztin nachfragen oder mir überlegen: Was bedeutet das eigentlich für die Kinder? Und das hat man nicht gemacht.
    *Anmerkung der Redaktion: Name von der Redaktion geändert. Die porträtierte Person möchte anonym bleiben.