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Theologie und Corona
Die Pest und die Rachegöttinnen

Immer wieder gibt es theologische Stimmen, die Corona als "Geißel Gottes" bezeichnen oder als gerechte Strafe für eine sündige Menschheit. Darin scheint eine alte theologische Frage auf: die Frage nach dem Leiden. Doch diese sollte jenseits von religiöser Scharfmacherei ausgelotet werden.

Von Henning Klingen | 06.04.2020
Eine Schnabelmaske.
Im Mittelalter wurde die Pest oft auch als eine Geißel Gottes für die Menschheit betrachtet (picture alliance /Jens Wolf)
"Am Morgen des 16. April trat der Arzt Bernard Rieux aus seiner Wohnung und stolperte mitten auf dem Flur über eine tote Ratte." – Dieser Satz ist nicht etwa einer Reportage über die Corona-Situation in Frankreich entnommen. Er stammt vielmehr aus der Anfangspassage eines der berühmtesten Bücher des französischen Schriftstellers und Philosophen Albert Camus: "Die Pest". Beschrieben wird darin der Ausbruch der Pest in der algerischen Stadt Oran. Für den Wiener Theologen Jan-Heiner Tück auch heute noch eine nicht nur literarisch, sondern auch zeitdiagnostisch und letztlich theologisch lohnende Lektüre:
"Die Literatur ist ein Seismogramm von Krisen. Albert Camus hat in der Pest die Situation vorbildlich paradigmatisch beschrieben: Erst sterben die Ratten, dann sterben die Menschen. Einerseits steigt der Egoismus, andererseits steigt auch die Solidarität."
Camus lässt in seinem Roman die Theologie aufmarschieren in Gestalt des gelehrten, gleichwohl militant auftretenden Jesuiten Paneloux. Die Pest, die Pandemie, wird von ihm in einer seiner Predigten als Geißel, als Strafe Gottes ausgemacht - und zwar ohne Umschweife:
"Meine Brüder, ihr seid im Unglück, meine Brüder, ihr habt es verdient. Das erste Mal erscheint diese Geißel in der Geschichte, um die Feinde Gottes zu strafen. Pharao widersetzt sich den Absichten des Ewigen, und die Pest zwingt ihn in die Knie. Seit allem Anfang der Geschichte wirft die Geißel Gottes die Hochmütigen und die Verblendeten zu seinen Füßen nieder. Bedenket das und fallt auf die Knie."
Wenn Tück diese Passage und vor allem die anschließenden Auseinandersetzungen zwischen Pater Paneloux und dem eingangs genannten agnostischen Arzt Dr. Rieux zitiert, dann nicht aus literarischer Leidenschaft. Tück geht es vielmehr darum, auf das Muster einer auch heute vereinzelt aufscheinenden Geißel-Gottes-Theologie hinzuweisen.
Seuchen nicht als Strafe Gottes beschreiben
Als Dogmatiker sagt er: Natürliche Übel, also Pandemien, Seuchen, Naturkatastrophen, dürften nicht als Strafe Gottes für eine moralisch gefallene Gesellschaft herhalten. Denn eine solche Theologie übersehe, dass auch Unschuldige – Kinder, Greise – von der Katastrophe getroffen werden; und sie maße sich eine Perspektive an, die nur Gott zukommt:
"Theologie hält die Einsicht bereit, dass es zwischen Gott und den Menschen eine Differenz gibt. Und überall dort, wo menschliche Akteure gewissermaßen mit dem Auge Gottes die Situation beurteilen wollen, hat Theologie Einspruch zu erheben. Das heißt, hier ist ein ideologiekritisches Potenzial der Theologie gefragt. Und das ist auch in der Gegenwart wichtig, weil es ja sowohl im erzkonservativen Spektrum als auch aufseiten sogenannter liberaler progressiver Theologien Akteure gibt, die sich die Deutungshoheit anmaßen, die Epidemie jetzt entweder als Geißel Gottes oder – wenn man Leonardo Boff zitieren darf – als "Vergeltungsmaßnahmen der Mutter Erde" zu bezeichnen. Das ist klar abzulehnen. Hier werden Deutungskompetenzen in Anspruch genommen, die theologisch illegitim sind."
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Camus hat in der "Pest" genau diese Argumentation durchgespielt und sich klar auf die Seite des agnostischen Arztes Dr. Rieux geschlagen, der in praktischer Solidarität verbunden bleibt mit den Leidenden. Und auch Tück kann – im übertragenen Sinne – dem Ansatz der christlichen Kirchen heute vieles abgewinnen, nämlich den Blick auf die Leidenden und potenziellen Opfer der Corona-Krise zu lenken:
"Der kirchliche Umgang mit der Krise unterscheidet sich signifikant von Deutungen im Mittelalter. Die schwarze Pest in der Mitte des 14. Jahrhunderts hat man ja als Strafe Gottes für eine sündige Menschheit gedeutet. Man hat Gottesdienste, Prozessionen und so weiter veranstaltet, um die Krise einzudämmen. Neben diesen Formen einer Selbstbeschuldigung gab es aber eben auch höchst ambivalente Fremdbezichtigungen, die vor allem für die Juden ruinös waren: Man hat die Juden verdächtigt, die Brunnen vergiftet zu haben und hat Pogrome veranstaltet, die selbst durch die Päpste nicht zu bremsen waren. Hier sieht man, dass allzu steile Deutungsansprüche sozial höchst ambivalente Folgen haben können, und deswegen ist es geboten, äußerst zurückhaltend zu sein mit solchen Ansprüchen."
Lieber schnellen Antworten verschließen
Anders gesagt: Die Theologie sollte zurückhaltend sein bei der Deutung der aktuellen Krisensituation. Auch wenn es reizvoll erscheinen mag, einem theologisch ausgezehrten Publikum rasch und elegant ein paar Erklärbrocken hinzuwerfen, sollte die Theologie die Corona-Krise auch als Chance betrachten, genau die Denkangebote neu vor Augen zu führen, die sich schnellen Antworten verschließen. Zum Beispiel die Tradition der Anklage Gottes, des Nicht-Einverstanden-Seins mit der Schöpfung.
Auch dieser Gedanke findet sich bereits in Camus‘ "Pest" – und wieder ist es ausgerechnet der Agnostiker, Dr. Rieux, der damit den Jesuiten-Pater belehrt. Nach dem Tod eines Kindes, der beide – Rieux wie Paneloux – zutiefst erschüttert hat, kommt es zu diesem Dialog:
Rieux wandte sich Paneloux zu. "Es gibt Zeiten in dieser Stadt, da ich nur mehr meine Empörung spüre." "Ich verstehe", murmelte Paneloux. "Es ist empörend, weil es unser Maß übersteigt. Aber vielleicht sollen wir lieben, was wir nicht begreifen können." Rieux richtete sich mit einem Schlag auf. Mit der ganzen Kraft und Leidenschaft, deren er fähig war, schaute er Paneloux an und schüttelte den Kopf. "Nein, Pater", sagte er. "Ich habe eine andere Vorstellung von der Liebe. Und ich werde mich bis in den Tod hinein weigern, die Schöpfung zu lieben, in der Kinder gemartert werden."

"Ich bin im Blick auf das Projekt einer Corona-Theologie offen gesagt eher skeptisch. Ich finde, die Lektion, die Theologie und Kirche hier zu lernen haben, ist, dass die Krise zunächst a) humanwissenschaftliche Kompetenz auf den Plan ruft; b) praktische Maßnahmen zur Linderung. Und dass Kirche und Theologie hier mit dazu beitragen, dass die Überwindung der Krise gelingt. Insofern hat sie natürlich auch Angebote zu machen, die der Gottesglaube bietet. Und das sind im Wesentlichen Angebote, mit der Endlichkeit und Sterblichkeit, der Verletzlichkeit des Lebens umgehen zu lernen, sie anzunehmen. Und alle Versuche jetzt aus der Krise theologisch Profit zu schlagen oder religionsfunktionalistische Erwartungen zu befriedigen, die auch von der Gesellschaft natürlich an uns herangetragen werden, halte ich für falsch."
Eine "theodizee-sensible" Theologie, also eine Art von Gott zu reden, die der Realität des Leidens in der Welt nicht ausweicht, dürfe daher laut Tück nichts beschönigen: Sie sollte weder die totale Gottesfinsternis ausrufen und das Leiden als Strafe Gottes deuten, noch sollte sie alles im gleißenden Licht der Auferstehung deuten und so das Leiden aufheben.
Würde der Leidenden ernst nehmen
Vielmehr gehe es darum, die Würde der Leidenden ernst zu nehmen. Daher plädiert Tück mit dem jüngst verstorbenen Theologen Johann Baptist Metz auch für eine Art "Karsamstags-Theologie", also eine Theologie, die zwischen dem Tiefpunkt des Karfreitags und dem Jubel des Ostersonntags verharrt:
"Das öffentliche Leben ist heruntergefahren, die Gottesdienste sind ausgesetzt. Das ist Anlass, die Karsamstags-Dimension neu zu entdecken. Der Literaturwissenschaftler George Steiner hat einmal bemerkt, dass wir in einer Zeit des Todes Gottes leben. Karfreitag liege hinter uns, Ostern vor uns. Ungewiss sei, ob der lange Samstag des Bangens und Wartens je ein Ende finden werde. Ich denke, bevor wir im Osterjubel allzu schnell die Nachtseiten der Wirklichkeit vergessen, gilt es in diesen Tagen, das Verstummen des Wortes Gottes mit zu vollziehen, in der Hoffnung, dass dieses Verstummen nicht das letzte Wort hat."