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Theologiegeschichte
"Erasmus war der angemessenere Weg, nicht Luther"

Hat der Mensch einen freien Willen? Ja, sagt Erasmus von Rotterdam. Nein, sagt Martin Luther. Die beiden großen Denker waren Zeitgenossen, aber fast nie einer Meinung. "Luther war ein Mann des Krieges", sagte der Philosoph Wolfgang Christian Schneider im Deutschlandfunk. Heutige Lutheraner glaubten vor allem das, was Erasmus vertreten habe.

Wolfgang Christian Schneider im Gespräch mit Andreas Main | 12.06.2017
    Links: Der Reformator Martin Luther in einer Darstellung von Lukas Cranach d.Ae. (Ölgemälde auf Holz von 1528). / Rechts: Das Gemälde von Hans Holbein d. J. zeigt den niederländischen Humanisten Erasmus von Rotterdam (1466-1536).
    Links: Martin Luther / Rechts: Erasmus von Rotterdam (links: dpa - Fotoreport / rechts: dpa Bilderdienste)
    Andreas Main: Luther contra Erasmus oder Erasmus contra Luther. Das ist eine der Sternstunden der Theologiegeschichte. Martin Luther und Erasmus von Rotterdam – zunächst waren sich die beiden nahe, dann gerieten sie aneinander, inhaltlich. Der Hauptstreitpunkt: Hat der Mensch einen freien Willen? Diese Debatte, die damals vor 500 Jahren geführt wurde, ist bis heute virulent und unbeantwortet. Und deshalb hat der Konflikt des Reformators mit dem Humanisten durchaus etwas mit uns zu tun. Wir wollen diesen Konflikt nachzeichnen und einordnen. Nicht mit einem Theologen, sondern mit einem Philosophen, und zwar mit Schneider. Er ist Professor für Philosophie in Hildesheim und in Bernkastel-Kues. Schön, dass Sie hier im Studio sind. Guten Tag.
    Wolfgang Christian Schneider: Guten Tag.
    Main: Wir wollen transparent sein und deutlich machen, wo Sie stehen, Herr Professor Schneider. Sie haben mir gegenüber mal von "grassierender Lutheritis" gesprochen – Sie werden eine Lanze für Erasmus brechen. Was stört Sie an Luther?
    Schneider: Am allermeisten das Friedlose, das Unfriedliche. Er ist ein Mann des Krieges. Und das sagt er ausdrücklich. Und das merkt man schon in seiner Schrift De servo arbitrio. Wo er Erasmus ...
    Main: Über den unfreien Willen.
    Schneider: Über den unfreien Willen. Wo er Erasmus zunächst einmal scheinbar freundlich anspricht und dann sofort schimpft und sagt: 'Erasmus weiß nichts und kann nichts und geht an der Sache vorbei'. Erasmus dagegen hat immer – das ist der Kern seiner Botschaft De libero arbitrio, Über das freie Urteil – gesagt, es geht ihm darum, dass die Menschen friedlich miteinander umgehen, weil wir ja nicht wissen, was wir sagen können. Wir sind vom Göttlichen eigentlich Unwissende. Und das hat er in den Mittelpunkt gestellt und hat deswegen gesagt: 'Wenn wir so weitermachen, wenn wir uns immer streiten, kommt es zum Kriege'. Und leider hat er Recht gehabt.
    Wolfgang Christian Schneider, Philosophieprofessor in Hildesheim und Bernkastel-Kues
    Wolfgang Christian Schneider, Philosophieprofessor in Hildesheim und Bernkastel-Kues (Deutschlandradio / Christian Röther)
    Main: Sie sind Philosoph und Sie sind katholisch. Wenn wir jetzt über Erasmus contra Luther sprechen, sprechen Sie als Katholik oder als katholischer Philosoph oder als Philosoph?
    Schneider: Nein, ich spreche als Individuum. Als Philosoph. Mit dem Glauben und der Konfessionszugehörigkeit ist das ja so eine Sache. Also, ich habe im meinem Abitur eine 1 in Religion, aber eine reformierte 1, keine katholische 1; und mein Großvater war Pastor, lutherischer Pastor in der DDR und hat an den großen Bekenntnisschriften Barmen und so weiter mitgearbeitet. Also, ich kenne mich auf der lutherischen Seite, glaube ich, auch ganz gut aus. Und es ist keineswegs so, dass ich, weil ich nun als katholisch firmiere, das nun wirklich bin.
    "Luther ist auf der Seite von Augustinus"
    Main: Jetzt, da dies geklärt ist: Was finden Sie an diesem Streit zwischen Erasmus und Luther so spannend, dass es über die "Lutheritis" hinausgeht?
    Schneider: Weil es ein fundamentaler Streit ist. Also, der Mensch handelt alltäglich und nach welchen Maximen handelt er oder – das ist die andere Frage – handelt er von einem Programm her, von einem was ihm oktroyiert wurde, das er dann erfüllen muss? Und das Zweite ist die Position Luthers. Und das Erste eben, dass er zwar geformt ist in vielem und in vielem bedingt ist, aber doch eben auch einen individuellen Willen hat – das ist die Position von Erasmus.
    Dieser Streit ist ein klassischer Streit, der schon in der Antike beginnt – wir haben schon den Materialisten Demokrit, der das vertreten hat. Und interessant ist, dass ein anderer Materialist – Epikur – dagegen sich schon wendet. Also, es ist ein Streit mit einer langen Tradition, der in der Antike schon steckt, der dann in der Zeit der Patristik auch nochmal erneut ausgefochten wird, jetzt zwischen Pelagius auf der einen Seite und Augustinus auf der anderen Seite. Und Luther ist natürlich auf der Seite des Augustinus.
    Main: Also, ein relevanter Streit seit der Antike und wahrscheinlich so lange es Menschen geben wird. Lassen Sie uns jetzt mal ins Detail gehen. Wie fanden Martin Luther und Erasmus zueinander? Die beiden sind sich ja wohl nie begegnet – das ist auszuschließen.
    Schneider: Nie begegnet.
    Main: Sind sich nie begegnet.
    Schneider: Es gab einen Briefwechsel, aber nie begegnet.
    "Es wetterleuchtet schon 1516"
    Main: Erasmus ist 15 bis 20 Jahre älter als Luther. Er ist wohl in Rotterdam geboren, weit weg von jenen Regionen, die wir heute als Mitteldeutschland bezeichnen. Das waren in damaligen Zeiten Weltreisen. Dass die beiden dann doch einander wahrnehmen, womit hat das zu tun? Wie beginnt diese intellektuelle Beziehungsgeschichte?
    Schneider: Die intellektuelle Beziehungsgeschichte beginnt tatsächlich mit der überragenden Geistigkeit von Erasmus. Erasmus ist ja interessanterweise – das vergisst man meistens – groß geworden in der Devotio Moderna in Deventer. Und die Devotio Moderna war ...
    Main: …eine Frömmigkeitsbewegung…
    Schneider: ...eine Frömmigkeitsbewegung. Und die war unglaublich bedeutend, weil sie den Einzelnen in einem individuellen Streben in den Mittelpunkt stellt - und zwar, dass man im alltäglichen Leben Gott abbildet. Das ist die eine Seite.
    Er hat dann natürlich auch in Paris studiert, nach den sieben Jahren Deventer. Und er wurde dann der große Humanist, ist in Italien gewesen und so weiter. Und da wurde er stilbildend und er wurde der Humanist.
    Auf der anderen Seite ist es so, dass Luther ja aus diesem engeren Kreis um Wittenberg kommt, über seinen Lehrer Staupitz dann in die Universitätslehre hereinkommt und eigentlich von seinem Horizont her nie auf einem europäischen Niveau zunächst einmal ist.
    Und es ist interessant, es wetterleuchtet – das finde ich jetzt eine ganz spannende Szene –, es wetterleuchtet 1516 schon – '16! Da schreibt der Spalatin, der auch humanistisch eingestellt ist – der Sekretär vom Fürsten von Luther –, der schreibt einen Brief an Erasmus – Humanisten untereinander – und er sagte dann: 'Ja, ich habe da einen Augustinermönch, der möchte dir was sagen, nämlich er meint, dass du bei deinen Anmerkungen zum Römerbrief die Justitia falsch fasst und dass du die Erbsünde zu wenig achtest'. Dieser Mann, von dem Spalatin berichtet, war Luther. Da wetterleuchtet es.
    Und das sind genau die Punkte, die eigentlich das Fundament sind für den Streit De libero arbitrio oder De servo arbitrio, die Luther vertritt.
    "Erasmus war auch kirchenkritisch"
    Main: Als es da also vor 501 Jahren wetterleuchtete und es britzelte in der Luft und Luther sich eben anschickte, vieles auf den Kopf zu stellen, was hatte Erasmus bis dahin bereits an Bahnbrechendem gedacht und realisiert?
    Schneider: Ja, vor allem die antiken Studien – er war perfekt in diesen antiken Studien. Und dann hatte er ja die Edition der Evangelien gemacht, aufgrund deren dann überhaupt Luther übersetzen kann. Er hat also eine textkritische Edition gemacht.
    So kann man sagen, dass er diese Texte sehr gut kannte; und das merkt man auch an seinem Brief und gerade auch in seiner Schrift De libero arbitrio. Und er kannte hervorragend durch seine Hieronymus-Studien die Spätantike, die patristische Geistigkeit insgesamt. Das war das Entscheidende. Er konnte ja auch Griechisch, und so hat er dann auch das Östliche, die östliche Patristik einbezogen.
    Ein Porträt von Desiderius Erasmus von Rotterdam von Hans Holbein d.J. (1530). 
    Ein Porträt von Desiderius Erasmus von Rotterdam von Hans Holbein d.J. (1530). (picture alliance / dpa)
    Main: Es gab ja eine Phase, in der Erasmus große Sympathien für Luther hegte und in der er zögerte, als Wortführer gegen dessen neue Theologie in die Schlacht zu ziehen. Was fand Erasmus sympathisch?
    Schneider: Natürlich. Erasmus war selber kirchenkritisch, also im Sinne der gegebenen römischen Kirche sehr kritisch. Und dass Luther das angriff, fand er vorzüglich und hat das auch immer wieder auch verteidigt sogar.
    Das Problem entsteht an der Stelle, wenn Luther eben nicht mehr die äußere Form anschaut, so wie das konkret vollzogen wird, menschlich vollzogen wird, sondern eben an diesen fundamentalen Sätzen.
    Und vor allem – das merkt man ganz deutlich –, dass er anklagt dann den Luther, dass Luther eigentlich einen Zugriff hat, der dem Päpstlichen entspricht: Er ist der einzige autoritative Deuter der Schrift. Und das hat natürlich Erasmus nicht akzeptieren können. Und das ist dann der Punkt, wo es wirklich auseinandergeht.
    Er sagt ihm: 'Ja, es kann doch jeder behaupten, er hätte den Heiligen Geist – warum gerade du, warum nicht genauso ich? Das musst du mir doch auch zugestehen, dass ich den Heiligen Geist habe!'
    "Erasmus wurde wegen falscher Lehren angeklagt"
    Main: Wir haben also hier den Fürsten der Humanisten, hoch angesehen, das seit langem etablierte Haupt der europäischen Intellektuellen und dort den Aufsteiger. Wenn Luther dann diesen großen und alten Fürsten der Humanisten angeht und attackiert, wie er es tut, ist das Taktik oder ist das Besessenheit beim ihm?
    Schneider: Beides. Taktik deswegen, weil er versucht natürlich ihn so in eine Position zu drängen, dass er für die anderen schwierig wird und er sozusagen auf der Seite keinen Anklang mehr haben kann. Ist ja auch geschehen. Also, Erasmus hat große Schwierigkeit mit der Amtskirche. Er wurde angeklagt wegen Heterodoxie, wegen falscher Lehren. Also, da sind sie ein bisschen sehr auf gleichem Fuß. Das Andere ist, dass er den weghaben will von dieser Vermittlerposition. Das kennen wir schon länger, dass die Leute, die in der Mitte stehen, erstmal beiseite geräumt werden, damit man einen scharfen Gegner hat. Und das ist die taktische Seite.
    Main: Dann geht es 1524 wirklich ans Eingemachte. Erasmus von Rotterdam macht sich daran, den freien Willen als biblisch und kirchlich gut begründet darzustellen – Sie haben die Schrift Über den freien Willen mehrfach angesprochen. Wie argumentiert er in seiner Schrift Über den freien Willen?
    Schneider: Ja, er sagt einfach: 'Erstens, Antike willst du ja nicht hören, mein lieber Luther. Da gibt es zwar vieles, aber das willst du nicht hören. Da gehen wir in die Schrift und in der Schrift, da gibt es sehr, sehr viele Stellen, die vom freien Willen sprechen. Dann gibt es einige wenige, die skeptisch darüber sind, einige sind unklar.
    "Wir wissen nicht, was Gott will"
    Und – es ist sehr interessant – er argumentiert dann mit der Positionierung der jeweiligen Aussage in der Schrift, also ein ganz textkritisches Verständnis, auch in der Interpretation – was Luther übrigens sehr häufig nicht macht. Und das ist die Richtung. Und oberstes Prinzip ist dann allerdings, dass er sagt: 'Na ja, soweit können wir kommen, lass es doch auf das Einzelne ankommen, auf die einzelne Haltung.' Das ist sehr typisch für die Devotio Moderna. 'Gott erreichen wir ja sowieso nicht. Wir wissen nicht, was er will.'
    Dagegen dann Luther: 'Na, wir wissen sehr genau, was Gott will. Er hat das ja gesagt in der Bibel.' Und diesen Einwand kennt ja Erasmus und nimmt ihn schon vorweg und hat gesagt: 'Na ja, diese Stellen kann man alle sehr verschieden interpretieren. Nicht das, was die Schrift sagt, gegen das bin ich, sondern wie sie interpretiert wird. Und so wie du sie interpretierst, mein lieber Martin Luther, ist es einseitig interpretiert. Man kann es auch anders interpretieren.'
    Und darauf kommt in der späteren Widerrede dann der Luther, der dann sagt: 'Ja, es ist doch so, dass es nur eine Interpretation geben kann. Ich habe sie und der Geist hat sie mir eingegeben.' Und darauf kommt das Argument: 'Ja, der Geist. Woher weißt du, dass er bei dir ist? Er kann doch bei jedem sein von uns!'
    Main: Luther sagt aber, der Wille ist geknechtet, er ist nicht frei.
    Schneider: Ja, weil der Wille geknechtet ist, ist er unmittelbar unter dem, was Gott will. Und deswegen kommt Luther ja auch zu der Prädestination, gegen die Erasmus strikt ist und gegen die auch schon Epikur war, gegen Demokrit.
    "Prädestination ist ein Kern lutherischer Theologie"
    Main: Also, bei Luther ist der Mensch nicht zum Guten fähig – das ist die logische Konsequenz dann auch aus seiner sola gratia Theologie: Auf die Gnade kommt es an, nicht auf die eigenen Leistungen. Damit ist dieser Streit zwischen Luther und Erasmus die Grundsatzfrage schlechthin für die reformatorische und für die altkirchliche Theologie.
    Schneider: Ja, sicher. Ich würde dazu noch ergänzen die Prädestination. Das heißt, der Mensch ist ...
    Main: Die Vorherbestimmung.
    Schneider: Die Vorherbestimmung. Der Mensch ist von vorneherein von Gott dazu bestimmt, ein ganz bestimmtes Tun zu vollziehen. Es gibt sogar eine Äußerung von Melchior Hofmann, einem ursprünglich lutherischen, dann täuferischen Menschen, der hat gesagt: 'Na ja, wenn man fromm ist und alles Brave tut – wie Gott will – und man ist trotzdem nicht vorherbestimmt, dann ist das zwar schade, aber man hat da wenigstens Trost, man hat recht gelebt.'
    Und diese Prädestination ist ein Kern lutherischer Theologie und ist eingeflochten dann auch mit der Passionstheologie. Aber im Kern ist es so, dass die Prädestination unentweichbar ist.
    Interessant ist, dass übrigens auch Sören Kierkegaard in seinem Tagebuch vermerkt: Diese lutherische Prädestination ist so, wie wenn ein Ameisenlöwe unten in seinem Sandtrichter sitzt und oben ist eine Ameise und die kommt nie mehr raus aus diesem Trichter, weil sie immer dann bespritzt wird und runterrutscht, bis sie dann von dem Ameisenlöwen gefressen wird.
    "Fast alle Lutheraner leben heute nach den Maximen von Erasmus"
    Main: Erasmus, der wohl auch ganz stark von Pico della Mirandola geprägt war – auch ein wichtiger Renaissancephilosoph, der ganz und gar den Menschen in den Mittelpunkt stellte - der kann all das, was Luther denkt nur als Verletzung der Idee der Menschenwürde verstehen. Wie sehen Sie die nächste Eskalationsstufe?
    Schneider: Nein, nicht so ohne Weiteres. Also, Erasmus sagte ja dann gegen Ende von De libero arbitrio: 'Nein, nein, natürlich sind wir in ganz vielem bedingt. Natürlich! Aber es bleibt doch ein gewisser Raum – nicht so groß, aber ein gewisser Raum –, indem wir frei urteilen können und frei entscheiden können.' Und diesen Reservatsraum, den möchte er aufrechterhalten.
    Und es ist ja so, ich habe jedenfalls keinen einzigen Lutheraner getroffen, der nicht das auch sagt. Ich bin überzeugt, dass fast alle Lutheraner heute nach den Maximen von Erasmus leben und nicht nach der Prädestinationslehre von Luther.
    "Erbsünde – das ist zutiefst Luther"
    Main: Das ist genau der Punkt, dass Luther zutiefst pessimistisches Menschenbild, auch seine antirationale Verachtung antiken Denkens, das scheint ja so weit weg vom heutigen Luthertum zu sein, das eher vom lieben Gott als vom zornigen Gott spricht. Wie bekommen wir das zusammen, dass die Reformationskirchen so weit weg sind von Luther?
    Schneider: Ja, ich glaube, das ist einfach sachbedingt und evident von dem Drang des Menschen, sich selbst einen Freiheitsraum zuzudenken, möchte ich gerade mal sagen. Und dem steht gegenüber, dass das bei Luther nicht vorgesehen ist. Auch die Erbsünde ist ja ... so kommt das Ganze zustande ... die uranfängliche Gnade Gottes, die eben mit dieser Justitia, der Gerechtwerdung zusammenhängt, die ist ja abhängig von dieser Ursünde des Menschen. Und die wird aufgehoben durch den Erlösungstod des Gottmenschen Jesus.
    Das heißt, wenn man nicht diese Sachen alle mitdenkt, kann man nicht lutherisch denken. Und jetzt ist es so, dass in der heutigen lutherischen Theologie ja mit der Erbsünde, da haben die meisten große Schwierigkeiten, halten die gar für katholisch – aber das ist zutiefst Luther.
    Und auf der anderen Seite ist die Passionstheologie entscheidend. Und das ja die Passion des Gottmenschen – ohne das ist ja die anfängliche Aufhebung der Erbsünde gar nicht möglich. Das muss der Gottmensch sein. Und wenn jetzt manche – bis hin zum bischöflichen Rang – in der lutherischen Kirche sagen: 'Nun ja, er ist zwar ein begabter Mensch, dieser Jesus, ein exemplarischer Mensch und von Gott ergriffen, aber ist nicht Gottmensch', dann ist das für die lutherische Theologie fatal, weil nur der Gottmensch eigentlich diese Aufhebung der Erbsünde machen kann.
    "Die evangelische Kirche muss die negative Darstellung von Erasmus aufgeben"
    Main: Selbst ein evangelischer Theologe wie Johann Hinrich Claussen, EKD Kulturbeauftragter, der schreibt in seinem kleinen, wirklich gut zu lesenden Reformationsbuch: "Erasmus" – Zitat – "dürfte heutigen Zeitgenossen näher sein als Luthers verstörende Analyse des menschlichen Willens und seine radikale Gnadentheologie." Zitat Ende. Jetzt Sie mal als Philosoph, wenn Sie die EDK beraten müssten, sollten die einfach Luther und seine Theologie über Bord schmeißen?
    Schneider: Na ja, nein nicht unbedingt. Aber sie sollten wirklich sich klarmachen, was diese Lehre enthält. Und das müssen sie ganz klarmachen. Und dann müssten sie auch aufgeben diese negative Darstellung von Erasmus. Denn tatsächlich ist es so, dass über 90 Prozent der Lutheraner heute die Position von Erasmus vertreten, nicht die von Luther. Und da müssen sie irgendwann mal die Konsequenzen ziehen.
    Aber zentral ist, dass man wirklich die Theologie nicht aus der Betroffenheit entwickelt, sondern wirklich von den Grundgedanken her. Und das muss man den Leuten auch, meine ich, klar vermitteln. Und mit einem – na ja – unentschiedenen Brei kann man nicht argumentieren. Und ich glaube, da liegt der Kern.
    "Luther vertritt fundamentalistische Positionen"
    Main: "Unentschiedener Brei" – wenn Sie die beiden – gehen wir nochmal zurück in die Geschichte –, wenn Sie den Auftrag hätten, als Mediator zwischen den beiden zu schlichten, zwischen Erasmus und Luther, wo würden sie ansetzen?
    Schneider: Oh, das ist schwierig. Und zwar deswegen, weil Luther ja wirklich fundamentalistische Positionen vertritt und für sich allein den Geist beansprucht.
    Ich müsste wohl versuchen, Luther in seiner ganz großen Frühzeit aufzugreifen und müsste sagen: 'Jetzt schau mal ganz genau, was dein erster Impetus war.' Und dieser Impetus ist doch Bemühen gewesen um Geistiges – Luther hat ja die Devotio Moderna nie gekannt. Eigentlich wäre diese Ebene, also auf der einen Seite die Devotio-Moderna-Herkunft und auf der anderen Seite, dass er doch irgendwie auch aus dieser Richtung kommt, dann wäre es vielleicht möglich.
    "Der angemessenere Weg war Erasmus"
    Main: Wenn wir mal Bilanz ziehen: Der Hau-drauf-Typ Luther, der Fundamentalist, wie Sie eben gesagt habe, der hat die Welt direkt und indirekt verändert. Nach Erasmus ist lediglich ein europaweites Austauschprogramm für Studenten benannt. Also, Luther ist dann doch wohl der Punktsieger?
    Schneider: Na ja, es ist immer so, dass die Leute, die draufhauen, natürlich die effektvolleren sind, aber sie haben nicht unbedingt die Wahrheit. Denken Sie an den Streit zwischen den Menschewiki und den Bolschewiki in Russland.
    Die Position, die richtig war, ist eigentlich die Menschewiki-Position. Nur haben die Bolschewiki sich durchgesetzt, die Wenigen sich durchgesetzt. Obwohl die Mehrheit, die Gemäßigten, eigentlich das ist, was eigentlich die Sozialdemokratie – eine radikale Sozialdemokratie, könnte man vielleicht sagen – erstreben wollte. Dann wäre es vielleicht für Russland mit sehr viel weniger Menschenverlust verbunden gewesen als das, was dann geschah. Durch die Wenigen.
    Aber es zeigt nur allgemein, dass die Geschichte nicht den direkten Weg geht. Es kann sein, dass viel spätere Zeiten dann den angemesseneren Weg zeigen. Und ich glaube, der angemessenere Weg war Erasmus.
    Und schauen Sie, wenn Sie die Geschichte des Luthertums betrachten: Das Aufleben des Luthertums im 18. Jahrhundert, das ist geraden von den unorthodoxen Rändern her geschehen, nicht von der lutherischen Orthodoxie in Sachsen, sondern die Ränder.
    Das sind die Leute, die oft interessanterweise Beziehungen hatten zu täuferischen Kreisen, auch zu katholischen Kreisen, zu reformierten Kreisen – ich nenne Terstegen. Und das ist viel zukunftsweisender gewesen.
    Und im 18. Jahrhundert, da würde ich Schleiermacher dafür beanspruchen, der ist ja auch der Mann, der exemplarisch wird für die protestantische Theologie, aber der war in Herrnhut erzogen, der kommt aus der spiritualistischen Ecke, also nicht aus der lutherischen Ecke eigentlich. Und ich glaube, das war die Zukunft.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.