Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


These vom "Erlösungsantisemitismus"

Saul Friedländer hat die Shoah unter falscher Identität in einem katholischen Erziehungsheim in Frankreich überlebt. Die Eltern, ein tschechisch-jüdisches Ehepaar, wurden in Auschwitz ermordet. Friedländer wurde Geschichtsprofessor in Tel Aviv und Los Angeles und stellte den Holocaust ins Zentrum seiner Forschung. Jetzt hat er sein großes Werk über "Das Dritte Reich und die Juden" abgeschlossen. Eine Rezension von Peter Longerich.

30.10.2006
    In jeweils relativ kurzen, ineinander verschränkten Abschnitten schildert Saul Friedländer den Kriegsverlauf, die Maßnahmen der deutschen Führung, den Stand der Judenverfolgung im Reich und in den europäischen Ländern und insbesondere die Situation der von der Verfolgung Betroffenen. Ständig wechseln die Schauplätze und Handlungsebenen, wechselt Friedländers im Stil einer Chronik vorgetragene Darstellung ab mit längeren Zitaten unterschiedlichster Herkunft. Unvermittelte Konfrontation unvereinbarer Sichtweisen und die Zusammenstellung von unterschiedlichen Stimmen, die sich auf eindrucksvolle Weise gegenseitig ergänzen, sind wesentliche Elemente dieser Montage.

    Ihre besondere Kraft gewinnt die Darstellung dadurch, dass Friedländer die wichtigsten Etappen des jüdischen Martyriums durch Zitate aus Tagebüchern dokumentiert. Indem Friedländer solche Stimmen in den Mittelpunkt seiner Darstellung rückt, will er die Opfer aus ihrer Anonymität befreien, eine zu abstrakte Darstellungsform vermeiden, in welcher der Massenmord droht, im Stile eines business as usual dargestellt zu werden.

    "Oftmals kann die Unmittelbarkeit des Schreies eines Zeugen, in dem Entsetzen, Verzweiflung oder unbegründete Hoffnung liegen, unsere emotionale Reaktion auslösen und unsere vorgängige, gut geschützte Wahrnehmung extremer historischer Ereignisse erschüttern."

    Abgesehen von den wenigen Tagebüchern der überlebenden Opfer brechen die meisten Diarien spätestens mit der Deportation in die Vernichtungslager ab. Der Versuch, die Verfolgung vorwiegend mit Hilfe von Zeugnissen der Opfer zu dokumentieren, hat hier seine Grenze. Der millionenfache Massenmord, das ist auch ein Ergebnis der Lektüre, lässt sich mit narrativen Mitteln nicht darstellen.

    Friedländer aber vertraut ganz der Kraft seiner Erzählung und schiebt die meisten Forschungskontroversen über den Holocaust in seinen Stellungnahmen souverän beiseite.
    So bezieht er etwa in der zwischen jüdischen Historikern seit Jahrzehnten heftig geführten Auseinandersetzung um die Rolle der Judenräte als Erfüllungsgehilfen der deutschen Politik eindeutig Stellung:

    "Welche Entscheidung die jüdische Führung auch traf, in der Vernichtungsphase waren ihre Vertreter mit unüberwindlichen Dilemmata konfrontiert; ihr organisatorisches und diplomatisches Geschick, hatte ebenso wie ihre moralischen Grundsätze keinerlei Einfluss auf das schließliche Schicksal ihrer Gemeinden."

    Auch zum jüdischen Widerstand vertritt Friedländer eine von Illusionen freie Position:

    Zitator:
    "Bewaffneter jüdischer Widerstand rettete, so wichtig er symbolisch auch war, kein Leben, sondern beschleunigte den Ablauf der Vernichtung."

    Friedländer distanziert sich mit Vehemenz von solchen Forschungen, die, wie er schreibt, in der Ermordung der Juden lediglich "eine sekundäre Konsequenz" anders gelagerter politischer Zielsetzungen sehen wollen. Das richtet sich insbesondere gegen Götz Aly, der in den letzten Jahren versucht hat, in einer Reihe von Büchern die Ermordung der Juden primär aus ökonomischen oder anderen zweckrationalen Motiven abzuleiten.

    Friedländer geht es vor allem darum, die "Zentrale Stellung ideologisch-kultureller Faktoren als wesentliche Triebkräfte der nationalsozialistischen Judenpolitik" herauszuarbeiten. Im Zentrum seiner Erklärung steht der Judenhass Hitlers, den Friedländer als "Erlösungsantisemitismus" bezeichnet. Darunter versteht er die wahnwitzige Vorstellung des Diktators, er sei dazu berufen, die "arische Rasse" vor einer jüdischen Weltverschwörung zu retten, indem er die zum Erzfeind erklärten Juden beseitige.

    Hitler, so stellt Friedländer klar, kontrollierte den gesamten Prozess der Verfolgung in allen Einzelheiten, und trieb ihn im Zuge des Krieges schrittweise auf seinen grausamen Höhepunkt zu. Er zitiert über Seiten die antisemitischen Hasstiraden des Diktators im Wortlaut, da sie sich, seiner Ansicht nach, in keiner Paraphrase adäquat darstellten lassen.

    So sehr er den antisemitischen Wahn Hitlers betont, so vorsichtig ist Friedländer jedoch, die Entschlossenheit Hitlers zur Ermordung der Juden auf einen frühen Zeitpunkt zu datieren. Er meint, die Entscheidung zur Ermordung aller europäischen Juden sei erst im letzten Quartal 1941, vermutlich im Dezember gefallen und die Großzügigkeit, mit der er zu dieser heftig umstrittenen Frage Stellung nimmt, zeigt erneut, dass er die Debatten der Historiker mit einer gewissen Gelassenheit verfolgt.

    Ein konkreter Plan zur Ermordung aller europäischen Juden sei also erst entstanden, als die Massenmorde in Osteuropa schon weit fortgeschritten waren. Wann und unter welchen Umständen dann im einzelnen die Entscheidungen getroffen wurden, die im Frühjahr und Sommer 1942 zu der Ingangsetzung der systematischen Ermordung der Juden zunächst im besetzten Polen, dann in ganz Europa führten, wird allerdings in den folgenden Abschnitten nicht recht deutlich. In jedem Fall aber, so behauptet Friedländer, behielt sich Hitler alle Entscheidungen vor.

    Friedländer betont, dass Hitlers antisemitische Ideologie nur deshalb auf so verhängnisvolle Art wirksam werden konnte, weil die große Mehrheit des deutschen Volkes zum charismatischen Führer eine quasi-religiöse Beziehung hatte und seinem antisemitischem Erlösungscredo folgte. Auch in den besetzten und verbündeten Ländern habe der Antisemitismus mit der Radikalisierung eher zugenommen, als dass sich Gegenkräfte herangebildet hätten.

    "Nicht eine einzige gesellschaftliche Gruppe, keine Religionsgemeinschaft, keine Forschungsinstitution oder Berufsvereinigung in Deutschland und in ganz Europa erklärte ihre Solidarität mit den Juden."

    Friedländers Buch stellt eine kenntnisreiche Zusammenfassung und beachtliche Akzentuierung des Forschungsstandes dar, es führt jedoch nicht darüber hinaus. Dem Autor, so scheint es, geht es mit seinem vielstimmigen, auf die Totalität des Geschehens gerichteten Bericht vor allem darum, eine adäquate Form der Darstellung zu finden; für komplexe Erklärungen bleibt hingegen wenig Raum. Seine These vom "Erlösungsantisemitismus", die ganz auf die Person Hitlers und die zwischen ihm und der Bevölkerung bestehenden quasi-religiösen Bindungen zugeschnitten ist, ist so allgemein formuliert, dass viele Fragen offen bleiben.

    So wird viel zu wenig deutlich, wie Ideologie und charismatische Bindungskräfte in reale Politik umgesetzt wurden, welche Rolle etwa das institutionelle Gefüge des Dritten Reiches spielte und auf welche Weise die Nationalsozialisten in der Lage waren, durch die schrittweise Ausdehnung der "Judenpolitik" ihren beherrschenden Einfluss in nahezu jeden Lebensbereich hinein auszudehnen. Mit Friedländers zentraler These kann auch der fast reibungslose Ablauf der Entrechtung und Deportation in den meisten verbündeten und besetzten Ländern nicht hinreichend erklärt werden. Auch Friedländers Vorstellungen von Omnipräsenz und weitgehender Akzeptanz antisemitischer Propaganda in Deutschland halten einer kritischen Überprüfung nicht stand. Allzu bereitwillig folgt er offiziellen Stimmungsberichten, die eine allgemeine Zustimmung zur Judenverfolgung in der Bevölkerung behaupten. Friedländer macht nur sehr oberflächlichen Gebrauch von den mittlerweile publizierten Berichten zur "Judenfrage", die ein sehr viel differenzierteres Bild zeichnen.

    Radikal-antisemitische Äußerungen einzelner Deutscher, etwa aus Feldpostbriefen, die Friedländer immer wieder als Beleg für die Unterstützung der Mordpolitik durch die Durchschnittsbevölkerung zitiert, machen das grundsätzliche Dilemma seiner narrativen Montagetechnik deutlich: Solche besonders aussagekräftigen Zitate erhöhen die Plausibilität der Erzählung schlaglichtartig und äußerst wirkungsvoll, der Leser erfährt aber wenig über die Repräsentativität und die historische Signifikanz des vor ihm ausgebreiteten Quellenmaterials.

    Friedländers Buch ist ein herausragendes Beispiel für die suggestive Kraft großer historischer Erzählung. Sein kunstvoll komponiertes Werk hat ohne Zweifel literarische Qualität. Die genaue Lektüre macht aber auch deutlich, wo die Grenzen solch beeindruckender historischer Narration liegen.

    Soweit die Rezension von Peter Longerich. Saul Friedländers Werk "Die Jahre der Vernichtung", der zweite Teil seiner Gesamtdarstellung über "Das Dritte Reich und die Juden" ist bei C.H. Beck in München erschienen. Es wurde von Martin Pfeiffer aus dem Englischen übersetzt, umfasst 880 Seiten und kostet Euro 34,90.