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Thierse warnt vor Beschädigung der Demokratie

Bundestags-Vizepräsident Wolfgang Thierse hat im Zusammenhang mit der Reformdiskussion vor einer Beschädigung der Demokratie in Deutschland gewarnt. Demokratie sei ihrem Wesen nach langsam, sagte Thierse im Deutschlandfunk. Es gebe daher eine sich verschärfende Diskrepanz zwischen dem Tempo ökonomischer Prozesse einerseits und der Langsamkeit politischer Institutionen andererseits. Nach Ansicht des SPD-Politikers gibt es in der Kritik an der Langsamkeit politischer Prozesse wie das Bemühen um Mehrheiten einen "latent anti-demokratischen Unterton".

Moderation: Dirk Müller | 30.12.2005
    Dirk Müller: Wolfgang Thierse ist 2005 erst Präsident des Bundestages, jetzt ist er Vizepräsident des Parlaments und nun bei uns am Telefon. Herr Thierse, was gefällt Ihnen denn besser?

    Wolfgang Thierse: Ich war gerne Parlamentspräsident. Aber so ist das Ergebnis von Wahlen. Die CDU hat vier Mandate mehr, ist also stärkste Fraktion und hat damit auf dem Gewohnheitsrecht bestanden, den Parlamentspräsidenten zu stellen und wir haben ihn ja mit sehr großer Mehrheit gemeinschaftlich gewählt.

    Müller: Das klingt jetzt sehr rational, Herr Thierse. Aber wie schwierig ist das für Sie persönlich gewesen, vom ersten zum zweiten Mann zu werden?

    Thierse: Ach, ich habe immer in der Überzeugung als Parlamentspräsident gelebt, dass ich ein Amt auf Zeit habe. Das soll man als Demokrat ohnehin immer wissen, dass man einen Auftrag auf Zeit hat und diese Zeit geht vorüber - da ist man dann kurz emotional ein bisschen aufgewühlt, aber ich habe mich schon längst daran gewöhnt.

    Müller: Haben Sie das bei anderen Kollegen beobachtet, dass die mehr Schwierigkeiten damit hatten?

    Thierse: Ach, ich bin ja nicht vollkommen ausgeschieden. Manche, die Minister waren und vollkommen ausgeschieden sind, die mögen etwas größere Schwierigkeiten haben. Ich mische ja in der Politik noch mit.

    Müller: Ist man als Politiker immer Politiker?

    Thierse: Nein. Ich bin ja, wenn ich mich richtig erinnere, schon 47 Jahre alt gewesen, als ich in die Politik geraten bin. Das heißt, meine wesentlichen Lebensprägungen - oder Charakterprägungen, wenn Sie so wollen - habe ich vor der Politik und außerhalb der Politik erfahren und wesentliche Interessen und Leidenschaften von mir haben nichts mit Politik zu tun. Das ist, denke ich, ganz hilfreich.

    Müller: Schaffen Sie es denn dennoch, Herr Thierse, die Politik nicht als Politiker zu betrachten?

    Thierse: Nun ja, also das kann ich nicht recht selber beurteilen. Man kann sich zwar ein bisschen über die Schulter schauen, aber ... Ich habe ja auch versucht, als Bundestagspräsident so normal wie möglich zu leben und mich nicht an manche Privilegien - dass man ein Dienstauto hat und gefahren wird - zu gewöhnen, sondern ich bin immer da wohnen geblieben, wo ich zu Hause bin, um einfach auch Bodenhaftung zu behalten. Auch das ist hilfreich. Da hat man den Blick normaler Leute auf das, was in Berlin, was "da oben", wie es immer so schön heißt, getan wird.

    Müller: Was hat Sie 2005 besonders beeindruckt?

    Thierse: Nun ja, Sie haben ja daran erinnert, es war ein Jahr voller Überraschungen. Die waren nicht alle positiv. Wenn ich an Kiel denke, eine Stimme eines Mitglieds des Landtags hat so viel bewirkt: das Ende der Regierung Simonis, mit Folgewirkungen auf Berlin, auf das ganze Land. Da denkt man - manche haben das bejubelt -, wie mutig, wie feige war der, dass er sich nicht gezeigt hat. Die Arbeitslosigkeit, die Enttäuschung, die Wut, der Ärger vieler Menschen, dass es nicht vorangeht. Geärgert hat mich allerdings immer, dass die Politik und die Politiker für alles verantwortlich gemacht wird, als würden sie die Arbeitsplätze schaffen. Reden wir deswegen über die Eliten in diesem Lande, reden wir über die Unternehmer, über die Manager und deren gesellschaftliche, deren soziale Verantwortung.

    Müller: Liegt das nicht auch daran, dass die Politiker immer so tun, als würden sie auch alles können?

    Thierse: Das ist ein Fehler, dass Politiker zu viel Erwartung erwecken. Aber selbst wenn man sehr nüchtern darüber redet, was die Grenzen von Politik sind, es ist ja so viel einfacher für Menschen, Schuldzuweisungen adressieren zu können. Und für diejenigen, die wirklich verantwortlich sind für die wirtschaftliche Lage im Lande, für die ist es so angenehm, sich hinter den Politikern zu verstecken.

    Müller: Ist Deutschland 2005 trotz eines Regierungswechsels - inwieweit das ein Politikwechsel ist, das ist ja immer noch in der Diskussion umstritten -, ist Deutschland erwacht?

    Thierse: Das ist ein furchtbares Wort, "Deutschland erwacht", das ist ja ... Aber dass seit 2004 wir in diesem Lande, in der politischen Öffentlichkeit eine heftige Debatte haben über die Notwendigkeit von Reformen, von Veränderungen, über die Art dieser Veränderungen - wie sind unsere Sozialsysteme zukunftsfähig zu machen angesichts der Verschärfung des Wettbewerbs, des ökonomischen Wettbewerbs - wir nennen das Globalisierung? Was ist Aufgabe und Verantwortung der Wirtschaft in diesem Lande? Wie viel Selbstverantwortung ist dem Einzelnen, dem freien Einzelnen, zuzumuten? Was ist die Aufgabe von Solidarität künftig? Diese Debatte, die ist sinnvoll, notwendig, unausweichlich und deren Ergebnisse werden wir in diesem und im nächsten und im übernächsten Jahr sehen.

    Müller: Den meisten, Herr Thierse, war das offenbar aber - das, was passiert ist - zu viel.

    Thierse: Na ja, wissen Sie, ich habe ein ganz unterschiedliche Emotion erlebt: Den einen war es zu wenig und ging alles zu langsam, den anderen war es zu viel und ging zu schnell. Wir haben doch beides erlebt. Die Hartz-Reformen sind auf heftigste Kritik gestoßen, eben weil es zu viel und zu hart war und zu schnell war, den anderen ging es nicht brutal genug zu. Also, da ist das Volk durchaus in seinen Empfindungen und in seiner Situation widersprüchlich. Und dass Politik dann auch nicht ganz einfache Antworten liefern kann, dafür bitte ich dann auch um Verständnis.

    Müller: Ist das ein Nachteil sozusagen des demokratischen Systems, dass die Politik da nicht wesentlich weiter gehen kann, als das die Menschen mitmachen?

    Thierse: Also Demokratie ist ja ihrer inneren Natur, ihrem Wesen nach langsam. Denn sie ist darauf angewiesen und angelegt, die Zustimmung möglichst vieler zu erreichen, Mehrheiten zu gewinnen, Konsense zu organisieren. Das dauert lange. Denn wenn es schneller geht, kann man viele nicht berücksichtigen, muss man von oben her gewissermaßen autoritär oder diktatorisch reagieren. Das ist - es gibt eine grundlegende und - wie ich empfinde - sich verschärfende Diskrepanz zwischen dem Tempo und der Reichweite ökonomischer Prozesse und Entscheidungen einerseits und der Langsamkeit und Begrenztheit, zum Beispiel auch nationalstaatlicher Begrenztheit, politisch-demokratischer Prozesse und Entscheidungen und Institutionen andererseits. Diese Diskrepanz wird als immer größer empfunden, macht Menschen nervös, macht sie ungeduldig, misstrauisch - auch immer kritischer gegenüber der Demokratie. Insofern sind wir in einer schwierigen Situation. Und wenn die große Koalition jetzt nicht - nicht von heute auf morgen, aber in den nächsten Jahren -, nicht Erfolge hat, Menschen überzeugt, dass sie tatsächlich etwas tun kann zur Lösung unser großen, dramatischen Probleme - Reform der Sozialsysteme, Verringerung der Arbeitslosigkeit - dann wird die Wahrnehmung dieser Diskrepanz noch schärfer. Und das wird dann irgendwann gefährlich für unsere Demokratie.

    Müller: Verstärkt Konsensdemokratie die Langsamkeit?

    Thierse: Ich weiß nicht, was das Gegenteil von Konsensdemokratie ist. Ist das die Demokratie, die den gordischen Knoten durchhaut? Ist das die Demokratie, die darauf setzt, dass einige wenige es wissen, das Richtige wissen und dann es brutal durchsetzen? Ich habe etwas dagegen, dass man das Bemühen um Mehrheiten, das Bemühen um Konsens, die Organisation, die gewiss immer schwierige Organisation von Kompromissen verteufelt. Wer das tut, den habe ich immer im Verdacht, dass er eigentlich nicht wirklich die Demokratie will, sondern die Herrschaft von Eliten, von wenigen. Da steckt ein latent antidemokratischer Unterton drin in dieser Kritik an den Bemühungen um Konsense und um mühevolle Mehrheiten.