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Thomas Darnstädt
"Verschlusssache Karlsruhe"

Wie kommen die Richter des Bundesverfassungsgerichts zu ihren Urteilen? Das kann man seit einigen Jahren nachlesen. Nach einer Gesetzesänderung kann man bestimmte Akten nach 30 bzw. 60 Jahren einsehen. Der Jurist und Journalist Thomas Darnstädt hat sich einige Fälle vorgenommen.

Von Annette Wilmes | 11.02.2019
    Cover-Collage. Thomas Darnstädt "Verschlussache Karlsruhe", Piper Verlag. Hintergrundbild: Rote Hüte der Richter aufgereiht auf dem Tisch im Gerichtssaal des Bundesverfassungsgerichtes
    Thomas Darnstädt hat acht Fälle akribisch nachgezeichnet und die neu freigegebenen Quellen geschickt in die Geschichten eingebaut. (Buchcover: Piper Verlag, Hintergrund: picture alliance / dpa)
    Das Buch beginnt mit dem KPD-Verbot von 1956, ein Urteil, das von Anfang an heftig umstritten war. Die Bundesregierung hatte den Verbotsantrag bereits 1951 gestellt, fast zeitgleich mit dem Antrag, die SRP, die Sozialistische Reichspartei, zu verbieten. Während das Verbot der Nationalsozialisten bereits 1952 verkündet wurde, taten sich die Bundesverfassungsrichter mit dem Verbot der Kommunisten schwerer. Es wurde immer wieder darüber spekuliert, ob die Richter sich letztlich dem Willen der Adenauer-Regierung gebeugt hatten und trotz eigener Zweifel das Verbot verhängten. Thomas Darnstädt nutzte die Gelegenheit, dies anhand der bislang unveröffentlichten Handakten der Richter zu überprüfen.
    "Und das Ergebnis ist, es gab massive Versuche der Einflussnahme, aber die Richter haben sich in ihren ganzen Debatten, in ihren internen Debatten darum eigentlich nach meinem Eindruck wenig geschert. Sie waren im Kern unabhängig."
    Der Druck, den die Adenauer-Regierung auf das Gericht ausübte, war tatsächlich enorm. So lud der Innenminister Robert Lehr zwei Richter, die mit dem KPD-Verbotsverfahren unmittelbar befasst waren, zu sich ins Ministerium.
    "Zu einer internen, streng geheimen Besprechung, wo der Lehr die beiden Richter vergattert, dass sie verdammt noch mal diese bösen Kommunisten zu verbieten hätten, weil sonst der Staat in Gefahr gerate. Also man stelle sich mal vor, so was würde heute passieren, das wäre eine Riesenaffäre, damals wurde das einfach so hingenommen, die Richter sind brav angetanzt, haben sich, darüber gibt es auch ein Protokoll, sich das alles sagen lassen, haben dann aber nach meinem Eindruck doch ihre eigene Sache gemacht."
    Der lange Weg zur Entscheidungsfindung
    Aus Richter-Voten, Randbemerkungen und Urteilsentwürfen zeichnet Thomas Darnstädt nach, wie die Richter sich mühten, zu einer Entscheidung zu finden. Man spürt die Atmosphäre, die Gegensätze zwischen freiheitlichem und autoritärem Denken. Eine Vierergruppe im Ersten Senat wälzte monatelang die Argumente hin und her. Am 17. August 1956 kam es zur Urteilsverkündung: "Die Kommunistische Partei Deutschlands ist verfassungswidrig". Thomas Darnstädt schreibt:
    "Das Urteil, 309 Seiten lang, stiftete nichts als Verwirrung. Wie man es auch immer las, es gab kein Ganzes, kein Konzept, keinen Sinn. Viel konnte man für die Zukunft der Demokratie daraus lernen - aber auch das Gegenteil. Verfassungsexperten, die nun die Akten studieren, begreifen, warum: In seiner Ratlosigkeit hatte das Gericht die widerstreitenden Ansichten seiner Vierer-Kommission kreuz und quer durcheinander in das Urteil hineingeschrieben. Hauptsache, endlich ein Ergebnis."
    Das KPD-Urteil zählt Thomas Darnstädt zu jenen Beispielen, die der Aufklärung offenkundig entgegenstanden - dumpfe Kommunistenfurcht hatte über den freien Geist gesiegt. Auch im Urteil um den Paragraphen 175, der die Sexualität unter Männern bestrafte, zeigte sich, wie sehr die Verfassungsrichter sich dem Zeitgeist verhaftet fühlten. Sie bestätigten 1957 den Paragraphen, der erst 1994 aus dem Strafgesetzbuch gestrichen wurde.
    Rechtsprechung und Gesellschaft
    "Man kann an diesem Urteil eben sehr dramatisch sehen, wie in dieser damaligen Zeit die Richter es nicht geschafft haben, über ihren eigenen Schatten zu springen. Wie dramatisch dieses Tabu der Homosexualität über der gesamten Gesellschaft hing, so dass nicht mal diese relativ aufgeklärten und rational argumentierenden Verfassungsrichter es für möglich gehalten haben, sich davon frei zu machen. Das ist eindrucksvoll, das ist dramatisch zu sehen und es gibt uns einen zeitgeschichtlich schlagartigen Blick auf die Situation der Homosexuellen-Verfolgung in Deutschland, die wir uns heute so überhaupt nicht mehr vorstellen können."
    Besonders eindrucksvoll schildert Thomas Darnstädt anhand der Akten, wie schwer es die einzige Frau im Gericht hatte, sich im Verfahren um die Gleichberechtigung gegen die Männerwelt durchzusetzen. Erna Scheffler schrieb Entwurf um Entwurf, die Richter-Kollegen machten ihre teils bissigen Randbemerkungen, mussten aber zu guter Letzt nachgeben. "Männer und Frauen sind gleichberechtigt" - der Satz aus dem Grundgesetz gilt auch für alle anderen Gesetze. Das Bürgerliche Gesetzbuch, in dem noch von der Gehorsamspflicht der Ehefrau gegenüber dem Ehemann die Rede war, musste umgeschrieben werden.
    Eine Gruppe hat sich zu einem wandelnden Bus formiert, auf dessen Seite der Schrifttzug steht "Wir fahren immer noch nach Holland". Gemeint sind damit Fahrten zu Abtreibungen in die Niederlande, wo der Eingriff nicht strafbar ist.
    Protest gegen den Abtreibungsparagraphen 218 im Jahr 1975 (dpa / Manfred Rehm)
    Von Meilensteinen und wie sie ins Rollen kamen
    Das so genannte Lüth-Urteil ist ein weiterer Meilenstein auf dem Weg zur freiheitlich-demokratischen Gesellschaft. Erich Lüth, Direktor der staatlichen Pressestelle Hamburg, hatte 1950 zum Boykott der Filme von Veit Harlan aufgerufen, Regisseur des antisemitischen Propagandafilms "Jud Süß". Von der Filmgesellschaft verklagt, verlor Lüth die Prozesse vor den Hamburger Gerichten. In Karlsruhe bekam er Jahre später in vollem Umfang Recht auf freie Meinungsäußerung. Und gleichzeitig stellte das Bundesverfassungsgericht fest, dass Grundrechte nicht nur Abwehrrechte der Bürger gegenüber dem Staat sind, sondern dass sie das gesamte Recht prägen.
    "Das Lüth-Urteil gilt bis heute als das wichtigste Urteil in der Geschichte des Bundesverfassungsgerichts, weil es die gesamte Rechtsordnung, also das Strafrecht und das Zivilrecht und das Verwaltungsrecht und die Hackfleischverordnung und was auch immer, letzten Endes alle gezwungen hat unter das Grundgesetz, weil es jeden Rechtsanwender, jeden Richter zwingt, jedes Gesetz so anzuwenden, dass es im Sinne des Grundgesetzes ist."
    Das Fernsehurteil von 1961, das Spiegel-Urteil von 1966, und - zeitlich aus dem Rahmen fallend - der Streit um Paragraph 218 mit der Entscheidung von 1975, Thomas Darnstädt hat die Fälle akribisch nachgezeichnet und die neuen Quellen so geschickt in die Geschichten eingebaut, dass der Lesefluss nicht gemindert wird. Der Gang ins Bundesarchiv hat sich gelohnt. Darnstädt betont, dass er die aufwändige Recherche ohne die Unterstützung befreundeter Historiker und Staatsrechtler und ohne die Hilfe der Archivare nicht bewältigt hätte. Das mag sein. Aber es ist ein Glücksfall, dass er als Journalist mit juristischer Bildung das Buch geschrieben hat. Herausgekommen ist eine sehr lesenswerte Zeitgeschichte der frühen Jahre in der Bundesrepublik.
    Thomas Darnstädt: "Verschlusssache Karlsruhe. Die internen Akten des Bundesverfassungsgerichts",
    Piper Verlag, 412 Seiten, 24 Euro.