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Thomas Hardy: "Jude Fawley, der Unbekannte"
Ein düsteres Kapitel im Kanon der Weltliteratur

In seinem 1895 erschienenen Roman "Jude the Obscure" erweist sich der Brite Thomas Hardy als souveräner realistischer Erzähler, der die Institutionen und Wertvorstellungen seiner Zeit scharf angreift. Alexander Pechmann hat das Werk neu übersetzt.

Von Rainer Moritz | 22.04.2018
    Buchcover: Thomas Hardy: "Jude Fawley, der Unbekannte"
    Buchcover: Thomas Hardy: "Jude Fawley, der Unbekannte" (Buchcover: Hanser Verlag, Foto: Sophia Kembowski/dpa)
    Das widerfährt einem nicht alle Tage: das Glück, einen bedeutenden Roman des 19. Jahrhunderts neu zu entdecken, einen Roman, der in England zwar seit jeher zu den Klassikern realistischer Prosa gezählt wird, doch im deutschsprachigen Raum bislang eine erstaunliche dünne Resonanz erfahren hat. Der 1842 in Dorset geborene, 1928 in Dorchester gestorbene Thomas Hardy hat ihn geschrieben und 1895 veröffentlicht. "Jude the Obscure" heißt Hardys Meisterwerk, und vielleicht beförderte schon dessen eigentümlicher Titel das verhaltene Echo. Wie auch sollte man dafür ein passendes, attraktives Äquivalent finden? "Juda der Unberühmte" lautete die erste, 1897 erschienene deutsche Übertragung, der erst 1956 im Aufbau Verlag Eva Schumanns Version "Herzen im Aufruhr" folgte. Diese wiederum kam 1988 im Greno Verlag als Lizenzausgabe neu heraus und wurde prompt mit einem neuen, recht nichtssagenden Titel versehen: "Im Dunkeln".
    Alexander Pechmann rückt mit seiner neuen, im feinen Gewand der Hanser-Klassikereditionen aufgelegten Übersetzung dem Original wieder näher. "Jude Fawley, der Unbekannte" – der Titel lässt keinen Zweifel daran, dass es dem Lebensweg eines Mannes zu folgen gilt, der Obskures und "Unbekanntes" ausstrahlt. Wie so oft bei Thomas Hardy befinden wir uns im Süden Englands, in der mit dem altenglischen Namen Wessex benannten Region. Dort sind Hardys Charaktere zu Hause, dort entwickeln sie ihre Träume, denen sie ein Leben lang nachstreben.
    Gleich zu Anfang hat der aus bescheidenen Verhältnissen stammende Jude einen schweren Verlust zu erleiden: Sein geliebter Lehrer Richard Phillotson bricht seine Zelte im Flecken Marygreen ab, um akademische Weihen zu erlangen, und lässt einen traurigen, lernbegierigen Jungen zurück.
    Zitat aus dem Buch: "Der Schmied und der Verwalter brachen auf, um nachzusehen, ob der vorgeschlagene Schuppen sich eignete, und der Junge und der Schulmeister blieben allein zurück. "Traurig, dass ich fortgehe, Jude?", fragte der Letztgenannte freundlich. Dem Jungen kamen die Tränen, denn er gehörte nicht zu den gewöhnlichen Tagesschülern, deren Nähe zum Alltag des Schulmeisters keine romantischen Vorstellungen zuließ, sondern hatte während der Amtszeit des derzeitigen Lehrers ausschließlich die Abendschule besucht.
    Ehrlich gesagt, die gewöhnlichen Schüler standen in diesem Moment von ferne wie gewisse Bekannte aus alter Zeit und waren keineswegs beseelt von freudiger Hilfsbereitschaft. Der Junge öffnete unbeholfen das Buch, das ihm Mr. Phillotson zum Abschied geschenkt hatte, und gab zu, dass es ihm leidtat. "Mir auch", sagte Mr. Phillotson."
    Eine Universitätsstadt wird zum Ziel aller Träume
    Christminster, das ist das Ziel des Schulmeisters. Christminster, die unverkennbar Oxford nachempfundene Universitätsstadt, die Jude als "himmlisches Jerusalem", als verlockendstes Ziel auf Erden erscheint. Wissend, dass die Tore der Universitätsstadt für armselige Proletarier nicht weit geöffnet sind, will Jude die Laufbahn eines Gelehrten einschlagen, und nichts und niemand scheint ihn davon abbringen zu können. Ausgestattet mit zwei zerlesenen Lehrbüchern, die ihm ein Quacksalber verschafft hat, macht sich Jude in seinen Freistunden daran, die alten Sprachen zu erlernen, um als "sogenannter Autodidakt" alle sozialen Hürden zu überwinden. Christminster wird zum Ort der Idealisierung und Verklärung, zum Sehnsuchtsziel, das – wie es sich für Sehnsuchtsziele gehört – aus der Ferne von besonders funkelndem Glanz ist. Um sich dieses Kulminationspunktes seines Bildungsweges zu vergewissern, macht sich Jude regelmäßig zu Spaziergängen auf. Aus der Distanz will er Christminster sehen, will er sich einen paradiesischen Platz ausmalen, an dem selbst der Regen nicht so öde wie der Regen in Marygreen zu Boden fällt.
    Zitat: "Durch die massive Barriere des kalten, kreidehaltigen nördlichen Hochlands behielt er unentwegt die herrliche Stadt im Blick – den phantastischen Ort, den er mit dem neuen Jerusalem in Verbindung gebracht hatte, doch seine Träume hatten eher etwas von der Vorstellung eines Malers und in geringerem Maße eines Diamantenhändlers als jene des Autors der Offenbarung. Und die Stadt wurde greifbarer, beständiger und beherrschte sein Leben im Grunde nur deswegen, weil der Mann, dessen Wissen und Ziele er so sehr bewundert hatte, dort wohnte; nicht allein, sondern unter den dort weilenden besinnlicheren und heller strahlenden Geistesgrößen.
    In den traurigen, nassen Jahreszeiten konnte er kaum glauben, dass der Regen, der freilich auch auf Christminster fiel, dort ebenso trübsinnig war. Wann immer er ein oder zwei Stunden dem Dörfchen entfliehen konnte, was selten der Fall war, schlich er sich fort zum Brown House auf dem Hügel und kniff hartnäckig die Augen zusammen; manchmal wurde er durch den Anblick einer Kuppel oder eines Kirchturms belohnt, ein andermal durch ein wenig Rauch, der seiner Einschätzung nach fast so mystisch war wie Weihrauch."
    Thomas Hardy hat, wenn man so will, einen Bildungsroman geschrieben, dieses im 19. Jahrhundert so florierende Genre bedient. Doch während beispielsweise sein österreichischer Kollege Adalbert Stifter knapp vier Jahrzehnte zuvor seinen Helden Heinrich Drendorf im "Nachsommer" einen idealen, hindernislosen Weg beschreiten ließ und allenfalls in Rückblenden auf Abgründiges verwies, ist Jude Fawley sehr wenig irdisches Glück beschieden. Wie sehr er sich bemüht, wie erfolgreich er – um das Warten auf den Eintritt in die Universität zu überbrücken – als Steinmetz zu arbeiten beginnt: immer wieder werden ihm Steine in den Weg gelegt, kommt ihm seine eigene Natur in die Quere. Jude Fawley ist diesen Mächten nicht gewachsen, und als er mit der ersten Versuchung konfrontiert wird, verlieren die schäumenden Christminster-Träume an Glanz, und er erliegt den Verlockungen, mit denen ihn das weibliche Geschlecht umgarnt. Eine derbe, vor Sinnlichkeit strotzende Frau, Arabella Donn, ist es, die Jude in Windeseile von der strebsamen Lektüre der griechischen und lateinischen Klassiker abbringt. Einfache Reize genügen, um Jude in große Unsicherheit zu stürzen:
    Zitat: "Zunächst erklommen sie den Gipfel des großen Hügels, und beim Abstieg musste er ihr gelegentlich helfend die Hand reichen. Dann bogen sie ab nach links, gingen den Kamm entlang zu dem Gratweg, dem sie folgten, bis er am bereits erwähnten Brown House auf die Landstraße stieß, von wo Jude Jahre zuvor sehnsüchtig nach Christminster Ausschau gehalten hatte. Nun verschwendete er daran keinen Gedanken. Er widmete sich dem banalsten Dorftratsch mit größerem Eifer, als er bei einer Diskussion all der philosophischen Lehren mit den Professoren der eben noch so angehimmelten Universität an den Tag gelegt hätte, und als sie an der Stelle vorbeikamen, wo er einst vor Diana und Phoebus auf die Knie gesunken war, hatte er vergessen, dass es solche Personen in der Mythologie gab und dass die Sonne anderen Zwecken diente, als Arabellas Gesicht vorteilhaft zu beleuchten. Er spürte, wie eine unbeschreibliche Leichtfüßigkeit ihn dahinschweben ließ; und Jude, der angehende Student, baldige Doktor der Theologie, Professor, Bischof und was sonst noch alles, fühlte sich geehrt und wie im siebten Himmel, weil diese hübsche Landpomeranze sich gnädig dazu herabgelassen hatte, im Sonntagskleid und mit Schleifchen im Haar mit ihm spazieren zu gehen."
    In den Hafen der Ehe gelockt
    In der europäischen Literatur des 19. Jahrhunderts mangelt es nicht an eindrucksvollen Frauengestalten. Sie heißen Emma Bovary, Anna Karenina, Božena oder Nana, und sie deuten einen gesellschaftlichen Umbruch an, der sie bis heute zu Lieblingsobjekten der Literaturwissenschaft macht. Thomas Hardy hat dieses Repertoire weiblicher Gestalten in "Jude Fawley, der Unbekannte" großartig bereichert. Jene so unschuldig wirkende Arabella "im Sonntagskleid" erweist sich als fintenreiche junge Frau, die kein anderes Ziel hat, als den unbedarften Jude in den Hafen der Ehe zu locken. Sie täuscht eine Schwangerschaft vor, was Jude dazu nötigt, den gesellschaftlichen Konventionen zu entsprechen und Arabella zu ehelichen. Freilich liegt auf dieser Heirat kein Segen, denn bald gesteht Arabella ihre – vermeintliche – Intrige und desillusioniert den verstörten Gatten. Arabellas Erotik verliert rasch an Anziehungskraft; beide trennen sich, ohne dass die Ehe offiziell aufgelöst würde, und Arabella sucht mit einem Kneipenbesitzer ihr Glück im fernen Australien.
    Diese Wendung wiederum gibt Jude die Möglichkeit, sich seiner eigentlichen Liebe Sue zuzuwenden, die sich lange sträubt, seinem Begehren nachzugeben. Sie ist seine Cousine, was ein zusätzliches Hindernis für eine Verbindung zu sein scheint, und sie entstammen beide Familien, in denen Verehelichungen stets ins blanke Unglück führten. Es gehört zu den raffinierten Schachzügen dieses Romans, wie Hardy mit unendlicher Geduld über Hunderte von Seiten hinweg Liebesgefühle erkalten und wieder erglühen lässt, wie er den Entschluss, sich zu trennen, sich scheiden zu lassen, sich zu lieben und sich erneut zu vermählen, hinauszögert und ein retardierendes Moment ans andere reiht. Ganz am Ende des Romans werden die komplexen Fäden dieses Liebesgewebes neu aufgetrennt, und es kommt zu Eherevivals und Bindungen, die schlechter nicht sein könnten.
    Auch Cousine Sue ist mit allen Wassern gewaschen und "schlüpfrig wie ein Aal". Sie stürzt Jude in Verzweiflung, als sie plötzlich beschließt, mit einem anderen Mann den Bund der Ehe einzugehen. Und fatalerweise ist es nicht irgendein Mann, sondern ausgerechnet Judes alter Lehrer, der deutlich ältere Richard Phillotson. Mit schonungsloser Härte verkündet Sue, was sie für ihr Lebensglück hält:
    Zitat:"Ein, zwei Tage später trafen Nachrichten von Sue Jude mit niederschmetternder Härte. Bevor er den Brief las und zunächst nur die Unterschrift sah, hegte er schon den Verdacht, dass der Inhalt ziemlich ernst ausfallen würde – sie hatte ihren ganzen Namen geschrieben, was sie seit ihrer ersten Botschaft an ihn nicht mehr getan hatte:
    ‚Mein lieber Jude – ich muss Dir etwas mitteilen, was Dich vielleicht gar nicht überrascht, obwohl es Dir sicherlich überpünktlich (so wie die von den Eisenbahngesellschaften beworbenen Züge) vorkommen wird. Mr. Phillotson und ich werden bald heiraten– in drei, vier Wochen. Wie Du weißt, wollten wir eigentlich warten, bis ich das Studium abgeschlossen und mein Zeugnis bekommen habe, damit ich, falls nötig, beim Unterrichten helfen könnte. Doch er meint großzügigerweise, dass es keinen Sinn habe, länger zu warten, nun da ich nicht mehr am Lehrerseminar bin. Er ist so gütig in dieser Sache, denn ich bin ja nur aus eigener Schuld in diese peinliche Lage geraten und ausgeschlossen worden.
    Wünsch mir Glück. Vergiss nicht, dass Du das musst, und Du darfst es nicht verweigern! – Herzlich grüßt Deine Cousine,
    Susanna Florence Mary Bridehead.‘"
    Ein Roman, der nicht eine Ehe, sondern alle Ehen infrage stellt
    "Jude Fawley, der Unbekannte" ist ein Eheroman, doch keiner, der sich vor allem damit auseinandersetzt, wie schwierig es sein kann, ein romantisches Ideal auf Dauer zu leben und institutionell zu verfestigen. Denn Thomas Hardy geht einen entscheidenden Schritt weiter. Mit staunenswerter Radikalität lässt er seine gebeutelten Protagonisten grundsätzlich am Sinn der Einrichtung "Ehe" zweifeln. Auf- und Ausbruchsbewegungen sind allenthalben spürbar, und im Verhalten der unkonventionellen Sue haben Interpreten sogar frühe feministische Tendenzen gesehen. Hardys Roman wurde prompt als herbe, obszöne Kritik an Ehe und Kirche, an den langsam porös werdenden Säulen der Gesellschaft, verstanden und mit beißender Kritik übergossen. Diese ging so weit, dass Hardy danach das Schreiben von Romanen aufgab und sich ganz der Lyrik verschrieb.
    Sues jäher Entschluss, sich mit Phillotson zu verbinden, ist – natürlich – nicht von Dauer. Schon nach wenigen Wochen ekelt sie sich vor seinen Annäherungen und will nicht an seiner Seite bleiben. Mit dem wankelmütigen Jude hat sie indes einen Partner in Reserve, der von Sue nicht lassen kann und jede ihrer Gefühlsschwankungen ernst nimmt.
    Zitat: "Ich … ich glaube, ich muss ebenso ehrlich mit dir sein wie du mit mir. Vielleicht hast du schon begriffen, was ich sagen möchte?… dass ich Mr. Phillotson nicht leiden kann, obwohl ich ihn als Freund schätze… Für mich ist es eine Tortur, mit… ihm als Gatten zu leben!… Da, jetzt hab ich die Katze aus dem Sack gelassen… Ich konnte nicht anders, obwohl ich… so getan habe, als wäre ich glücklich… Jetzt wirst du mich wohl auf immer und ewig verachten!"
    Sie beugte ihr Gesicht zu den auf dem Tischtuch liegenden Händen herab und brach schweigend in kleine Schluchzer aus, die den wackligen dreibeinigen Tisch erbeben ließen.
    "Ich bin erst seit ein, zwei Monaten verheiratet!", fuhr sie, immer noch über den Tisch gebeugt und in ihre Hände schluchzend, fort. "Und man sagt, dass das, wovor eine Frau in den ersten Tagen ihrer Ehe zurückschreckt, sie nach gut sechs Jahren schulterzuckend in Kauf nimmt. Allerdings klingt das genauso wie die Behauptung, dass ein amputiertes Glied keine Behinderung darstellt, weil man sich im Lauf der Zeit gut an ein Holzbein oder eine Armprothese gewöhnen kann."
    So beginnt eine neue Runde in den unendlichen, fast satirisch ausgeschmückten Liebes- und Eheverstrickungen des Romans. Sue und Jude scheinen endgültig zueinander zu finden; sie schlagen sich mühsam durchs Leben, bekommen eigene Kinder und nehmen einen kleinen Jungen an, von dem die perfide Arabella behauptet, es sei ihr von Jude gezeugter Sohn. Dieser hört auf den seltsamen Namen "Little Father Time"/"Väterchen Zeit" und wird zu einer Schlüsselfigur des Romans. Denn als die vielköpfige Familie kaum noch ein Auskommen findet, kommt das Kind zu einer erschreckenden Erkenntnis: "Wenn wir Kinder fort wärn, gäb’s keinen Kummer mehr". Die Konsequenz führt zu einer der erschütterndsten Passagen der Weltliteratur, die Thomas Hardy in nüchterner Klarheit und deshalb mit aller Erbarmungslosigkeit auf wenigen Seiten wiedergibt: Der Junge erhängt zwei seiner Stiefgeschwister, bringt sich anschließend selbst um und hinterlässt eine Notiz, die sein Handeln in wenigen grausamen Worten erklärt: "Getan weil wir zu vile sint".
    Es ist dies der letzte große Wendepunkt eines Romans, der von einem durchgängigen Pessimismus geprägt ist. In dieser Welt von Wessex glimmt kein Hoffnungslicht. Thomas Hardy, der, wie der Übersetzer Alexander Pechmann in seinem Nachwort schreibt, auch durch die Lektüre Schopenhauers beeinflusst war, lässt nicht den geringsten Zweifel daran, dass am Ende nichts Positives bleibt. Sein nachgeborener Kollege, der Literaturwissenschaftler und Romancier David Lodge, sah in "Jude Fawley" allenthalben "Enttäuschung und Scheitern", vor allem auf den Gebieten von Bildung und Sexualität. Alle Figuren, Jude und Sue vorneweg, sind, so Lodge, "gefangen in einem Irrgarten des Unglücks", und alle hochfahrenden Träume der Jugend verfliegen, sind bald kaum mehr als blasse Schemen. Wem die Schuld an diesem Gang der Dinge zu geben ist, bleibt eine der großen, ambivalent beantworteten Fragen dieses Romans. Beseelt vom ersten "richtigen" Kuss, den Sue ihm gibt, versucht Jude, Bilanz zu ziehen. Dass er es weder vermochte die Universitätshallen von Christminster zu erobern noch eine kirchliche Laufbahn einzuschlagen, steht außer Frage, doch wer ihn von den einst hehren Zielen abbrachte und ihn auf die abschüssige Bahn führte, das ist nicht leicht zu beantworten.
    Zitat: "Der Kuss war ein Wendepunkt in Judes Lebenslauf. Zurück im Häuschen und seinen eigenen Gedanken überlassen, begriff er eines: Obwohl sein Küssen dieses ätherischen Wesens ihm als der reinste Moment seines sündhaften Lebens erschienen war, stand es ihm, solange er seiner ungebührlichen Zärtlichkeit frönte, in keiner Weise zu, weiter den Plan zu verfolgen, ein Soldat und Diener der Kirche zu werden, welche die sinnliche Liebe bestenfalls als Schwäche und schlimmstenfalls als Fluch betrachtete. Was Sue in herzlichem Ton gesagt hatte, war in Wirklichkeit die kalte Wahrheit. Konnte er nur noch daran denken, seine Zuneigung mit Klauen und Zähnen zu verteidigen, blindlings und gewaltsam darauf zu beharren, dass er sie leidenschaftlich liebte, dann war er ipso facto als Bekenner der gängigen Morallehre verdammt. Offenkundig war er von Natur aus ebenso untauglich, die Rolle eines Fürsprechers des anerkannten Dogmas zu übernehmen, wie schon aufgrund seines gesellschaftlichen Ranges.
    Seltsam, dass sein erstes Bestreben– der Erwerb eines akademischen Titels– von einer Frau hintertrieben worden war und sein zweites – das Evangelium zu verkünden – ebenfalls von einer Frau zunichtegemacht wurde.
    "Sind also die Frauen schuld daran", sagte er, "oder liegt es an dem künstlichen Moralsystem, das die normalen Geschlechtstriebe in teuflische bürgerliche Fallstricke und Schlingen verwandelt, um jene, die vorankommen möchten, zu fesseln und zu hemmen?"
    Ein sozialkritischer Roman?
    "Jude Fawley, der Unbekannte" ist ein Buch, dessen Modernität sich nicht in erster Linie von seiner Erzählweise ableitet. Den europäischen Realisten verpflichtet, vertraut Hardy auf einen auktorialen Erzähler, der zwar häufig Judes Perspektive einnimmt, doch wieder und wieder kommentiert und die Gedanken- und Gefühlsgänge anderer Figuren ausleuchtet. Auf das 20. Jahrhundert voraus weisen eher jene Kapitel, die die Stimmungswechsel der Ehegeschädigten bis zur Absurdität treiben, vor quälenden und gleichzeitig komischen Wiederholungen nicht zurückschrecken und so in gewisser Weise die Handlungsohnmacht der Handlungswilligen spiegeln.
    Vor allem jedoch ist Hardys letzter Roman eine hoch ambivalente Auseinandersetzung mit dem, was den Einzelnen an die Gesellschaft bindet. Sind Jude und Sue Opfer der sie einengenden Zwängen, der veralteten Normen, die für Individualität noch keinen Raum lässt? Ist "Jude Fawley" so gesehen vor allem ein gesellschaftskritisches Buch, dass das das mal explizite, mal implizite Klassensystem der englischen Gesellschaft am Ende des 19. Jahrhunderts geißelt? So kann man diesen Roman lesen, doch auf der anderen Seite ist zugleich unverkennbar, dass Hardy anthropologisch verstandener Pessimismus herausstellt, dass Jude und Sue wohl auch in keiner anderen Gesellschaft dauerhaftes Glück erfahren hätten. So gesehen darf man die beiden, wie es David Lodge formulierte, als "Märtyrer im Namen von Fortschritt und Aufklärung" verstehen.
    Jude und Sue sind nicht die Einzigen, die gegen das Vorgeschriebene rebellieren. Auch Schulmeister Phillotson, der viel zu ertragen hat, hält sich nicht an das, was seine Mitmenschen von ihm erwarten. Als Sue ihm erklärt, dass sie nicht bei ihm bleiben wird, den ehelichen Treueschwur nicht einzuhalten gedenkt, unternimmt er keine Anstalten, sie zurückzuhalten – eine Einstellung, die ihm Schimpf und Schande einbringt und seine Karriere im Schuldienst beendet:
    Zitat "Mit wem, ist ihre Angelegenheit. Ich lass sie gehen; natürlich auch mit ihm, wenn sie das möchte. Ich weiß, dass ich vielleicht einen Fehler mache – ich weiß, dass ich meine Zustimmung zu einem solchen Wunsch nicht logisch oder religiös begründen kann; oder ihn mit den Lehren in Einklang bringen, nach denen ich erzogen wurde. Ich weiß nur das eine: Etwas in mir sagt mir, dass es falsch wäre, sie zurückzuweisen. Ich bekenne mich wie jeder andere zu der Ansicht, dass der einzige anständige und ehrenhafte Weg, den ein Mann in Betracht ziehen kann, wenn seine Frau ihn um etwas dermaßen Absurdes bittet, darin besteht, es ihr zu verweigern und sie regelrecht hinter Schloss und Riegel zu stecken und womöglich ihren Liebhaber umzubringen. Aber ist das wahrhaftig richtig und anständig und ehrenhaft oder verachtenswert böse und selbstsüchtig? Ich will mir nicht anmaßen, darüber zu richten. Ich folge einfach meinem Instinkt und pfeife auf die Prinzipien. Marschiert jemand blindlings in einen Morast und ruft um Hilfe, würde ich wohl alles tun, um zu helfen."
    Manchmal, wie gesagt, hat man das Glück, eine Entdeckung zu machen. Alexander Pechmanns neue Übersetzung von "Jude the Obscure", die die Versionen seiner Vorgänger weit übertrifft, macht ein sperriges, vieldeutiges Buch zugänglich, das in den Kanon der großen europäischen Erzählungen gehört, nicht nur in Großbritannien.
    Thomas Hardy: "Jude Fawley, der Unbekannte"
    Neu übersetzt aus dem Englischen und herausgegeben von Alexander Pechmann (Hanser Verlag, München)