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Thomas Jonigk: "Weiter."
Apokalyptische Schicksalsgemeinschaft

Eine junge Frau sitzt in einem Berliner Café und will ihrem Leben ein Ende setzen. Den Strick dafür hat sie schon dabei. Dann kommt ein junger Mann und macht ihr einen Heiratsantrag. Thomas Jonigk erzählt eine tragische wie absurde Liebesgeschichte.

Von Martin Becker | 27.02.2020
Porträtaufnahme von Thomas Jonigk,
Thomas Jonigk erzählt eine ungewöhnliche Liebesgeschichte (Literaturverlag Droschl/Thomas Aurin)
Eigentlich will Veronika sich umbringen. Mit einem fünf Meter langen Seil, das sie in einer Kaufhaustüte dabei hat. Sie sitzt im Westberlin der Achtziger in einem Café, als plötzlich ein unbekannter Mann vor ihrem Tisch steht: Robert, der ihr aus dem Nichts einen Heiratsantrag macht. Die Odyssee zweier verlorener Mittzwanziger beginnt mit einer unglaubwürdigen Rettung vor dem Freitod. Arg konstruiert, also ganz im Sinne des Erzählers.
"Es gibt diesen Menschen aus Bleistift, Papier und Hirnwindung. Er ist genauso wirklich wie ich. Einfach, weil er möglich ist. Und diese Möglichkeit, diese in geschriebene Wörter gefasste Möglichkeit, ist vielleicht eine Gegenwelt. Ein Ausweg. Eine Überlebensstrategie."
Düstere Familienverhältnisse in norddeutscher Provinz
Am Anfang des Romans "Weiter." erklärt der Erzähler eine der Hauptfiguren zur reinen Fiktion. Dieser unauffällige Typ namens Robert, der auch anders heißen könnte, existiert nur im Notizbuch von Veronika. Bevor er als Retter in der Not auftaucht, erzählt der Roman aus Veronikas Leben: eine schwer erträgliche Aneinanderreihung von Missbrauch und Demütigung. Ihre Mutter ist alkoholkrank und erniedrigt sie ständig, vom Vater wird sie als Kind regelmäßig sexuell missbraucht. Aus diesen düsteren Familienverhältnissen der norddeutschen Provinz flieht Veronika nach Berlin, um zu studieren. Immer im Ohr: die Stimme ihrer Mutter.
"Madame ist verrückt – und dazu noch frigide, hässlich, großkotzig, unweiblich, undankbar, und so weiter, und so weiter. Mit einem Wort: gescheitert. Auf Lebenszeit angekettet an die Verweigerung der eigenen Biografie."
Eine Flucht nach Berlin
Beschrieben wird Veronikas Elend drastisch: Der Autor geht zurück bis zur Großelterngeneration, in der Brutalität auch alltäglich war. Er erzählt vom Schweigen, das alle Gewalt unter den Teppich kehrt. Veronika leidet an den Folgen des körperlichen wie seelischen Missbrauchs. Befreit fühlt sie sich erst, als ihr Suizid beschlossene Sache ist. Doch dazu kommt es nicht.
"Momentaufnahme Nr. 6: Robert und Veronika an einem Tisch in einem Café im Westberliner Stadtteil Schöneberg. Der Himmel: gleichzeitig dramatisch und gleichmütig. Der (vielbeschworene) Regen lässt auf sich warten. Der apathische Kellner ist vielleicht eingeschlafen, tot oder niemals dagewesen. Egal. Neue Gäste, Reinigungs- oder Küchenpersonal, Passanten, alles ebenso unwesentlich, nebensächlich, wirklich wie vorstellbar."
Absurdes Theater am Fahrkartenschalter
Veronikas Pendant Robert leidet auch, und zwar an der Liebe, die Veronika nicht empfinden kann: Sein langjähriger Freund Florian, ein Opernsänger, hat ihn während einer Produktion in Stockholm für einen achtzehnjährigen Statisten verlassen. Als Robert daraufhin abreist, trifft er im Stockholmer Bahnhof auf eine Schalterbeamtin, die einen psychotherapeutischen Monolog über die Liebe hält. Eine der schönsten Stellen des Romans: Absurdes Theater am Fahrkartenschalter.
"Befreien Sie sich von allem, was in Richtung von Vorwurf, Empörung, Kränkung, Verachtung, Opfergebaren und Besserwisserei geht, höre ich sie sagen, denn Florians Zustand sei kein selbstgewählter. Oder freiwilliger. Eine Amour fou sei nichts, was man sich aussuche, sie treffe den Menschen wie ein Blitzschlag oder eine ansteckende Krankheit, die den Blick für die Wirklichkeit trübe und den Verstand verwirre."
Zwei Menschen, die füreinander existieren
Roberts Schicksal mag angesichts von Veronikas Leidensgeschichte banal sein, trotzdem bilden sie eine funktionale Trauergemeinschaft. Zwei Menschen in einer ansonsten leergefegten Welt. Und sie machen immer weiter und weiter. Vieles an "Weiter." erinnert an ein Theaterstück: Thomas Jonigk setzt zwei Figuren einander aus und lässt sie über ihr Leben monologisieren. Immer wieder mündet das in einem Nachdenken über Anziehung und Abstoßung an sich:
"Liebe ist etwas, das sich der Sprache verweigert, eine amorphe Kraft, die sich jeder Beschreibung entzieht. Aber ihre Abwesenheit ist real."
Katastrophenszenario mit großer Sogwirkung
Manchmal geraten die selbstbezogenen Monologe der Figuren seltsam weitschweifig, bleibt die Motivation der Hauptfiguren rätselhaft. Von häufigen Brüchen im Erzählen und vom Spiel mit Paradoxien lebt der Roman. Das fängt schon beim Titel an: Nach "Weiter" folgt ein Punkt. Genau diese Irritationen erzeugen eine große Sogwirkung: Theatral pointierte Szenen wechseln sich ab mit erzählerisch veränderten Versatzstücken aus Märchen und vermeintlich autobiographischen Bekenntnissen. Man weiß nie ganz genau, woran man ist.
"Es war einmal ein Mädchen, das hieß Veronika, und dieses Mädchen überlebt vielleicht. Vielleicht auch nicht. In jedem Fall müsste von ihr erzählt werden. Eine Geste der Anerkennung wäre das, ein Ausdruck von Wertschätzung, der sie vor der kompletten Vernichtung bewahrt. Damit sie nicht immer und immer wieder in riesigen, endlos brennenden Öfen zu Sternenstaub werden muss."
Ausgerechnet eine Geschichte über das beschlossene Ende eines Lebens kann einfach nicht aufhören, sich immer weiter und weiter fortzuspinnen – auch wenn die Welt vor dem Fenster unterzugehen scheint. Aus dem zwischenmenschlichen Katastrophenszenario zweier Figuren, von denen eine nur auf dem Papier existiert, entsteht letztlich echte Nähe. Als Alternative bleibt also nicht nur der Strick um den Hals, sondern das vage Gefühl von Hoffnung.
Thomas Jonigk: "Weiter."
Droschl Verlag, Graz, 200 Seiten, 20 Euro.