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Thomas Lehr: "Schlafende Sonne"
Weltwerdung durch Sprache

Thomas Lehr ist sprachlich perfekt, ein Meisterchoreograf von Worten und Sätzen, manchmal etwas selbsttrunken von Metaphern. Für seinen neuen Roman "Schlafende Sonne" hat er sieben Jahre gebraucht. Und wie bei ihm zu erwarten war, ist es keine leichte Kost: Material für treue Jünger und literaturwissenschaftliche Exegeten.

Von Florian Felix Weyh | 12.11.2017
    Buchcover: Thomas Lehr: „Schlafende Sonne“
    Buchcover: Thomas Lehr: „Schlafende Sonne“ (Buchcover: C. Hanser Verlag, Foto: dpa/Arne Dedert)
    Göttingen, 90er-Jahre des 20. Jahrhunderts, eine Philosophievorlesung für Erstsemester:
    "Der Mann aus Florenz trat ein, grüßte uns kurz, stutzte, als er mich sah, hob erfreut die Augenbrauen, kehrte sich zur Tafel und schrieb: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? WAS IST DER MENSCH?"
    Dreierlei lässt sich diesen Zeilen entnehmen. Erstens: Die Erzählerin ist dem Dozenten zuvor in einem anderen Zusammenhang begegnet. Zweitens: Der akademische Lehrer und die Studentin werden miteinander ins Bett gehen. Drittens: Die Studentin kennt Kant nicht.
    "Jonas fährt, als träumte er nur zu fahren, rätselhaft sicher und somnambul, während sein Gehirn völlig auf die Tonspur des Heimreisefilms fixiert ist, auf das lebhafte, nicht abreißende Gespräch zwischen Rudolf und ihm, das von einem Smartphone-Email-Alarm unterbrochen wird.
    Rudolf: Deine Frau ist aufgewacht.
    Jonas: Schreibt sie das?
    Rudolf: Ja, sie ist aufgewacht und stellt die üblichen Fragen: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?
    Jonas: Ist das ein Zitat?
    Rudolf: Ein alter Hut, aber er steht ihr."  
    Mit der Zusatzinformation, dass der "Mann aus Florenz" Rudolf heißt, lässt sich auch diesen Zeilen dreierlei entnehmen: Die Frau steht zwischen zwei Männern, Rudolf und Jonas. Irgendwas ist passiert, sonst würden die beiden nicht miteinander reden. Und drittens: Auch Jonas kennt Kant nicht. Beispielsweise denkt er beim Stichwort "Licht" an die Sonne, statt an die Aufklärung.
    Die vier Kant'schen Fragen sind ein Leitmotiv
    Das ist für einen Physiker natürlich verzeihlich. Wir aber kennen die Aufklärung und ihre vier Leitfragen, die in Thomas Lehrs Roman "Schlafende Sonne" gleich zweimal zitiert werden. Da in diesem Lehr-Buch keine Information nur für sich steht, kommt Kants Fragen eine Funktion zu. Sie raunen dem gebildeten Leser ins Ohr, dass die Welt bis heute unbegreiflich geblieben sei und sich die Stellung des Menschen nur durch geistige Tätigkeit erforschen lasse. Dazu gibt es die Philosophie, dazu gibt es die Literatur. Literatur, die sich selbst ernst nimmt, schreibt von diesen vier Fragen her, auch wenn sie eine Liebesgeschichte erzählt.
    "Milena bleibt stehen, dreht sich ganz zu ihm hin, mustert sein Gesicht aus nächster Nähe. Ich muss dir jetzt drei Dinge sagen, mein Lieber. – Gut, das klingt wie im Märchen. – Erstens heiße ich mit Nachnamen Sonntag. – Das bedeutet, ich muss immer für dich sorgen? – Mal sehen. Zweitens: Ich bin unbedingt verrückt, aber nicht unbedingt treu. – Nun, es ist statistisch gesehen sehr vernünftig, das zu sagen. Ich meine: Noch tut es nicht unbedingt weh. – Drittens: Im wirklichen Leben trage ich schwarze Brillen und sehe dann mit meinem Schmollmund und meinen himmelblauen Augen wie ein Bade-Entchen aus. – Hauptsache, ich darf dich mit in die Wanne nehmen."
    Stünde diese kleine Szene auf den ersten Seiten eines Romans, verhieße sie einiges an konventionellem Lesevergnügen: Ein Mann, eine Frau, gegenseitige Anziehung und ein Konflikt, der daraus resultiert, dass die Frau auf viele Männer anziehend wirkt. Denn wie wir kurze Zeit später erfahren, wird sie nicht nur von vier Fragen, sondern auch von vier Leidenschaften umgetrieben: Kopf, Kunst, Kinder und Klitoris, lautet ihre persönliche 4K-Lebensformel.
    Aber diese kleine Szene steht erst auf Seite 137, und davor ist schon eine Textflut auf den Leser eingestürzt, hat ihn davongetragen oder ertrinken lassen. Eine Flut so bar jeder literarischen Konvention – Absätze? Anführungszeichen? Perspektivische Konsistenz? – dass der Leser seinerseits verzweiflungslaut vier Fragen in die Welt schreit: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist ... die Literatur?
    Ein Figurenarsenal von Heidegger bis Honecker
    Was also kann ich wissen, wenn ich dieses Buch des betörend klugen und sprachmächtigen Autors Thomas Lehr gelesen haben werde? In etwa Folgendes: Ich kenne die Biografien von Milena und Jonas, beide in den 70er-Jahren geboren; er ein im Westen aufgewachsener Physiker, sie eine in der Dresdener Künstler-Bohème großgewordene Aktionskünstlerin mit stark philosophischen Neigungen.
    "Philosophie schien der jungen Frau zu gefallen, ja sie geradezu zu stimulieren. Allein der Begriff der Phänomenologie straffte ihren Oberkörper, als hätte man sie zum Tanz aufgefordert."
    Vor ihrem Kunststudium verschreibt sie sich mit Hirn und Herz Husserl und Edith Stein. Husserl, Stein und Heidegger tauchen im Text – unter Pseudonymen – ebenso auf wie der Geisteszwerg Honecker, der hier Hunzigger heißt, und zahllose andere Gestalten der Zeitgeschichte. Nominell spielt der Roman an nur einem Tag, dem 19. August 2011, fünf Monate nach Fukushima (auch das ein Thema).
    Aber diese Zeitangabe ist eigentlich nur ein Bluff. Denn der Text schwingt zurück bis ins Jahr 1907, bedient sich der Panoramen beider Weltkriege, nimmt Judenverfolgung wie DDR-Geschichte in seinen Erzählstrom mit auf. Er hat den Totalitätsanspruch von Joyce, Musil, Pynchon und anderer Sprachbezwinger, die viel zitiert und wenig gelesen werden.
    "Wird fortgesetzt", steht dann allen Ernstes nach 640 Seiten, und wenn – wie vom Autor angekündigt – weitere ein- bis zweitausend Seiten folgen, wird auch die dritte Hauptperson Rudolf als intellektueller Grenzgänger zwischen Philosophenkatheder und Medienwelt wieder mit von der Partie sein. Rudolf lehrt einerseits an der Uni, dreht andererseits künstlerisch ambitionierte Dokumentarfilme und ist, chronologisch gesehen, eigentlich kein Neben-, sondern ein Vorbuhler von Jonas. Doch die Ehe-Verhältnisse sind an diesem Augusttag kompliziert, weil diesmal Jonas fremdgegangen ist, nicht Milena.
    Alles wird auf einen literarisch-philosophischen Sound getrimmt
    Dann gibt es noch Rudolfs Ex-Frau Martha, die als Husserl-Spezialistin in Göttingen für das Verkrampft-Strenge des akademischen Hochleistungsdenkbetriebs steht, sowie Dutzende anderer Menschen, die auf- und wieder abtauchen: Eltern, Geschwister, Freunde, Konkurrenten und vor allem Ex-Liebhaber und Ex-Sexualpartner. Wenn etwas die Gesellschaft zusammenhält – so die Lehr’sche Phänomenologie –, dann ist es das Sperma.
    Summa summarum werde ich all dies wissen, wenn ich das Buch gelesen habe, Physik- und Kunstbetriebsexkurse obendrauf gesetzt. Aber was weiß ich wirklich? Ich weiß, dass Thomas Lehr es kaum aushält, dem Leser etwas auf geradem Wege mitzuteilen. Seine selbstgestellte Sisyphos-Aufgabe liegt darin, erfundenes und gefundenes Material so zu verformen, bis ein relativ einfacher Sachverhalt den einzigen in seinem Ohr schwingenden, literarisch-philosophischen Sound angenommen hat.
    Der folgende kurze Ausschnitt schildert die Lage von Milena und ihrer Mutter Katharina in Dresden, nachdem Milenas Vater in den Westen abgeschoben wurde.
    "In der Dreiraum-Mutterhöhle kein Fernsehgerät. Platons Gefesselte, die sich freiwillig umdrehen, noch tiefer ins Dunkle tauchen. Statt auf diffus und flackernd beleuchtete Schemen am Höhleneingang starren sie gegen die Wand in ihrem Rücken. Im Falle Katharinas handelte es sich natürlich um eine hohe Bücherwand, ein paradoxer, dialektischer Kniff im Tal der Ahnungslosen, als lese man die Informationen des spärlich in die Höhle gelangenden Lichts nicht mit einer tumben manipulierten Bildröhre aus, sondern durch den fein gerasterten Zweitausend-Buchrücken-Filter eines literarischen, flüsterleisen Supercomputers (1986, Odyssee im Ostraum), der nicht einmal Strom benötigte. Sich zur Wand zu drehen war ein Ausdruck von Wut, auch wenn es nur wie säuberlichste Gelehrsamkeit aussah."
    Das ist noch eine relativ harmlose Probenentnahme aus der "Schlafenden Sonne", deren Konstruktionsprinzip einer Spirale entspricht, wie der Autor in Interviews betont. Das wirft eine interessante Diskrepanz zwischen Leser und Autor auf. Gibt dem Autor die gegenständliche Vorstellung einer Spirale beim Schreiben den nötigen Halt, wenn er von Windung zu Windung, von Figur zu Figur, von Zeitabschnitt zu Zeitabschnitt springt, so gerät der Leser in einen alles verschlingenden Strudel hinein, der unentwegt die Richtung wechselt, Assoziationen vorbeiquirlen lässt, Unterstrudel bildet und sich durch keine autonome Schwimmbewegung bändigen lässt: Lehrs Spirale rotiert.
    Hier schreibt auch ein begabter Hoch-Pornograph
    Bekanntlich lautet der gängige Ratschlag für anspruchsvolle Kunst: Man müsse sich auf das Werk einlassen, dann funktioniere es auch. Umgekehrt sollte einen aber auch das Werk einlassen. Tut dieser Roman das? Oh ja ... sozusagen explizit:
    "Jonas drang immer wieder fassungslos in ihre blumenhaft weich und elastisch nachgebende Möse ein oder hatte vielmehr diesen erhebenden und erhabenen Eindruck, während sie in Wirklichkeit nach ihm schnappte wie nach einer Eistüte, einem knusprigen Hähnchenschenkel, einer bald schon mit Butter bestrichenen Laugenstange, aber er glaubte doch (Ich bin Physiker!), dass ihre nahezu überirdische Weichheit im Verein mit dem präzisen und preziösen Cello-Schwung ihres Beckens etwas objektiv Besonderes war, mein Gott, er füllte sie aus, sie saugte ihn ein, was daran sollte physiologisch originell sein, es war trivialerweise einmalig, weil sie es waren, hier und jetzt in der Mansarde, stöhnend verschlungen."
    Was soll ich tun? Durchatmen. Seit "Nabokovs Katze" von 1999 zeichnete sich ab, dass Thomas Lehr der begabteste Hoch-Pornograf der deutschen Literatur werden könne, und mit der "Schlafenden Sonne" hat er seinen Gipfelpunkt erreicht. Allerdings ist er mittlerweile in einem Alter, da ein solches Talent der Reputation eher schadet, als sie zu heben. Stichwort: Sechzigjährige unter Sexismusverdacht. Auch darum ist die Hochpornographie in der Hochliteratur versteckt, bildet darin allerdings regelmäßige Inseln der Lust minus Geist. Wenn sich überhaupt irgendwo eine Romanbotschaft findet, dann ist es die Ode an die körperlichen Freuden.
    "Es ist kein Problem, einen Liebhaber zu finden, genieße das Universelle am Sex, die aufatmende, zu Kräften kommende, jubelnde Entdeckung, dass sich nichts geändert hat zwischen Mann und Frau."
    Funktioniert der hochliterarische Anspruch über die volle Länge?
    Was soll ich tun, zum Zweiten? Das Buch auf "Stellen" hin lesen? Nein, es lesen, genau lesen, Wort für Wort, Stunde um Stunde, Tag um Tag. Wer das tut, muss mindestens ein verlängertes Wochenende opfern, absolviert dafür aber einen erstaunlichen Lehr-Gang, wie man als Leser einem zunächst übermächtigen Autor beikommt, indem man ihm aufmerksam folgt.
    Ohne Frage ist Thomas Lehr sprachlich perfekt, ein Meisterchoreograf von Worten und Sätzen, manchmal etwas selbsttrunken von Metaphern, die ihm nur so zufliegen. Aber er macht keine Fehler. Auch die anfängliche Furcht, ein multiperspektivischer Erzählstrom sei per se unverständlich, verfliegt rasch, weil der geübte Leser die verschiedenen Blickwinkel und Zeitebenen doch schnell zu sortieren vermag oder aber – höchste Lesekunst! – sich daran nicht mehr stört.
    Auf dieser Ebene funktioniert die Wahrnehmung dann wie bei einem alten Radio in Kurz- und Mittelwellenzeiten, als sich noch mehrere Sender im Lautsprecher überlagern, ergänzen und widersprechen konnten. Wie beim Radiohören kann man sich auch beim Lesen unterschiedlich stark konzentrieren: Eher beiläufig lauschen und dabei etliches verpassen, oder sich mit voller Aufmerksamkeit nichts entgehen lassen wollen. Wer sich analog zur Radikalästhetik des Autors zum radikal genauen Leser entwickelt, bemerkt dann irgendwann, dass diesem virtuosen Autor zwar keine Einzelfehler unterlaufen, weite Passagen seines Buches aber trotzdem schlecht funktionieren.
    "In elf Tagen, könnte Hunzigger lesen, werde er seine Demission erhalten (freiwillig abdanken). Die Genossen Kindermaier und Stopf (Waldemar; es geht nicht mehr; du musst gehen!) zählen ihn aus, um gleich darauf ihre Ämter, ihre Parteimitgliedschaft, ihre tief in den Wald gelegten unschönen Bonzen-Villen (Zweifamilienhäuser, etwas unterhalb des Wohnstandards schwäbischer Abteilungsleiter) in Wandlitz zu verlieren und in Haft genommen zu werden (wenn auch nicht für lange und ohne strafrechtliche Konsequenz)."
    Der DDR-Untergang ist auserzählt, der Erste Weltkrieg nur Kunstmaterial
    Das ist, jenseits der veränderten Namen, jedem bekannt. Der Untergang der DDR – ein großes Feld in der "Schlafenden Sonne" – wurde journalistisch, zeithistorisch und literarisch so erschöpfend behandelt, dass ihm kein noch so persönlicher Sound neue Erkenntnisse oder überraschende Analysen hinzufügen kann. Als Gesellschaftspanorama ist der Stoff auserzählt, zumindest von der Generation Lehr, die in einer Mischung aus Medienerfahrung und persönlicher Betroffenheit gefangen bleibt.
    Dieser Falle werden erst ihre Kinder und Kindeskinder entrinnen, und bis dahin bleibt das allseits Bekannte unter jeder Camouflage allseits bekannt. Formulierungskunst am falschen Objekt wirkt dann schnell aufgeblasen:
    "G[orbatschow] fragt sich wahrscheinlich, nein, er ist sich fast sicher, dass Hunzigger bereits das Stadium des SPÄTEN BRESCHNEWS erreicht hat, den Zustand der animierten Ausstopfung, bei dem die Entourage oder Jüngerschaft den kranken, realitätsblinden, arbeitsunfähigen GEN-SEK zum Popanz macht, indem sie ihn umhimmelt und umwimmelt, vereinzelt und verwebt in einen sarkophagähnlichen Kokon wie eine Schar eifriger Spinnen, um ihn bald schon als reglosen Köder ins Netz der Geschichte zu hängen."
    Beim Ersten Weltkrieg erscheint die Methode Lehr noch entbehrlicher. Die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts ergießt sich in der Umformung eines geplanten Kunstprojekts, der "De-Wilhemification", über die letzten einhundert, schier unlesbaren Seiten. Hier ist nicht nur Lehr’scher Kunstwille am Werk, sondern zusätzlich der Kunstmutwille seiner erfundenen Figur Milena, also eine Verkunstung hoch zwei. Wer im Jubiläumsjahr 2014 auch nur zwei, drei historische Studien über den Kriegsausbruch 1914 gelesen hat, erkennt mühelos die Fundamente, auf denen der Autor seine Gebäude errichtet, deren typografischer Stuck freilich schon abgefallen ist, bevor die Schlüsselübergabe überhaupt stattfinden kann.
    Hier steckt ein hochbegabter Autor in einer Sackgasse, aus der er vermutlich – leider! – nicht mehr herausfinden wird, weil die Idee des totalen Textes, der totalen Weltwerdung durch Sprache, noch jeden zur Strecke gebracht hat, der sich damit infizierte. In den figurennahen Passagen atmet und lebt der Roman und wird von Lehrs Sprachtalent bereichert, während er in den Gesellschaftspanoramen schweißtreibend erarbeitet und in den historischen Passagen gänzlich tot wirkt. Was also, Frage drei, darf ich da als Leser noch hoffen?
    "Noch nie bin ich nach der ersten Nacht mit einem Liebhaber als Erste aufgewacht und war so glücklich darüber. Was hat der nur an sich, dass ich so zufrieden bin." 
    Lehrs Stärke ist die Empathie für Geschlechterverhältnisse
    Darf ich hoffen, dass der Autor zu seinem Ur-Talent zurückfindet, die Verhältnisse zwischen Mann und Frau auf einzigartig sensible Weise auszuloten? Seine Heldin Milena zeichnet Lehr in einer Differenziertheit, die Frauenfiguren von männlichen Schriftsteller selten zugestanden wird. Thomas Lehr besitzt die nötige Empathie dafür, besaß sie schon immer, und bringt sie hier erneut zur Geltung.
    Mit der Empathie für den Leser ist dagegen nicht so weit her. Darf man hoffen, dass er im zweiten Band die wohl unvermeidlichen 700 Seiten zwar vollschreibt, dann aber begreift, dass der wahre Schatz aus diesem Konvolut noch herausgemeißelt werden muss? Oder darf man sich – geradezu umstürzlerisch – der Hoffnung hingeben, durch die Digitalisierung wachse eine ungerührte Literaturkuratoren-Generation heran, die in 20, 30 Jahren übergewichtige Prä-Meisterwerke nimmt, sie von all ihren Schlacken befreit und im Kondensat erst herstellt, was in der Autorenversion nur durchschimmert: Der auf den Punkt gebrachte Roman?
    Lehr kann das durchaus, wie er in seiner anspruchsvoll verdichteten Sterbe-Novelle "Frühling" von 2001 bewies. Und er hat seine Zwickmühle erkannt, nennt sie das "Boxen-Problem". Milena konfrontiert den Prototyp-Intellektuellen Rudolf damit:
    "Wäre er lieber lebenslänglich auf ein Eiland verbannt, auf dem er zur Gesellschaft nur einen faustgroßen schwarzen Würfel mit Lautsprecherfunktion erhielte, dessen inhärente freundliche Männerstimme jedwedes Gespräch mit ihm zu führen imstande wäre, oder bevorzugte er einen absolut willigen, immer jungen, verführerischen, Palme, Strand und Bett mit ihm teilenden Frauenkörper, der jedoch niemals zu ihm sprach und nichts schrieb und auch nicht bereit war, irgendeine Form von gemeinsamer Zeichensprache zu entwickeln, obgleich er so verständig und sinnlich klug wirkte wie jenes blonde Edelgeschöpf im blauweiß gestreiften Sommerpullover, das sich auf Marthas Party mit ihm vor den hohen Bücherregalen geistig gepaart hatte. (...) Rudolf hätte garantiert den Kasten mit der Stimme gewählt."
    Es steht zu befürchten, dass der Autor selbst den Würfel der Hirnstimulation wählen würde, in Verkennung der Tatsache, dass schon die Zuspitzung beider Alternativen falsch ist. In Wahrheit gehört beides immer zusammen, das pralle Leben und das pralle Denken. Womit wir bei der letzten der vier Fragen angekommen wären: Was ist die Literatur?
    Bei Thomas Lehr kann die Antwort nur lauten: Wenn ein sprachlicher Selbstvergewisserungsakt den Kommunikationsakt behindert, entsteht Material für treue Jünger und literaturwissenschaftliche Exegeten, weniger der alles erklärende Weltentwurf. Denn die Leser sind die Welt – nicht das, was ihnen die Autoren in Büchern vorsetzen.
    Thomas Lehr: "Schlafende Sonne", Hanser Verlag, 640 Seiten, 28,00 Euro