Donnerstag, 25. April 2024

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Thomas Weiss: Flüchtige Bekannte
"Kein literarischer Mehrwert"

Von einem auf den anderen Tag spurlos zu verschwinden: Das ist ein Wunschtraum vieler Menschen, die aus ihrem Hamsterrad ausbrechen und ein ganz anderes Leben führen wollen. Davon handelt dieser Roman - der allerdings unsere Rezensentin nicht überzeugt hat. Sie beklagt den "wurstigen Gestus" und findet keinen literarischen Mehrwert.

Von Sabine Peters | 25.07.2014
    Im neuen Roman "Flüchtige Bekannte" von Thomas Weiss, Jahrgang 1964, verschwindet die Architektin Maren; sie ist verheiratet und Mutter einer Tochter. Ihr Ehemann Berthold sucht sie vergeblich. Monate später hört der Journalist Joachim über seine Frau Anne von der Geschichte und schreibt eine Reportage über die Not der verlassenen Angehörigen. Als ein Hinweis auftaucht, Maren arbeite als Tennislehrerin in einem Ferienclub auf der tunesischen Insel Djerba, fliegt Joachim dorthin – seltsamerweise verschweigt er seiner Frau seinen genauen Aufenthaltsort. Joachim trifft Maren tatsächlich, und aus seinem anfänglichem Befremden über diese Frau, der es offenbar schnurz ist, wieviel Leid sie ausgelöst hat, wird Neugier – aber er konfrontiert sie nicht mit ihrer Vergangenheit. Er versucht vielmehr, sich in sie hineinzuversetzen: Fand sie ihre Arbeit in einer typischen Männerdomäne frustrierend? War sie unzufrieden in der Ehe? Kommt auch die "unbedingte" Mutterliebe ans Ende, wenn die pubertierende Tochter nur noch nervt? Oder wollte Maren noch einmal den Zauber eines Neuanfangs erfahren? Joachim beginnt, an seiner eigenen Ehe zu zweifeln. Anne hatte so spießige Wünsche wie eine offizielle Trauung mit Familienfeier; die wünscht sich jetzt als Achtunddreißigjährige dringend ein Kind. Anne mit ihrer Beamtenstelle und ihren Pilates-Kursen ist überhaupt ganz anders als er, der spontan sein will, der Abenteuer sucht und sich manchmal als einsamen Robinson sieht – statt dessen plant das Paar einen Hausbau.
    Showdown vom Reißbrett
    Joachim eiert um Maren herum, erklärt nicht, was er von ihr weiß, er schläft mit einer anderen Clubangesellten, und schließlich folgt ein Showdown, wie er nur am Reißbrett konstruiert werden kann: Berthold und Anne, die beide so oder so von ihren Ehepartnern betrogen wurden, tauchen wie strafende Götter unangemeldet auf. Das ist der Super-GAU, aber natürlich geht das Leben weiter, für alle oder fast alle. Es kann sein, dass Maren bei einem Tauchunfall zu Tode kommt, das deutet sich zumindest an. Aber braucht dies Buch ein Menschenopfer, und muss ausgerechnet die treulose Maren mit dem Tod bestraft werden? Es geht hier nicht darum, moralische Literaturkritik zu betreiben, sondern darum, welche Funktion solches Ereignis haben könnte – und im Roman wirkt es einfach so, als wolle der Autor eine weitere Pointe einbauen. Die anderen machen weiter: Berthold findet eine neue Partnerin; die Tochter blüht wieder auf. Joachim und Anne vertragen sich, beziehen ihr Haus und bekommen ein Kind. Joachim hält fest, er sei weder glücklich noch unglücklich, er sagt: "Ich habe nicht den Eindruck, dass dieses Leben genau das ist, was ich will, doch ich weiß, es gibt kein anderes. Vielleicht erwarte ich einfach nur zu viel."
    Alles andere als eine Farce
    Geschichte ereigne sich zweimal, schrieb Marx sinngemäß, zunächst als Tragödie und später als Farce. Wenn man sich das Motto aus der Odyssee ansieht, das Thomas Weiss seinem Buch vorangestellt hat, könnte man denken, sein Roman sei als Karikatur eines klassischen Geschehens angelegt. Homer erzählt, wie Odysseus und seine Gefährten auf ihrer Irrfahrt auch auf die Insel der Lotophagen gelangten. Sie wurden gastfreundlich aufgenommen und vergaßen ihre Heimat, wollten für immer bleiben; gewaltsam musste Odysseus sie zurück aufs Schiff bringen, unendlich traurig ruderten sie weiter übers Meer.
    Und jetzt, bei Weiss, das selige Sich-Vergessen im Ferien-Club und die traurige Rückkehr Joachims in seinen goldenen Käfig? Aber der Roman ist alles andere als eine Farce. Eine Farce will auf komisch-spöttische, satirisch-kritische oder höhnische Weise Zustände oder Personen verzerren und so zur Kenntlichkeit entstellen. In dem Roman "flüchtige Bekannte" fehlt es an Verwandlungskunst, hier wird das Leben situierter Mittelstandsmenschen in ihrer Midlifecrisis über weite Strecken schlicht eins zu eins abgebildet. Als lese man in einem Lifestylemagazin.
    Es fehlt ein literarischer Mehrwert
    Theoretisch wirft das Buch zwar den Konflikt "Freiheit und Selbstverwirklichung" versus „Pflichtgefühl und Verantwortung" auf. Aber in der konkreten, praktischen Umsetzung wird dieses Thema einfach weichgespült. Der ungnädige Joachim entlarvt die spießige Ferienclub-Welt auf vorhersehbare Weise; die billigen Späße der Animateure werden auf ebenso billige Weise beschrieben. Die Sprache dieses Buchs ist bis auf wenige Ausnahmen ein Ärgernis, und der Einwand, es handle sich dabei um "Rollenprosa" , macht die Sache nicht besser. Literatur soll dem Leser etwas zumuten; sie soll das erbärmliche bzw erbarmenswerte Dasein durchdringen, erhellen oder übersteigen. Literatur soll Fragen stellen und ins Unbekannte, Rätselhafte führen. Der Roman von Weiss ist eine gut gelöste Mathematikaufgabe, jeder ungeklärte Telefonanruf findet seine Erklärung, und weiter geht's, profan und banal. Gegen Ende stellt der Erzähler sich und dem Leser die rhetorische Frage, "und sonst"? Man erfährt, dass Joachims alter Vater, der bisher keine Rolle spielte, gestorben ist. Der Sohn hat keine Lust, zur Beerdigung zu gehen, und sagt: "Warum sollte ich mir das antun, davon wurde niemand mehr lebendig." Dass er dann doch an dem Begräbnis teilnimmt, ist egal. Nicht egal ist der wurstige Gestus dieses Buchs, das bescheidwissende, abgemattete Desinteresse an allem, was "Welt" ist. Die "flüchtigen Bekannten" bleiben ein flüchtiger, schnell vergänglicher Eindruck. Es fehlt ein literarischer Mehrwert, es fehlt ein Glutpunkt.
    Thomas Weiss: "Flüchtige Bekannte".
    Berlin-Verlag, 190 Seiten, 12,99 Euro.