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Thüringen
Staatskanzlei will DDR-Wissen prüfungsrelevant machen

Einer Studie zufolge hält nur gut die Hälfte der 18- bis 24-jährigen Thüringer die DDR für einen Unrechtsstaat. Die für die DDR-Aufarbeitung zuständige Staatssekretärin in der Thüringer Staatskanzlei ist alarmiert. Gemeinsam mit dem Bildungsministerium prüft sie eine mögliche Überarbeitung der Lehrpläne und Pflichtbesuche in Gedenkstätten für angehende Sozialkunde- und Geschichtslehrer.

Von Henry Bernhard | 05.01.2016
    Eine Museumspädagogin steht in einer früheren Zelle des ehemaligen Stasigefängnis Andreasstraße in Erfurt, von der Decke hängt ein Plakat mit der Aufschrift "Ich fordere das Menschenrecht auf freie Ausreise!".
    Ausstellung in einer früheren Zelle des ehemaligen Stasigefängnis Andreasstraße in Erfurt (picture alliance / dpa / Jens-Ulrich Koch)
    Dorit Bause: "Man kann das ja mal so rein technisch ... Jetzt mach du!" Der Riegel der Knasttür knallt laut auf und zu; der Hall eilt den bedrückend niedrigen Gang entlang, erreicht Zelle um Zelle. Die Schüler zucken zusammen, und Gerhard Bause erklärt: "Das sind dann so die typischen Geräusche, denen man tagtäglich auch ausgesetzt war, von früh! ... Das zog durch Mark und Bein! Diese Geräusche hatte man auch lange, lange nach der Haft immer wieder in den Ohren gehabt."
    Hier im Stasigefängnis Andreasstraße in Erfurt saßen Gerhard Bause und seine Frau Dorit 1988 in Untersuchungshaft, weil sie eine Protesterklärung verfasst hatten und raus wollten aus der DDR. Die Schüler schauen betroffen und hören schweigend zu. Sie nehmen an einem dreitägigen Projekt des Landesbeauftragten für die Aufarbeitung der SED-Diktatur teil – als Ergänzung zum Schulunterricht über die DDR. Josephine stellt eine Frage: "Ich höre selbst von meinen Eltern – die sind jetzt so zehn Jahre jünger, das ist schon ein Unterschied –, aber denen hat es eigentlich in der DDR gut gefallen! Und die wären jetzt nicht auf die Idee gekommen, sowas zu machen. Warum haben sie das gemacht?"
    Dorit Bause: "Ich bin eigentlich auch – wahrscheinlich wie ihre Eltern! – als glückliches DDR-Kind herangewachsen. Bei mir hat sich das Blättchen dann erst gewendet, als wir uns kennenlernten. Und so kam das, dass ich mich zu ihm bekannt habe und wir uns entschieden haben, die DDR zu verlassen, weil ich, in dem Moment, wo ich ihn geheiratet habe, auch nicht mehr reisen durfte." Eine soziologische Studie hat im November ergeben, dass nur gut die Hälfte der 18- bis 24-jährigen Thüringer die DDR für einen Unrechtsstaat hält und über ein Drittel dieser jungen Leute meint, dass die Wiedervereinigung mehr Nachteile als Vorteile für Ostdeutschland gebracht habe.
    DDR-Wissen der Schüler vor allem von den Eltern geprägt
    Die für die DDR-Aufarbeitung zuständige Staatssekretärin in der Thüringer Staatskanzlei, Babette Winter, hat nun Alarm geschlagen: "Also, ich will das nicht dem Zufall überlassen, ob Schüler einen Bezug bekommen zur eigenen Geschichte oder nicht. Und da bin ich mit dem Bildungsministerium, der Staatssekretärin, in einem längeren Prozess dran zu gucken: Kann man Lehrpläne überarbeiten? Lehrplanüberarbeitung dauert fünf bis sieben Jahre, da geht die Legislatur drüber ins Land. Gucken wir jetzt mal: Was ist Prüfungsrelevanz? Ist es nämlich bisher nicht – und über Prüfungsrelevanz findet es nämlich auch in der Schule statt."
    Hinzu kommt, dass die Thüringer Bildungsministerin, die Linke Birgit Klaubert, in der DDR selbst SED-Genossin und Geschichtslehrerin war und die DDR auch nicht als Unrechtsstaat bezeichnen möchte. Für die SPD-Staatssekretärin Winter ein Affront: "Ich persönlich fand das völlig falsch, wie sie sich geäußert hat. Ich hatte gedacht, wir hatten auf Basis des Koalitionsvertrags eigentlich eine Einigung erzielt; und auf dem Begriff "Diktatur" kann sich auch Frau Klaubert einigen. Von daher bleibe ich da dran und gehe erst mal davon aus, dass auch die Bildungsministerin auf Basis des Koalitionsvertrages ihren Teil dazu beiträgt.
    Babette Winter denkt auch über alternative Wege nach, denn das Wissen der Schüler über die DDR wird bislang hauptsächlich von den Eltern geprägt, weniger von der Schule oder von zahlreich vorhandenen Bildungs- und Gedenkstätten. Über Pflichtbesuche dort wird nachgedacht, wenn nicht für die Schüler, so doch zumindest für die angehenden Sozialkunde- und Geschichtslehrer. "Dass die auch so ein Modul, ein verpflichtendes Modul, bekommen in ihrer Ausbildung. Das kann ein Modul an einem der Grenzmuseen sein, also wir haben das Angebote ohne Ende. Ich will auf jeden Fall mehr goldene Zügel anlegen. Also mehr Verpflichtung und es nicht mehr dem Zufall überlassen, wo Demokratiebildung und auch Lernen über die DDR-Geschichte stattfindet oder nicht."
    Vielfältige Perspektiven statt Betroffenheit
    Pflichtbesuche von Schülern hält man in den Gedenkstätten für falsch. Zu sehr erinnere das an die Vergangenheit, meint der Leiter der Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße im ehemaligen Erfurter Stasi-Knast, Jochen Voit: "Das ist ja fast ein Klassiker der Pädagogik, im Osten und im Westen. In der DDR sind die Leute nach Buchenwald geschickt worden, haben dort eine Gedenkstätte durchlaufen und mussten auf Knopfdruck betroffen sein. Im Westen war das durchaus ähnlich. Ich erinnere mich: Wir sind dann nach Dachau alle geschickt worden als Schulklasse und haben da auch ganz wenig mitgenommen; da ist ganz wenig hängengeblieben. Das klappt nicht!"
    Statt auf Betroffenheit setzt Voit auf vielfältige Perspektiven, auf viele Graustufen statt auf Schwarz/Weiß. Es sei sehr deutlich, dass manche Schulen, manche Lehrer immer wieder kämen, andere aber nie. Vermutlich die, die in der Schule ein vorwiegend positives DDR-Bild vermitteln, von dem ein Drittel der Thüringer Schüler berichtet. "Wir haben hier Schüler zum Teil, die zu Hause noch niemals eine Frage gestellt haben zum Thema DDR. Weil sie das nervt, weil sie auf Familienfeiern das oft genug erlebt haben, dass ab einem gewissen Alkoholpegel dieses Thema von alleine aufkommt und auf eine sehr einseitige Art und Weise. Und sie können dann schwer damit umgehen, dass ihnen in der Schule, in der Gedenkstätte ein anderes Bild vermittelt wird als dieses ostalgische Bild. Wenn sie aber konfrontiert werden mit persönlichen Geschichten, dann habe ich schon oft erlebt, dass danach ein Dialog in Gang kam, sowohl mit dem Lehrer, der dann sagt, "Mensch, das bin ich ja noch nie gefragt worden, dass ich von meiner eigenen FDJ-Zeit mal was erzählen sollte!", als auch von Eltern, die uns ansprechen und sagen, "Ich habe zum ersten Mal mich einen Abend hingesetzt und habe mit meinem Sohn/ meiner Tochter über meine Zeit in der DDR gesprochen."
    Auch Josephine wird vermutlich nach den drei Tagen Zeitgeschichte mit Stasi-Akten und Zeitzeugen die DDR-Geschichten ihrer Eltern mit anderen Ohren hören. "Aber da kriege ich schon ein sehr anderes Bild davon! Wir haben das ja in der Schule noch nicht ganz behandelt; und ich finde das auch gut, dass wir das so behandeln, dass man Gefühle mit reinbringt. So verinnerlicht man das, glaube ich, eher, als wenn man das nur liest aus Büchern und so."