Dienstag, 19. März 2024

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Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow
"Wir haben die höchste Ostkompetenz"

Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Die Linke) erwartet angesichts vermutlich schwieriger Wahlergebnisse in Thüringen eine stabile Regierung – notfalls auch eine Minderheitsregierung. Zwar habe die Linke die "höchste Ostkompetenz", doch kämpfe er aktuell für Rot-Rot-Grün, sagte er im Dlf.

Bodo Ramelow im Gespräch mit Henry Bernhard | 22.09.2019
Bodo Ramelow (Die Linke), Ministerpräsident von Thüringen und Spitzenkandidat der Thüringer Linken, stellt auf dem Erfurter Anger der Öffentlichkeit die Kampagne der Partei zur Landtagswahl vor
Deutschland "braucht eine andere politische Kultur", glaubt Bodo Ramelow (Die Linke), Ministerpräsident von Thüringen und Spitzenkandidat der Thüringer Linken (picture alliance / Martin Schutt)
Bodo Ramelow erwartet angesichts der vermutlich schwierigen Wahlergebnisse für Thüringen eine stabile Regierung – notfalls auch eine Minderheitsregierung. Für eine Zusammenarbeit zwischen Linkspartei und CDU zeigt er sich offen: "Zu der Frage der demokratischen Kultur gehört es, dass man zwischen CDU und Linken in Thüringen immer schon Drähte hatte, wenn es um das Land ging."
Plenarsitzung im Thüringer Landtag
Was Sie über die Landtagswahl in Thüringen wissen müssen
Als drittes ostdeutsches Bundesland in diesem Jahr wählt Thüringen am 27. Oktober einen neuen Landtag. Ob es wieder für eine rot-rot-grünen Landesregierung reicht, ist ungewiss. Sicher scheint nur: Auch in Thüringen ist die AfD auf dem Vormarsch.
Eine größere Rolle in der Bundesspitze der Linken lehnt Ramelow für sich ab. Er gebe aber gern Ratschläge als Vertreter der "Mutter aller Dreierkoalitionen", Rot-Rot-Grün. Im Wahlkampf ist Ramelow bereit, Parteigrenzen zu ignorieren und Werbung nicht nur für seine Partei, die Linke, sondern auch für SPD und Grüne zu machen. Denn gerade die SPD sei durch die Querelen in der Berliner großen Koalition geschwächt – obwohl sozialdemokratische Landespolitiker sich hoher Beliebtheitswerte erfreuten. Nur so sei es möglich, die rot-rot-grüne Koalition fortzusetzen.
Linke hat "höchste Ostkompetenz"
Im Interview der Woche des Deutschlandfunks erklärt Ramelow, dass die Linke nach wie vor die Kümmererpartei im Osten sei:
"Nach wie vor haben wir die höchste Ostkompetenz. Nach wie vor sind wir bei Hartz-IV-Beratungen in unseren Wahlkreisbüros offene Anlaufstationen. Das ist die AfD zu keinem Zeitpunkt gewesen", sagt Ramelow. Ihre Rolle als Protestpartei der Ausgegrenzten habe die Linke allerdings teilweise an die AfD abgegeben. Diese habe jedoch außer Geschrei nichts anzubieten.
Mehr Bundes-Institutionen in den Osten
Ramelow fordert, dass Bundes-Institutionen vordringlich im Osten angesiedelt werden müssten. "Solange immer selbstverständlich zuerst Baden-Württemberg oder Nordrhein-Westfalen den Zugriff haben, solange wie wir bei der Verteilungsfrage, wonach zuerst die ostdeutschen Länder zu bedienen seien, bis wir den bundesdeutschen Durchschnitt erreicht haben, solange fehlt der Respekt."

Henry Bernhard: Herr Bodo Ramelow, Sie stecken mitten im Landtagswahlkampf – schön, dass Sie Zeit gefunden haben für das Interview der Woche im Deutschlandfunk. Bleiben wir gleich beim Wahlkampf. In Thüringen hängen seit zwei Wochen die Wahlplakate. Alle Spitzenkandidaten verzeichnen darauf auch ihre Partei – nur Sie nicht. Sie werben mit Ihrem Namen und den Worten "Nähe, Verlässlichkeit, Offenheit". Machen Sie das, weil Sie es sich mit Ihrer Bekanntheit und Beliebtheit leisten können oder, weil Sie Ihr Parteilogo – die Linke – verstecken wollen?
Bodo Ramelow: Letzteres bestimmt gar nicht. Wir haben einen Blindtest dazu gemacht, wir haben nämlich Leute gefragt, die das Plakat angesehen haben, ob sie darauf das Parteilogo gesehen haben und alle haben es gesehen. Und Sie sehen, wenn Werbung so funktioniert, dann scheint es den Effekt zu erzielen, den wir erzielen wollen, nämlich ein Hingucker, eine Aufmerksamkeit, auch eine Unaufdringlichkeit, denn ganz klar, ich mache Werbung für Rot-Rot-Grün, ich werbe tatsächlich für drei Parteien.
Deutschland "braucht eine andere politische Kultur"
Henry Bernhard: Das heißt, Sie werben für drei Parteien, weil zwei Ihrer möglichen Koalitionspartner und auch jetzigen Koalitionspartner schwächeln.
Bodo Ramelow: Nein, ganz im Gegenteil. Sondern, weil ich überzeugt bin, dass Deutschland eine andere politische Kultur braucht. Mittlerweile sind sechs Parteien im Schnitt in den Parlamenten, das führt zu ganz neuen Situationen, also muss man lernen, damit umzugehen. Und ich war schon vor 15 Jahren überzeugt, dass Dreierkoalitionen eine gute, gelebte, neue politische Farbe wären und – das Besondere – man darf kein Koch- und Kellnerspiel, also der Starke diszipliniert den Schwächeren und der Schwächere wehrt sich dann irgendwann, sondern drei Parteien auf gleicher Augenhöhe. Das ist das Konzept und für die Verlängerung werbe ich bei den Wählerinnen und Wählern.
Henry Bernhard: Ja, zur Anzahl der Koalitionspartner kommen wir später noch mal. Vor fünf Jahren hat die CDU den Teufel an die Wand gemalt vor den Landtagswahlen. Thüringen sei dem Untergang geweiht, wenn ein Linker an die Macht kommt. Noch am Vorabend Ihrer Wahl zum Ministerpräsidenten gab es eine große Demonstration auf dem Domplatz. Ein halbes Jahr später hörte man von den verschiedensten Leuten: "Es ist alles wie früher, nur ohne CDU." Ärgert Sie das oder freut Sie das?
Bodo Ramelow: Das war meine Vorstellung, dass ich es schaffe, tatsächlich mit einer kommunikativen Art auf Menschen zuzugehen, die Probleme haben, die Lösungen suchen oder die mit neuen Ideen um die Ecke kommen – und den jeweiligen Menschen zu wertschätzen und nicht nach Parteibüchern zu gucken. Und genau das hat am Ende auch die Bestätigung gebracht. Ich habe von Unternehmern gehört: So nah an Unternehmern wäre ein Ministerpräsident noch nie dran gewesen. Und ich habe von Arbeitslosen gehört: So nah und so direkt an den Problemen – auch von Menschen, die sich ausgegrenzt fühlen und die auf eine neue Hoffnung setzen –, so nah dran wäre ein Ministerpräsident auch noch nicht gewesen. Und ich möchte genau das sein – nämlich ein Ministerpräsident zum Anfassen und keiner, der Parteibücher erläutert oder Parteiprogramme runterdekliniert. Das wollen die Leute nicht hören. Die wollen hören, was praktisch geschieht. Und wer mit mir dann politisch diskutieren will, auch parteipolitisch, das kann gerne geführt werden. Aber eben ein Streitgespräch, bei dem man den Inhalt durchdekliniert und sich nicht menschlich streitet.
Gesellschaft ist "in völlig falsche Richtung" gelaufen
Henry Bernhard: Aber als Linker haben Sie doch eigentlich einen weitergehenden Anspruch als bloß ein bisschen zu reformieren oder weiter so zu machen, wie es vorher lief.
Bodo Ramelow: Ich finde schon das Umsteuern auf ein anderes Modell ist schon deutlich mehr, als nur ein bisschen reformieren. Und die Grundherangehensweise ist eine sehr unaufgeregte, aber was ich will – zum Beispiel eine höhere Wertschätzung für Kinder und eine höhere Akzeptanz für Kinder in der Gesellschaft. Das heißt eben auch die Eltern zu entlasten und zu unterstützen, die Kinder großziehen, die sich für Kinder entscheiden. Dazu ist unsere Gesellschaft seit Jahrzehnten in die völlig falsche Richtung gelaufen, und wir stehen jetzt vor einer Situation, dass uns viele, viele junge Leute fehlen. Wir haben eine große Abwanderung nach der Wende gehabt, aber wir haben auch einen viel zu geringen Grad an Geburten gehabt, weil die Kinderfreundlichkeit nicht mehr so gegeben war. Also haben wir angefangen, dort die Ärmel hochzukrempeln, die Kindergartengebühren beitragsfrei zu stellen, damit Eltern nicht mehr gezwungen werden, bei einem Amt eine Bescheinigung zu holen, dass die Kindergartengebühren von ihnen nicht bezahlt werden müssen; oder die Einführung des Weltkindertages als Feiertag. Das sind so Maßnahmen, die einen Teil darstellen. Aber die Generallinie heißt: Bildung und Betreuung beitragsfrei.
Henry Bernhard: Ich würde noch mal beim Thema Reform bleiben. Die einzig wirklich große Reform, die Sie mit Ihrer Koalition vorhatten, war ja die große Verwaltungs- und Gebietsreform. Die ist fast vollständig gescheitert und bleibt weit hinter ihren Zielen zurück. Woran ist sie gescheitert? Am Innenminister von der SPD oder an den Menschen, die Ihrem Slogan "Gegen diese Reform kann man nicht sein", nicht folgen wollten?
Bodo Ramelow: Ich widerspreche Ihnen schon mal in der Analyse. Sie unterstellen einfach, sie sei gescheitert. Tatsächlich haben wir die Hälfte aller Bürgerinnen und Bürger in Thüringen, also 50 Prozent aller Einwohner, in einer neuen Gebietskulisse jetzt, und zwar über den freiwilligen Weg. Hätten wir den Zwangsweg gewählt, wären es auch nur die Hälfte gewesen, weil der andere Teil wäre ins Klageverfahren gegangen und in ähnliche Sachen. Das heißt, wir hatten uns verrannt in der Idee, das wir mit der Zwangsmaßnahme es alleine schaffen könnten. Und es gibt eine zweite Ebene, die haben wir falsch eingeschätzt. Das, was wir eigentlich wollten, die Verwaltung hinter der Gebietskulisse, also die Behörden, die Institutionen neu aufeinander zu zentrieren, damit sie leistungsfähiger werden und die Digitalisierung zu nutzen, damit der Mehrwert bei den Bürgern zu Hause ankommt, dass sie eben nicht mehr weit entfernt in irgendein Amt fahren müssen, das haben wir nicht mehr erklären können, weil wir mit der Digitalisierung nicht schnell genug vorangekommen sind, wie wir es uns gewünscht haben. Und deswegen ist das, was wir erreicht haben, deutlich mehr als eine gescheiterte Reform. Aber sie ist weniger in der Frage der Zwangsneuregelung und sie hat keine Kreisveränderung – die Landkreise sind nicht verändert worden. Da hatten wir gehofft, größere Einheiten zu bilden, das hat aber der Bürger nicht mehr verstanden. Das war am Ende mit Ängsten versehen. Die Menschen hatten das Gefühl, sie müssen immer weiter fahren: Jetzt geht auch noch die Kreisverwaltung weg, der Dorfladen ist schon weg, die Kneipe ist auch weg, beim Landarzt weiß man auch nicht, ob da entsprechende medizinische Versorgung noch kommt.
"Ich kämpfe für Rot-Rot-Grün"
Henry Bernhard: Die letzte Umfrage vor einer Woche zeigt die Linke mit 28 Prozent als stärkste Partei in Thüringen, gefolgt von der AfD und der CDU. Sie haben die CDU überholt, konnten Ihr Wahlergebnis von 2014 – wenn es denn so kommt, wie in den Umfragen – erhalten und dennoch reicht es wahrscheinlich nicht noch mal für Rot-Grün, weil SPD und Grüne schwächeln. Und die CDU scheint so schwach, dass auch sie keine mehrheitsfähige Koalition zustanden bringen könnte oder nur eine, die Partner vereinigt, die nur ein einziges, gemeinsames Ziel haben: Die AfD zu verhindern. Ist das zu wenig? Sie selbst haben ja gesagt, dass wir offen sein sollten für Minderheitsregierungen, gilt das auch für eine Minderheitsregierung unter Ihnen als Ministerpräsident?
Bodo Ramelow: Erst mal habe ich prinzipiell immer wieder gesagt, Minderheitsregierungen sind ein Thema, das in Deutschland immer als Schreckgespenst verstanden wird. Dabei ist es in nordischen Ländern ganz normal – in Schweden, Dänemark, Norwegen würde man sich bei dem Thema "Minderheitsregierung" überhaupt nicht erschrecken. In Deutschland erschreckt man sich immer sofort. Das habe ich aber schon seit vielen, vielen Jahren gesagt. Das habe ich auch gesagt, denn Dreierkoalitionen galten ja noch vor fünf Jahren als undenkbar. Ich bin – sozusagen – der Vertreter der Mutter aller Dreierkoalitionen. Und wir haben bewiesen, dass wir erfolgreich es hinbekommen. Wenn wir die Umfragewerte der Landesregierung nehmen, dann hat sie die höchsten, positivsten Werte in ganz Ostdeutschland. Das heißt, die Thüringer Landesregierung mit SPD und Bündnis 90/ Grüne und auch der Linken hat einen unglaublichen Ansehensgewinn in der Bevölkerung geschafft. Das haben die beiden Partner nicht – aktuell in den Umfragen nicht – geschafft, in ihre eigene Kraft umzumünzen, weil darüber die Bundesregierung hängt, weil dort Hausaufgaben nicht gemacht werden, weil man sich gegenseitig blockiert, dann teilweise überfordert, das strahlt auch aus. Und deswegen strebe ich aktuell keine Minderheitsregierung an, sondern ich kämpfe für Rot-Rot-Grün und ich bin überzeugt, fünf Jahre lang hatten wir nie eine Mehrheit für Rot-Grün, bei allen Umfragen. Also, insoweit schreckt es mich nicht, dass wir jetzt sechs Wochen vor der Wahl, auch keine Mehrheit haben. Ich sehe aber, wie viel Dynamik drin ist. Dass meine Partei, die zeitweise bei knapp 20 Prozent lag, es wieder geschafft hat auf 28 hochzugehen. Dass die CDU, die früher mal bei fast 50 Prozent lag, jetzt bei 22 Prozent liegt, das macht deutlich, die Wahlbewegungen sind sehr hoch; und ich setze alles daran, dass wir Rot-Rot-Grün den Handlungsauftrag erhalten.
"Erodieren aller Parteien"
Henry Bernhard: Wäre für Sie eine Koalition der Linken mit der CDU vorstellbar, wenn das Wahlergebnis so aussehen würde, dass keine andere sinnvolle Koalition möglich wäre?
Bodo Ramelow: Derzeit ist überhaupt keine Zeit und Gelegenheit, über solche Dinge zu spekulieren oder zu fabulieren. Deswegen heißt meine Antwort, ich kämpfe für Rot-Rot-Grün, ich kämpfe für Rot-Rot-Grün, ich kämpfe für Rot-Rot-Grün. Und zu der Frage der demokratischen Kultur gehört es, dass man auch zwischen CDU und Linker in Thüringen immer schon Drähte hatte, wenn es darum ging, dass es um das Land ging. Und als der NSU-Terror offenkundig wurde, war es so, dass Christine Lieberknecht alle an einen Tisch geholt hat, wir haben miteinander geredet; und am Ende der Legislatur, in der heißen Wahlkampfphase, hat der Landtag eine Unterbrechung des Wahlkampfes gemacht und hat allen Angehörigen der Opfer die Endergebnisse der Untersuchungsausschüsse vorgelegt. Das ist auch ein Teil der Stärke in Thüringen. Und deswegen schreckt es mich nicht, dass ein linker Ministerpräsident mit einem CDU-Fraktions- und Parteivorsitzenden auch über Themen redet. Aber, ich kämpfe für Rot-Rot-Grün, die CDU kämpft auch für eine bürgerliche Mehrheit, jeder muss jetzt seine Wählerinnen und Wähler mobilisieren. Und das hat sich in Brandenburg gezeigt, das hat sich in Sachsen gezeigt: In beiden Ländern sind trotz aller Prognosen, die Wählerbeteiligungen sind gestiegen, also ein Hinweis für eine Stärke einer Demokratie, beide Amtsinhaber sind bestätigt worden, haben einen Handlungsauftrag bekommen und beide Bundesländer können regiert werden. Ich gehe davon aus, dass es in Thüringen auch so sein wird, dass die vorherigen Ängste, Sorgen und Nöte im Wahlkampf sich dann auch darauf auswirken, dass die Menschen sicher entscheiden: Möchten sie, dass diese Regierung weiterarbeitet, dann haben sie drei Mal die Möglichkeit, das anzukreuzen.
Henry Bernhard: Bei den Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen – Sie sprachen sie grade an – im September ist die Linke massiv eingebrochen. Zur Europawahl ist sie überall eingebrochen – auch in Thüringen – das Wort "Katastrophe" machte die Runde. Der Bundestagsfraktionschef, Dietmar Bartsch sagte, es sei fünf vor zwölf für die Linke. Die Umfragen im Osten zeigen nur noch in Thüringen gewohnt hohe Zahlen für die Linke, zwischen 20 und 30 Prozent, und auch nur zur Landtagswahl. Geht die Linke als Gesamtpartei den gleichen Weg wie die Volksparteien CDU und SPD?
Bodo Ramelow: Wir haben doch ein Erodieren aller Parteien. Und wir haben ein Irrlichten einer einzelnen Partei. Und diese einzelne Partei – in diesem Falle AfD – ist nicht das erste Irrlicht in Deutschland. Das hatten wir vorübergehend mal mit der DVU, dann hatten wir es mal mit der PRO, dann hatten wir es mit der Schill-Partei und in den 60er Jahren in Westdeutschland hatten wir eine unglaublich starke NPD. Also, dass es eine Polarisierung gibt und dass die Frage von sich neu ordnenden Verhältnissen durch sechs Parteien, die mittlerweile wirken, dazu führt, dass jede Partei ihren eigenen Gebrauchswert überprüfen muss, das halte ich für selbstverständlich. Und den Niedergang meiner Partei, der ist uns jedes Jahr vorhergesagt worden. Das kenne ich schon seit 30 Jahren. Von daher ist die Frage, wer muss seinen Gebrauchswert wann selber bestimmen, jetzt aktuell auch bei meiner Partei. Und ich erlebe gerade in Berlin, wo das Thema Mietendeckel von unserer Senatorin, Katrin Lompscher, stark geprägt wird. Das brennt den Menschen in Berlin auf den Nägeln und ich merke interessanterweise, welche Substanz das auf einmal in München ausstrahlt oder in Frankfurt oder in Köln oder in Düsseldorf. Von daher ist ein linker Ansatz in Regierungsarbeit auch einer, der eine Ausstrahlung hat. Und besonders charmant finde ich, dass wir in Bremen jetzt die erste Regierung im Westen haben, wo die Linke mitregiert und die Senatorin für Wirtschaft ist die Vertreterin der Linken. Und siehe da, ich lese in den Lokalzeitungen dort immer wieder nur gute Berichte, dass die Wirtschaft nicht fremdelt und auch nicht diese Angst hat, die man vor fünf Jahren hier in Thüringen erzählt hat: Das scheue Reh Kapital verlässt fluchtartig Thüringen über den Rennsteig.
"Mein Herz hängt schon sehr an dieser Partei"
Henry Bernhard: Im Liebknecht-Haus in Berlin schaut man sehr genau auf Sie, auf Ihre Popularitätswerte in Thüringen. Sehen Sie sich in Verantwortung auch für die gesamte Linke im Bund?
Bodo Ramelow: Ich war immer schon verantwortlich für die gesamte Linke im Bund. Ich bin derjenige, der die Linke hat entstehen lassen. Ich war der Fusionsbeauftragte und Verschmelzungsbeauftragte zwischen der WASG und der PDS. Also, mein Herz hängt schon sehr an dieser gesamtdeutschen Partei. Ich bin der PDS damals beigetreten mit der klaren und auch schriftlichen Erklärung: Ich trete hier bei, um sie als gesamtdeutsche Partei zu stärken. Und das ist der Beitrag, den ich gerne bereit bin, bundesweit zu geben; aber ich strebe keine Funktionen in Bundesvorstand oder auf der Bundesebene in meiner Partei an – außer ab und zu mal einen Ratschlag oder eine gute Kooperationsebene, denn mehrere rot-rot-grüne Landesregierungen brauchen auch eine gute Koordination, und das war bis jetzt in Berlin die Thüringische Landesvertretung.
Henry Bernhard: Die SED und PDS, die Linke war ja immer die Kümmerer-Partei im Osten. Auch die Protestpartei für die, die sich benachteiligt fühlen im Osten. Diese Protestrolle hat nun zum guten Teil die AfD übernommen. Hat das Mitregieren der Linken in mehreren Bundesländern dazu beigetragen?
Bodo Ramelow: Wenn Kümmerer-Partei heißt, sich zu kümmern um die Alltagsprobleme der Menschen, die in die Sprechstunden der Partei kommen, dann ist das nach wie vor unser Markenzeichen. Nach wie vor haben wir die höchste Ostkompetenz, nach wie vor sind wir bei Hartz-IV-Beratungen in unserem Wahlkreisbüros offene Anlaufstation – das ist die AfD zu keinem Zeitpunkt gewesen. Sie bündelt im Moment eine gewisse Form von Protest, den wir früher mitgebündelt haben, es gibt nicht mehr diesen Versuch dieser martialischen Ausgrenzung, es gibt eine schleichende Ausgrenzung. Immer noch im Bundestag, im Bundesrat gibt es sie gar nicht. Die 16 Ministerpräsidenten arbeiten gut miteinander und da wird keiner – auch ich werde da nicht – ausgegrenzt. Und deswegen ist dieser Teil der Ausgrenzung nicht mehr identitätsstiftend, aber die Kümmerer-Partei, das sind immer noch unsere Wahlkreisbüros, das sind immer noch unsere Parteibüros, das ist immer noch der Zusammenhang da, wo mit Arbeitslosen geredet wird und Ähnlichem. Mit Verlaub, da habe ich noch nie einen AfD-Funktionär gesehen. Den erlebe ich nur, wenn es darum geht, gegen irgendwas zu protestieren, den Protest lauthals anzuführen oder laut zu brüllen "Merkel muss weg". Wenn aber nur das Dagegensein das Konzept ist, ist das meines Erachtens deutlich zu wenig, um damit Gesellschaft zu gestalten.
"Müssen uns immer wieder neu justieren"
Henry Bernhard: Die Wähler der Linken sterben schlicht weg, das kann man den Daten zur Wählerwanderung gut entnehmen. Das Milieu der in der DDR sozialisierten Genossen schwindet. Sie haben zwar auch jüngere Wähler – die hippen Großstädter –, aber bei den Mittelalten, so zwischen 45 und 65, gähnt zunehmend ein Loch. Ähnlich sieht es auch bei den Parteiaktiven aus. Können Sie der mittleren Generation kein Politikangebot machen?
Bodo Ramelow: Das war immer schon mein Thema. Das war auch die Begründung, warum ich die Linke habe in dieser Form entstehen lassen. Weil klar war, die klassische PDS-Milieubildung wird tatsächlich mit den Jahrgängen, die jetzt zum Friedhof gehen, nicht mehr zur Verfügung stehen. Und unsere eigenen aktiven Mitstreiter kommen nicht mehr auf die Leiter. Das heißt, wir haben ein höheres Spendenaufkommen, dass Menschen sagen: Wir würden gerne die Plakate selber hängen, wir können es aber einfach nicht. Und deswegen ist der Umbau unserer Partei ein wichtiges Thema. Wir haben es in Thüringen so gemacht, dass wir bewusst auf eine Teilung der Verantwortung setzen. Der Ministerpräsident hat keinerlei Funktion in der Partei. Und die Partei wird geführt von einer jungen Frau und von einem jungen Team. Das heißt, wir sind auch manchmal öffentlich nicht einer Meinung, denn die Partei muss sich eigenständig entwickeln und die Partei muss deutlich machen, dass sie diesen Veränderungsprozess auch hinbekommt.
Henry Bernhard: Gregor Gysi moniert, dass sich die Linke zu lange darüber gefreut habe, im Westen angekommen zu sein und dabei den Osten vernachlässigt habe. Teilen Sie diese Auffassung?
Bodo Ramelow: Ich glaube tatsächlich, dass wir eine gewisse Schwäche in Ostdeutschland haben, dort, wo wir unseren eigenen Gebrauchswert nicht neu justiert haben. Und jetzt kann ich es nicht den jungen Leuten dann in Hamburg oder in Bremen oder in Frankfurt zuweisen und sagen: Na ja, jetzt habt ihr euren eigenen Weg gefunden, und in Thüringen sind wir als Linke zu spüren über unsere Regierungsarbeit. In Brandenburg haben wir das Problem gehabt, dass wir einige Schwierigkeiten mit unserer eigenen Regierungsarbeit hatten. Und in Sachsen sind wir zerrieben worden am Ende zwischen einem starken Amtsinhaber, der von einer schwachen Position gestartet ist, wo alle gesagt haben, "Der schafft es nie!", und er hat es dann auf einmal geschafft, eine eigene Performance zu entwickeln. Und meine Partei ist auf einmal tatsächlich in der Polarität zwischen AfD und Kretschmer zerrieben worden. Und da erzählen mir auch Linken-Wähler und sogar Linken-Mitglieder, sie hätten zum ersten Mal taktisch gewählt. Nicht, weil sie politisch unbedingt bei der CDU das Kreuz machen wollten, sondern weil sie nicht wollten, dass Demokratieverächter auf einmal das Parlamentspräsidentenamt beanspruchen, indem sie stärkste Fraktion werden. Insoweit müssen wir uns immer wieder neu justieren und neu zentrieren, das ist aber eine Frage der eigenen Vitalität. Ich sehe uns da mitten im Prozess und bin da guter Dinge.
"Tut nichts aus Eigennutz, tut es um der Gemeinschaft Willen"
Henry Bernhard: Sie haben ja jetzt fünf Jahre Erfahrung als Ministerpräsident. Wie groß ist denn die Solidarität zwischen den Ostministerpräsidenten, unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit?
Bodo Ramelow: Wenn es um Grundsatzfragen geht, sind wir wirklich eine zusammengeschweißte und miteinander verbundene, verwobene Gruppe von Akteuren. Und deswegen kämpfe ich nicht gegen Sachsen, wenn was zu entscheiden ist, sondern ich kämpfe mit Sachsen und da gibt es eine hohe Gemeinschaft. Und das hat bisher immer funktioniert, dass unser Wort zumindest nicht vom Tisch gewischt werden konnte. Meistens wird es nicht gehört, weil man dann so tut: Ach, die Jammer-Ossis sind wieder da. Und das finde ich als das eigentlich Verletzende. Dass wir nicht rumjammern, sondern wir erwarten den Respekt, den der Bundestag beschlossen hat, dass der auch eingehalten wird. Und wenn es dann heißt, das Batterie Forschungszentrum geht nicht nach Sachsen, sondern geht nach Wuppertal, dann ist das zwar nett für Wuppertal, aber eigentlich nicht zu vereinbaren mit dem Bundestagsbeschluss, dass so lange die neuen Länder zu beteiligen sind, wenn sie die Voraussetzungen haben – und bei Batterie Forschung haben wir die Voraussetzungen. Insoweit war das eine Missachtung des mitteldeutschen Raums. Und so lange Bundesentscheidungen so geführt werden, dass immer irgendwie selbstverständlich zuerst Baden-Württemberg oder Nordrhein-Westfalen den Zugriff hat, so lange wie wir bei der Verteilungsfrage, dass zuerst die neuen Länder zu bedienen sind, bis wir überhaupt auf dem westdeutschen Durchschnitt sind, so lange wir das immer wieder einfordern müssen, so lange fehlt der Respekt.
Henry Bernhard: Sie haben ja Ihren recht pragmatischen Politikansatz schon beschrieben vorhin, Sie sprechen auch von "Gebrauchswert" der Partei, ist das nicht in so einer ideologiefreudigen Partei wie der Linken ein bisschen wenig für manche Leute?
Bodo Ramelow: Das kann ja sein. Aber ich bin ja auch bekennender Christ. Das ist für manch einen in meiner Partei schon ganz schön zu viel. Und ich sage immer, ich kann den Teil Ideologie von Marx auch erklären, indem ich in die Bibel schaue und mal erkläre, was Paulus seinen Gemeinden geschrieben hat – nämlich: Tut nichts aus Eigennutz, tut es um der Gemeinschaft Willen. Und da ist mir egal, dass das Karl Marx später alles noch mal verdichtet hat und daraus eine komplette Wissenschaft entwickelt hat, die allerdings nicht zu verwechseln ist mit dem, was hinterher als Marxismus und Leninismus dann in die Welt gekommen ist oder auf dieser Basis dann der Stalinismus zu einer Diktatur der schlimmsten Art geführt hat, und zwar zu einer mörderischen. Und deswegen sage ich, ich bin diskussionsfreudig, aber ich habe keine Lust, den ganzen Tag meine Karl-Marx-Schriften mit mir rumzutragen und sie zu zeigen.
Henry Bernhard: Sie sprachen jetzt über Solidarität, Sie sprachen über die Bibel – was unterscheidet Sie von einem Sozialdemokraten?
Bodo Ramelow: Es gibt Gründe, ehrlich gesagt, warum ich viele Jahre meines Lebens nicht in die SPD eingetreten bin. Mit der SPD verbunden ist eben auch das Kämpfen um Rechte. Ich habe nur eine SPD in meiner Jugend erlebt, bei der immer der Automatismus war: Wenn du aktiver Gewerkschafter warst, warst du zwangsweise in der SPD. Und diesen netten Zwang, den habe ich abgelehnt. Das hat irgendwann auch zu der Frage geführt, ob ich hauptamtlich werde oder nicht, denn es lag immer neben meinem Arbeitsvertrag schon der SPD-Aufnahmeschein. Und den einen habe ich unterschrieben, den anderen nicht. Und da bin ich ziemlich stur bei solchen Sachen. Und dann gab es einige Dinge, die mich auch verletzt haben. Und eine politische Zäsur ist das Berufsverbote-Thema in Westdeutschland; und letztlich hat das ja auch dazu geführt, dass ich dann 30 Jahre Belästigung durch das Bundesamt für Verfassungsschutz erleben durfte, ohne dass ich es wusste. Und deswegen sage ich: Ich rede einerseits über eine abstrakte Partei, und ich rede über konkrete Erfahrungen. Und das hat mich lange abstinent sein lassen von jeder Partei. Und mein Eintritt in die PDS war erst – und auch das hat wieder was mit SPD zu tun –, als der Militäreinsatz gegen Serbien losging, als die deutsche Bundeswehr Bomben in Serbien geworfen hat. Das empfand ich als eine sehr große Herausforderung für mich, denn es war eine SPD-Bundesregierung. Und ich habe erlebt, wie SPD-Bundestagsabgeordnete emotional dabei in die Knie gegangen sind.
"Menschenleben retten ist die oberste Aufgabe"
Henry Bernhard: Ihre Nachfolgerin im Thüringer Fraktionsvorsitz, Susanne Hennig-Wellsow, wirbt mit dem Slogan: "Bodo oder Barbarei" – für Sie, Bodo Ramelow, als würde mit einem Wahlerfolg der CDU und deren Spitzenkandidaten Mike Mohring eine Barbarei über Thüringen hereinbrechen. Trägt die Linke damit nicht zur Spaltung der Gesellschaft bei, die sie selbst beklagt?
Bodo Ramelow: Sie ist die Fraktionsvorsitzende und es ist in einer Rede von ihr dieser Satz gefallen – zugespitzt – und er hat mir nicht gefallen. Trotzdem, wir erleben gerade einen Konflikt, der mich sehr verwundert hat: Horst Seehofer als Bundesinnenminister, den ich sehr schätze und mit dem ich häufig über Fragen wie Flüchtlingspolitik und Ähnliches mich direkt auseinandergesetzt habe, und ich habe ihn mehrfach jetzt auch in seiner Eigenschaft als Bundesinnenminister besucht und mit ihm über Möglichkeiten geredet, wie wir in der Flüchtlingspolitik einfach zu einfacheren und besseren Lösungen kommen, dieser Horst Seehofer hat jetzt gesagt, dass wir bereit seien, ein Viertel der auf See geretteten Flüchtlinge aufzunehmen. Damit hat Deutschland ein wichtiges Signal nach Europa gegeben. Frankreich hat sofort erklärt: Wir sind auch bereit, so viel zu übernehmen wie Deutschland. Das heißt, wir hätten schon die Hälfte des Themas endlich mit einer europäischen Lösung verbunden und dann stellt sich Herr Mohring hin – der CDU Partei- und Fraktionsvorsitzende – und sagt, er kritisiert das. Und daraufhin antwortete Horst Seehofer, dass er es nicht versteht, warum er sich rechtfertigen muss, dass er Menschenleben rettet. Und in dem Zusammenhang muss man einfach mal sagen, ich – auch als gebundener Christ – sage: Menschenleben retten ist die oberste Aufgabe, die wir haben. Und darüber dann eine wahltaktische Äußerung zu tätigen, dass man sagt, wenn Horst Seehofer einen so mutigen Schritt öffentlich geht, dann ihn dafür zu kritisieren: Damit bedient er die AfD und den rechten Rand und die Stammtische, das fand ich erstaunlich. Unangenehm. Und es hat mich sehr negativ berührt.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.