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Tibeter erzählen

13 Autorinnen und Autoren sind in der neuen Tibet-Anthologie von Alice Grünfelder vertreten. Sie schreiben auf Englisch, Tibetisch und Chinesisch, sie leben in den USA, Indien, in der Schweiz und in der Autonomen Region Tibet, und was sie alle verbindet, ist ihre Herkunft.

Von Martin Zähringer | 10.02.2010
    Die tibetische Literatur, wie sie sich hier erstmals im ganzen Spektrum zeigt, ist also keine geschlossene nationale Angelegenheit. In den USA und Indien etwa schreiben und wirken politisch solche Aktivisten wie Palden Gyal, 1968 in Osttibet geboren, 1989 nach Indien geflohen und heute in Washington für das Radio Free Asia tätig. Er ist mit einer chinakritischen Erzählung aus der Zeit der Okkupation in den 1950er-Jahren vertreten. Jamyang Norbu, geboren 1949, trägt mit einem Essay über seine Entwicklung zum Schriftsteller unter den Bedingungen der kulturellen und politischen Unterdrückung bei. Er war als Guerillakämpfer gegen die Chinesen aktiv. Es gibt aber nicht nur die sozusagen westliche Fraktion der Tibetliteratur in dieser Anthologie. Dazu Alice Grünfelder:
    "Dann gibt es eben Tibeter, die auf Tibetisch schreiben, das ist also die moderne tibetische Avantgarde. Die moderne tibetische Literatur, die auf Tibetisch geschrieben wird, ist wirklich am Blühen. Das ist unglaublich, was da in den letzten zwanzig Jahren entstanden ist. Es gibt Dutzende von tibetischen Literaturzeitschriften, also weniger in Zentraltibet als in der tibetischen Provinz Amdo oder in der chinesischen Provinz Xinghaj. Das ist interessant bei diesen Geschichten, die sind so verschlüsselt geschrieben, die sind zum Teil so surrealistisch oder hermetisch, dass man sie auf den ersten Blick oftmals nicht gleich versteht. "

    Zum Beispiel die stimmungsvolle Geschichte von den Schneekindern des bekannten Filmemachers und Autors Pema Tseten. Hier geht es in märchenhaft-surrealem Ton um zwei Geschwister, deren Körper durchsichtig sind und die aufgrund dieses Phänomens in die Mühlen der medialen Sensationsverwertung geraten. Die Erzählung mag dem westlichen Leser verklärt und mystisch erscheinen, aber Alice Grünfelder erkennt in derart hermetischen Schreibweisen konkrete literarische Überlebensstrategien. In ihrem ausführlichen Nachwort zitiert sie zu dieser Frage den übrigens sehr lesenswerten Sinologen Francois Jullien:

    Hinter der Verschwommenheit der Bilder hört derjenige, der genau hinhört, genug, um sie zu verstehen, und derjenige, der nicht spricht, sagt nicht zu viel, um nicht sein Leben aufs Spiel zusetzen. Bis heute übt die Poesie eine politische Funktion aus, die darin besteht, einen Sinn durchscheinen zu lassen, der nicht anders ausgedrückt werden könnte, ohne den zu gefährden, der ihn formuliert.

    Der ebenfalls tibetisch schreibende Tsering Döndrup kommt deutlicher zur Sache. Seine nüchtern-realistische Erzählung "Ralo" zeigt das Beispiel eines Verlierers, der nicht mit der Zeit in chinesischem Takt Schritt zu halten lernt. Die Menschen, die das gar nicht erst versuchen wollen – wie etwa die Exiltibeter - scheinen in der tibetischen Literatur nicht das primäre Thema darzustellen. Autoren die in Tibet und somit in China leben und schreiben, entwickeln Optionen jenseits des klassischen Antagonismus China versus Tibet. Oft genug geraten sie dennoch mit der herrschenden Macht in Konflikt, auch wenn sie kulturell und sprachlich assimiliert sind:

    "Und dann gibt es noch die dritte Gruppe, das sind tibetische Autoren, die auf Chinesisch schreiben. Und das ist auch ganz unterschiedlich, angefangen bei Alai, der sich in seinem Text sehr stark mit der Identität auseinandersetzt, also immer so zwischen den Stühlen zu sitzen, Tibeter und Chinese zu sein oder eben nicht zu sein, bis hin zu Tsering Öser die seit 2003 Arbeits- und Publikationsverbot hat in China, in Peking immer wieder unter Hausarrest lebt und sich daher kritisch mit der chinesischen Herrschaft, aber auch mit der tibetischen Gesellschaft auseinandersetzt. Also auch durchaus selbstkritische Töne anschlägt, sie hat auch einen Blog und ist sehr aktiv, aber sie steht unter strenger Beobachtung."

    Tsering Öser hat mittlerweile drei Romane in Taiwan publiziert. In ihrer Kurzgeschichte geht es um eine junge tibetische Studentin, die sich mit ihrem Cousin und seinen Freunden zu einem Wochenendtrip ins tibetische Hochland aufmacht. Dort gerät die Buddhistin an die Grenzen ihrer Toleranz, gegenüber den eigenen ignoranten Landsleuten aus der Stadt. Tsering Öser gilt in den USA als die tibetische Autorin, hierzulande schreckt offenbar ihr zu wenig eindeutiges Profil ab. Anders ist es mit Alai, er hatte mit seinem Tibet-Roman "Roter Mohn" einen internationalen Erfolg. Alai ist mit einer autobiografischen Kurzgeschichte vertreten. Hier geht es um Fragen der Identität und der kulturellen Zugehörigkeit:

    In einem Land und in einer Gesellschaft, die von einem ein Bekenntnis verlangt, zu welcher Nationalität man gehört, kann man nur zu einem Volk gehören. Obwohl verschiedenes Blut in meinen Adern fließt und ich fühle, dass ich zu beiden Seiten gehöre und sowohl Tibeter als auch Chinese bin, muss ich mich doch für ein Volk entscheiden.

    Der Tibeter mit chinesischem Großvater kommt nicht so ohne Weiteres zu seiner Entscheidung, führt die Leser stattdessen zurück in seine Kindheit im Dorf und erzählt eine klassisch-postkoloniale First-Contact-Geschichte. Hier tritt der erste Chinese im tibetischen Dorf auf – der Großvater als junger Mann, vom Erzähler mit fast ethnografischer Neigung als das Fremde an und für sich porträtiert. Danach kommt die erste chinesische Lehrerin mit all den zauberhaften Utensilien der Zivilisation wie einer Mundharmonika und einem Plattenspieler. Am Ende steht ein Ticket in die Provinzhauptstadt Chengdu, wo der begabte Junge studieren darf. Aber er muss die eigene Sprache opfern.

    In Chengdu lebt auch der Schriftsteller Alai, der sich früh für die chinesische Sprache entschieden hat und Teil des großen chinesischen Kanons wurde. Poetologisch lässt sich Alai von den Größen der Weltliteratur anregen, thematisch bewegt er sich immer in tibetischem Gebiet. So auch in der jetzt als eigenes Buch publizierten Erzählung "Ferne Quellen". Das Genre heißt im Chinesischen Zhongpian Xiaoshuo, etwa Erzählung mittlerer Länge, in der poetologischen Konzeption erinnert sie mit ihrer naturphilosophischen Symbolik und den wechselhaften Spannungsbögen an eine klassische deutsche Novelle. Das ästhetische Konzept stammt jedoch von Yasunari Kawabata, der im Text mehrfach genannt wird und der in seinen Büchern selbst zum Motiv der japanischen Badekultur geschrieben hat. Alais Novelle von den fernen Quellen Tibets basiert auf Kawabatas Idee, dass durch die Suche und Erkenntnis der reinen Schönheit seelische Harmonie erreicht werden könne. Damit einher gehe jedoch die Erkenntnis, dass der Verlust dieser Schönheit nicht zu vermeiden sei. Es geht hier um ferne Heilquellen im tibetischen Grasland, nach denen sich ein alter Pferdehirte und zwei Dorfjungen in ihrer Kindheit gesehnt hatten. In der Wirklichkeit finden sie dann später nur verlorene Illusionen. Der Ich-Erzähler, zu jener Zeit als Propagandafotograf tätig, kommt einmal sehr nah an den Traum heran und badet wirklich in den Quellen:

    So durchlief ich Zyklus um Zyklus, als hätte ich seit Anbeginn der Welt nie etwas anderes getan, tauchte unter, ließ mich von der Wärme und Weichheit des Wassers umfangen, von einem unentwegt wogenden Licht, wenn ich die Augen öffnete, und von einer dichten, summenden Dunkelheit, wenn ich sie schloss. Mein Leben war einfach geworden, frei von Leid und grauen Erinnerungen.
    Aber nachhaltig ist dieses Erlebnis nicht. Der Traum von den Fernen Quellen endet damit, dass der ehemalige Dorfkamerad Tschampa als Funktionär und Provinzchef das Paradies in eine Betonwüste verwandelt. An diesem Kulminationspunkt wird das poetologische Vorhaben der Novelle deutlich: die Verbindung japanisch-sensualistischer Ästhetik mit einem konkreten zeitkritischen Anliegen, der gedankenlosen Umweltzerstörung in Tibet. Alai steht zu solchen adaptiven Verfahren, aber er lässt sich immer wieder etwas Neues einfallen und kommt zu eigenen Ergebnissen.

    Alice Grünfelder (Hg): Flügelschlag des Schmetterlings. Tibeter erzählen. Aus dem Tibetischen: Franz Xaver Erhard. Aus dem Englischen und Chinesischen: Alice Grünfelder. Unionsverlag 2009, 253 Seiten. 16,90

    Alai: Ferne Quellen. Aus dem Chinesischen von Marc Hermann. Unionsverlag 2009, 160 Seiten. 14,90