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Tibetische Enklave in Delhi
Zwischen Abgrenzung und Anpassung

Mitten in Delhi hat sich in den sechzig Jahren des tibetischen Exils eine kleine tibetische Enklave etabliert. Doch anders als oft angenommen sind die Tibeter in Indien nur wenig integriert. Bis heute führen die meisten von ihnen ein von der indischen Gesellschaft abgegrenztes Leben.

Von Benedikt Schulz | 13.06.2019
Exiltebeter beten in Majnu-ka-tilla für den amtierenden Dalai Lama
Exil-Tibeter beten in Majnu-ka-tilla für den amtierenden Dalai Lama (Deutschlandradio / Benedikt Schulz)
Im Norden von Delhi: eine stark befahrene Straße, der übliche Verkehrslärm der indischen Hauptstadt. Doch nur wenige Meter weiter beginnt eine andere Welt.
Von der breiten Hauptverkehrsstraße führen enge Gassen mitten hinein nach Majnu-ka-tilla, eine Wohnkolonie am Fluss Yamuna. Wie vielerorts in Delhi sind die Häuser hier so eng aneinandergebaut, dass man kaum den Himmel sehen kann. Wie überall hängen Stromkabel in dicken Knäueln in der Luft. Doch Majnu-ka-tilla ist trotzdem kein gewöhnliches Viertel. Hier, in dieser kleinen Stadt in der Stadt leben praktisch nur Tibeter. Und das seit fast 60 Jahren.
Beten für den Dalai Lama
Nach wenigen Minuten, die man den verschlungenen Wegen folgt, vorbei an kleinen Trödelgeschäften mit tibetischen Souvenirs und zahlreichen Gebetsmühlen, erreicht man einen kleinen lichten Platz, über den die Bewohner eine farbenfrohe Plane gespannt haben. An diesem Morgen haben sich hier rund 80 Personen eingefunden, die zum Großteil auf Decken am Boden sitzen und tibetische Gebete singen.
"We will do prayers for his Holiness long life, for the betterments of all human being all here."
Sie beten hier für den amtierenden vierzehnten Dalai Lama, sagt diese Einwohnerin von Majnu-ka-tilla. Das religiöse Oberhaupt des tibetischen Buddhismus und bis vor wenigen Jahren auch der politische Führer der Exiltibeter liegt in diesen Tagen im April mit einer Lungenentzündung in einem Krankenhaus in Neu-Delhi. Eine Woche lang wolle man deswegen jeden Morgen von 7 Uhr bis 9 Uhr morgens beten.
Während noch gebetet wird, verteilen einige Männer und Frauen einen scharfen Kartoffeleintopf und Fladenbrot, dazu Po Cha, tibetischen Buttertee. Sowohl der Platz als auch die meisten Wege in Majnu-ka-tilla sind deutlich sauberer als das restliche Delhi, wo Müll an jeder Straßenecke liegt.
Aus der kleinen Siedlung wurde eine Stadt
Dies hier sei früher eine Mülldeponie gewesen, meint Sonam Dorje, ein buddhistischer Mönch aus Majnu-ka-tilla. Die Tibeter hätten dann angefangen, hier sauberzumachen und sich einzurichten.
Sonam Dorje selbst ist erst vor 15 Jahren aus Tibet geflohen und lebt seitdem in Majnu-ka-tilla. Doch die ersten Tibeter kamen bereits im Zuge des Tibetaufstands 1959 und dem Beginn des tibetischen Exils nach Indien. Die indische Regierung hatte ihnen damals das Land zugeteilt.
Anfangs sei das nur eine kleine Siedlung gewesen, die aber in den nunmehr sechs Jahrzehnten immer weiter gewachsen sei, sagt Dorje. Inzwischen lebten weit mehr als 300 Großfamilien hier, etwa 3.000 Menschen. Sie hätten sich hier eine eigene Infrastruktur aufgebaut – in der die tibetischen Einwohner sich gegenseitig helfen.
Viele Exiltibeter sind staatenlos
Dorje entstammt einer tibetischen Nomadenfamilie, eine Schule hat er nie besucht. Mit 15 Jahren wollte er ins Kloster, erzählt er, wollte Mönch werden und alles über den Buddhismus lernen. Doch in Tibet selbst sei das nicht möglich gewesen, dort habe man den Buddhismus nicht wirklich lernen können, ist er überzeugt. Deswegen habe er sich schließlich zur Flucht entschlossen. Doch tibetische Flüchtlinge hätten es nicht leicht in Indien, meint er. Vor allem: Sie bekämen keinen indischen Pass. Weswegen viele von ihnen in dem Land, in dem die tibetische Exilregierung ihren Sitz hat, praktisch staatenlos sind. Warum das so sei? Dorje macht Andeutungen, die indische Regierung wolle sich wohl nicht zu weit aus dem Fenster lehnen – wegen China. Zumindest, sagen Experten, seien die Tibeter in Indien nicht immer willkommen - etwa der der in Frankreich lebende Tibetologe Thierry Dodin:
"Wissen Sie, wir haben die Idee, dass die Inder die Tibeter mit offenen Armen aufgenommen haben, ihnen goldene Brücken gebaut haben, das ist auch oft die Sicht, die man davon hat in Indien übrigens, das ist niemals so gewesen. Den Dalai-Lama hat man gern entgegengenommen aus historischen, kulturellen Prestigegründen. Das darf man nicht vergessen. Und es gibt besonders im Umkreis des Außenministeriums Leute oder ganze Kreise, die die ganze tibetische Flüchtlingsproblematik als nachteilig für Indien empfinden, weil sie denken, es wäre wichtiger für Indien sich mit China zu arrangieren, als sich um die paar Tibeter zu kümmern. Und interessanterweise hat sich das schon in den fünfziger Jahren so entwickelt."
Traditioneller und moderner Buddhismus
Insgesamt gehe es den Tibetern in Indien vergleichsweise gut. Aber: das gelte vor allem für diejenigen, die schon in zweiter oder dritter Generation hier leben, also hier geboren sind – und die zum Beispiel relativ problemlos die indische Staatsbürgerschaft beantragen könnten. Außerdem:
"Die indische Umwelt ist nicht gerade fremdenfreundlich; und als Tibeter steht ihnen das ins Gesicht geschrieben, dass sie nicht nach Indien gehören, so sieht es jedenfalls die Mehrheit. Egal ob sie länger in Indien gelebt haben als sie, ihr ganzes Leben. Und das ist ein Problem, womit nicht nur Tibeter zu kämpfen haben, sondern viele Minderheiten."
So leben die tibetischen Buddhisten als geschlossene Gruppe in Indien ohne wirklich Teil der indischen Gesellschaft geworden zu sein. Doch an ihrer religiösen Praxis ist das Exil nicht spurlos vorübergegangen, ganz im Gegenteil, meint der Tibetologe.
"Der Buddhismus ist wahnsinnig anpassungsfähig, die Grundlehren, zu denen man sich bekennt, als Buddhist sind ziemlich einfach und einleuchtend. Und sie sind transkulturell sage ich mal. Ich habe in der ganzen Welt buddhistische Zentren besucht und wenn Sie in Deutschland sind, haben Sie sehr deutsche Buddhisten. Wenn Sie in Amerika sind, werden Sie erstaunt sein, wie amerikanisch sie sind, gehen sie nach Taiwan, sie werden unglaublich chinesisch sein. Es steht ja im Buddhismus drin, in den heiligen Schriften, dass man die Lehre anpassen muss. Dieser Pragmatismus ist sehr, sehr stark ausgeprägt. Und natürlich hat sich der Buddhismus geändert. Gleichzeitig leben im Exil sehr traditionelle extrem traditionelle Formen des Buddhismus und ultramoderne. Meistens geht das gut."
Tibetische Identität in unterschiedlichen Welten
Anders als die tibetischen Flüchtlinge haben viele jüngere Tibeter Tibet selbst nie gesehen – und es ist in der herrschenden politischen Lage auch nicht wahrscheinlich, dass sie es jemals werden besuchen können. Ihr Leben, ihr ganzer Alltag spielt sich in Indien ab, das gilt auch für die Tibeter von Majnu-ka-tilla. Und dennoch, meint der Tibetologe Dodin, die exiltibetische Identität sei enorm mächtig.
"Ganz klar. Die sehen sich als Tibeter, die in Indien leben müssen. Auch wenn die meisten mittlerweile Tibet gar nicht mehr kennen aus erster Sicht, auch wenn sie de facto natürlich sich stark akkulturiert haben. Sie müssen sich anpassen, wenn sie in Indien geboren sind und nicht der Oberschicht angehören, das tun die meisten ja nicht, da sind sie natürlich irgendwie vom kulturellen Mainstream beeinflusst. Und die gleichaltrigen tibetischen Flüchtlinge und Tibeter in Tibet, auch in Lhasa haben natürlich ganz andere Erlebniswelten mittlerweile, das ist ja normal. Tibeter sind auch nur Menschen. Dennoch fühlt sich jeder auch, wenn er sich wohl in Indien fühlt, man fühlt sich in erster Linie als tibetischer Flüchtling. Dieses Bewusstsein, Flüchtling zu sein, nach Tibet zu gehören ist sehr, sehr, sehr stark sogar."
Und auch innerhalb der tibetischen Gemeinde, auch innerhalb der tibetischen Enklaven in Indien leben Unterschiede fort, meint Dodin. Je nachdem, aus welcher Region Tibets die jeweilige Familie stamme, habe man eine eigene Kultur, eigene Geschichte, eigene Dialekte.
In Majnu-ka-tilla führt Sonam Dorje durch seinen kleinen Tempel, der sich direkt am Platz befindet. Dorje glaubt nicht, dass es irgendwann ein unabhängiges Tibet geben wird, dass er irgendwann seine Religion in seiner Heimat wird ausüben können. Er, der seine Heimat verließ, um den tibetischen Buddhismus zu lernen, wird selbst nie wieder nach Tibet zurückkehren. Er hat keinen Pass und hat keine Aussichten auf ein Visum in China. Und er wird seine Eltern, wie er sagt, vor ihrem Tod nicht mehr sehen.