Archiv


Tierische Erziehung

Nicht immer war die Biene Maja so niedlich wie in den Zeichentrickfilmen: Die vor 100 Jahren erstmals erschienene Romanvorlage von Waldemar Bonsels ist völlig humorfrei - und mündet in der Erkenntnis, dass das Leben aus nichts anderem besteht als Fressen und Gefressenwerden.

Von Burkhard Müller-Ullrich | 01.09.2012
    Zwei Jahre vor Beginn des Ersten Weltkriegs erschien dieses Buch, vier Jahre vor Verdun, doch es klingt bereits nach dem Kommenden, jedenfalls im Schlusskapitel "Die Schlacht der Bienen und Hornissen". Da werden Treue zum Volk und Tapferkeit der Soldaten beschworen, da wird massenhaftes Sterben im Kampf geschildert, und da ist vom "glühenden Verlangen, den alten Todfeinden mit ganzer Kraft zu begegnen" die Rede. Gewaltverherrlichung für Kinder ab sechs.

    Auch der Rest ist nicht ohne, wie die meisten Kinderbücher früher: angefangen mit Grimms Märchen, die von Gewaltexzessen und Kannibalismus strotzen, über Wilhelm Buschs Brutalo-Comics bis zum Struwwelpeter, den ein medizinisch gebildeter Vater für seinen dreijährigen Sohn gezeichnet und getextet hat. "Die Biene Maja" ist allerdings im Gegensatz zu einigen der vorgenannten Werke völlig humorfrei. In einem Ton süßlicher Manierlichkeit erzählt Waldemar Bonsels die Abenteuer der kleinen Ausreißerin, die allesamt in die Erkenntnis münden, dass Leben in nichts anderem besteht als Fressen und Gefressenwerden.

    Dazu dient in erster Linie die tierische Perspektive. Sie hat in der Literatur eine lange Tradition. Von Äsop über Lafontaine bis zu Orwell haben Dichter immer wieder Tierfiguren mit menschlichen Eigenschaften ausgestattet, um damit Menschliches, Allzumenschliches in umso größerer Deutlichkeit zu zeigen. Es ging um Fragen der Moral - gewissermaßen in Reinkultur. Bei Waldemar Bonsels hingegen geht es vor allem um Tatsachen der Biologie, gewissermaßen unter Weglassung der Moral. Seine "Biene Maja" erschien nur zwölf Jahre nach Nietzsches Tod und 30 Jahre nach dem von Charles Darwin, dessen Schriften über die nahe Verwandtschaft zwischen Tier und Mensch das Selbstbewusstsein der Menschheit tiefgreifender und nachhaltiger ankratzten als irgendeine andere wissenschaftliche Lehre.

    Seitdem gibt es zwei gegenläufige, aber vom Prinzip her ähnliche Bewegungen im abendländischen Denken: Die eine versucht den biologischen Determinismus, dem die Tiere unterliegen, auf die Menschenwelt auszudehnen, wobei es zunächst gleichgültig ist, ob dieser Determinismus eher auf einem genetischen Code oder eher auf Verhaltensprogrammierung durch das jeweilige Umfeld beruht. Die andere Denkbewegung zielt darauf ab, die ganze ethische Ausstattung des Menschen in die Tierwelt zu übertragen.

    So arbeiten Juristen daran, die Tiere als Rechtssubjekte anzuerkennen; ein Platz im deutschen Grundgesetz wurde dem Tierschutz schon vor zehn Jahren eingeräumt. Diese Aufwertung der Tiere zu essbaren Mitbürgern hat zweifellos belustigende Effekte. Doch es spiegeln sich darin sowohl die individuelle Seelennot alleinstehender Tierhalter in anonymen Stadtwohnungen als auch die herrschende philosophische Desorientierung in Bezug auf das Wesen des Menschen. Wegen der Stammzellenforschung wissen wir nicht mehr, wann der Mensch anfängt, Mensch zu sein, und durch die Sterbehilfediskussion wird immer fraglicher, wann er damit aufhört. Auch der religiöse Glaube an einen göttlichen Schöpfungsplan schwindet - und damit die klare Vorstellung von der Stellung des Menschen in der Gesamthierarchie.

    Zwischen der Vermenschlichung von Tieren und der Vertierung der Menschen besteht ein sachlicher und historischer Zusammenhang, dessen furchtbarste Ausprägung im Nationalsozialismus zutage trat. Nicht von ungefähr wurde das weltweit erste Tierschutzgesetz 1933 in Deutschland verabschiedet. Da war Waldemar Bonsels 53 Jahre alt und, dank Biene Maja, ein wohlhabender Mann. Dass er sich dann den Nazis an den Hals warf, hatte allerdings wohl weniger ideologische Gründe als lebenspraktische: Er hoffte, seinen erworbenen Wohlstand zu sichern und unbehelligt von SA-Stiefeln genießen zu können - ein paar schlechte Erfahrungen hatte er mit ihnen auch gemacht.

    Dass opportunistische Anbiederung nichts nützt, hätte er freilich seinem eigenen Buch entnehmen können. Da reden Insekten zwar in wohlgesetzten und höflichen Worten, aber mit automatenhafter Seelenlosigkeit davon, dass immer eins das andere umbringt. Übrigens fehlen Majas niedliche Begleiter Willi und Flip, die man von der Zeichentrickserie kennt, bei Bonsels völlig. Dafür sind seine Figuren biologisch korrekter dargestellt: Vom Rosenkäfer bis zum Weberknecht und von der Libelle bis zur Wanze bieten alle Beteiligten mit ihren meist makabren Ernährungsgewohnheiten wenigstens ordentlichen Naturkundeunterricht.


    Mehr zum Thema:

    Das Insekt, an dem kaum ein Dichter vorbeikam
    Kritik: "Das Lied vom Honig" von Ralph Dutli (DKultur)