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Tim Parks: Thomas & Mary
Langsame Entfremdung eines ganz normalen Paares

Wir kennen wohl alle ein Paar wie Thomas und Mary. Es ist die Geschichte der langsamen Entfremdung bis hin zum letzten Schritt: der Trennung. In seinem Roman bringt uns Tim Parks das Paar so nahe, dass es uns den Atem stocken lässt. Nicht erbaulich, aber sehr real.

Von Johannes Kaiser | 05.02.2018
    Buchcover "Thomas and Mary"
    Buchcover "Thomas and Mary" von Tim Parks (Verlag Harvill Secker / picture alliance/dpa/Foto: Hinrich Bäsemann / combo: Deutschlandradio)
    Romane über gescheiterte Beziehungen und zerbrechende Ehen gibt es viele. Nun hat sich auch der englische Schriftsteller Tim Parks dem Thema zugewandt, allerdings bewusst etwas anders als üblich:
    "Es sollte kein normaler Roman mit einer offensichtlichen Geschichte werden, die bei A beginnt und bei B endet und den Leser in ständig wachsende Spannung versetzt. Vielmehr wollte ich einen Roman schreiben, der ein bisschen mehr wie eine Ehe selbst ist, wie eine riesige gotische Kathedrale mit Sachen hier und dort. Keiner kann sich wirklich mehr daran erinnern, was eigentlich passiert ist und wie es dazu kam, dass es heute so schlecht steht."
    Zufällig gemeinsam ins Bett
    Nein, Tim Parks hat keinen dieser dramatischen Ehescheidungsromane vorgelegt, in denen Rosenkriege, Gerichtsprozesse, wütende Abrechnungen auf die Tränendrüsen drücken. Sein neues Buch zeichnet vielmehr die allmähliche Entfremdung in 30 Jahren Ehe nach, das Auseinanderleben, den Verlust von Nähe und Vertrautheit, das Erkalten der Liebe. Und weil eben dies ein langsamer Prozess ist, gibt es in seinem Roman keinen großen Knall, kein besonderes Ereignis, das zu einem abrupten Ende der Ehe von Thomas und Mary führt. Es ist eine schleichende Entwicklung und nichts charakterisiert sie so gut wie gleich das zweite Kapitel des Buches "Bettzeiten".
    "Was mich interessiert, ist die Frage, wie lange kann man eine Routine, die eigentlich ganz angenehm ist, durchhalten, obwohl man weiß, dass sie leer und fade ist. In der Geschichte 'Bettzeiten' arrangieren die beiden das Zubettgehen so, dass sie während der Woche immer zu unterschiedlichen Zeiten ins Bett kommen. So sind sie nie gleichzeitig im Bett, auch wenn sie im selben Bett schlafen, bis dann die Nacht kommt, in der sie zufällig gleichzeitig Zubettgehen. Sie sind plötzlich enorm verlegen und beschämt. So was passiert in Beziehungen."

    In Thomas und Marys Alltagsleben kommt es zwar immer wieder zu Auseinandersetzungen, aber sie haben sich doch so aneinander gewöhnt, dass sie echten Konflikten aus dem Weg gehen.
    Tim Parks , aufgenommen am 13.10.2012 auf der 64. Frankfurter Buchmesse in Frankfurt am Main.
    Tim Parks , aufgenommen am 13.10.2012 auf der 64. Frankfurter Buchmesse in Frankfurt am Main (picture-alliance / dpa / Arno Burgi)
    Puzzleteile mit Lücken
    Tim Parks beschränkt sich auf einige Ausschnitte aus dem gemeinsamen Leben seiner Protagonisten, zeichnet nicht chronologisch die gesamte Ehezeit nach. Er springt in den Zeiten hin und her, erinnert einmal an die Anfänge und schaut dann in die Zukunft, erwähnt Ereignisse, die erst später eintreten wie zum Beispiel Thomas' Auszug aus dem gemeinsamen Haus.
    Zudem hören wir nicht nur Thomas zu, sondern auch einer seiner Geliebten, denn Thomas geht ständig fremd. Ein Tennispartner diskutiert mit ihm über seine Affären. Ein allwissender Erzähler schildert uns, wie es Thomas Mutter im Hospiz ergeht, denn sie hat Krebs im Endstadium, und wie Thomas damit nicht umgehen kann. Aus über zwei Dutzend kleineren und größeren Geschichten, die alle für sich stehen, in sich abgeschlossen sind, setzt sich langsam ein Bild zusammen.
    Und doch fehlen dem Puzzle Einzelstücke, so dass Lücken bleiben, weiße Flecken. Das ist durchaus Absicht: "All diese Geschichten werden zusammengebracht, überlappen einander, sprechen zueinander, sodass es eine Art von Chronologie gibt in dem Sinne, dass der ganze Roman in dem Augenblick beginnt, als Thomas seinen Ehering verliert, und er endet in dem Augenblick, in dem er offenkundig getrennt von seiner Frau lebt. Aber zwischendurch ist es mehr wie ein Kaleidoskop, wo sich die Geschichten überlappen, ineinandergreifen."
    Mary bleibt ein Rätsel
    Auffällig an dieser Geschichte einer scheiternden Ehe ist allerdings, dass alle nur über Mary reden, sie selbst aber nie zu Wort kommt. Tim Parks hat ihr bewusst keine Stimme verliehen.
    "Ich wollte die Geschichte von verschiedenen Gesichtspunkten aus erzählen, mal in der dritten Person, mal in der ersten Person. Es gibt zwar ein Kapitel, das von Mary erzählt wird, aber dann stellt sich heraus, dass hier Thomas versucht hat, Marys Geschichte aufzuschreiben. Die Basis für die ganze Geschichte ist ein grundlegendes Unverständnis. Wenn ich Marys Standpunkt in das Buch mit aufgenommen hätte, gäbe es nicht die gewünschte Verwirrung. Es war wichtig, dass jemand in der Geschichte ein totales Rätsel bleibt und das ist Mary."
    Tim Parks schildert uns Thomas als konfliktscheuen Mann, der sich weder im Berufsleben noch zuhause traut, klar Stellung zu beziehen. Seine Affären mit jüngeren Frauen wirken wie eine Flucht vor sich selbst. Er stürzt sich in den Sex, um sich zu vergessen, scheut aber dann vor zu viel Nähe zurück. Dass er so handelt, wie er handelt, scheint ein Ergebnis seiner Erziehung zu sein. Das jedenfalls legt uns Tim Parks nahe, der Thomas Eltern als fundamentalistische Christen schildert, die versucht haben, ihn, seinen Bruder und seine Schwester streng religiös zu erziehen. Während sich der Bruder total verweigerte, die Schwester zu einer Art frommer Betschwester mutierte, machte sich Thomas klein, gab sich als braves, gehorsames Kind, das keine Widerworte gab. Das ist so geblieben und führt ihn schließlich zu einer Psychotherapeutin.
    Die Ähnlichkeiten gescheiterter Ehen
    Genauso wenig wie Thomas weiß, was er wirklich will, hin und her schwankt, so ist auch der Leser bis zum Ende unsicher, wie die Geschichte tatsächlich endet. Tim Parks verweigert ein eindeutiges Ende nicht zuletzt, weil er darauf besteht, seine Protagonisten nicht viel besser zu kennen als wir, auch wenn sie seine Geschöpfe sind. Er findet ein offenes Ende durchaus passend.
    "Ich hoffe, dass das Buch eine Art von ruhigem Humor hat und einem das Gefühl gibt, dass man solche Situationen überleben kann und dass eine Erzählung nicht unbedingt in eine Katastrophe münden muss. Viele westliche Geschichten, also ernsthafte Erzählungen, basieren auf der Vorstellung, dass es am Ende zu einer Katastrophe kommt. Oder wir wenden uns der Literatur zu, die uns ein Happy End verspricht - auch wenn wir wissen, dass es so ein Happy End in so einem Roman nicht wirklich geben kann. Ich wollte keine dieser beiden Varianten nehmen, vielmehr zeigen, dass all das passieren kann und unsere Figur am Ende immer noch da ist und handelt und das Leben geht weiter. Das ist doch gar nicht so übel. Auch wenn sich beide, Thomas und Mary gegenseitig viel angetan haben, so empfindet man am Ende des Buches, dass es zwar schlimm war, aber jetzt vorbei ist."
    Auch wenn es sicherlich zutrifft, dass jedes Unglück einer Familie einzigartig ist, so gilt doch ebenfalls, dass jede gescheiterte Ehe Ähnlichkeiten aufweist. Wir alle kennen Ehepaare wie Thomas und Mary. Tim Parks bringt uns die beiden so nahe, dass uns ihre Entfremdung bisweilen den Atem stocken lässt. Kein erbauliches Buch, dafür umso wahrer.

    Tim Parks "Thomas & Mary"
    Übersetzung: Ulrike Becker, Verlag Antje Kunstmann, 22 Euro