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Timothy Garton Ash: "Redefreiheit"
Sich im Streit etwas zutrauen

Warum übertriebene "politische Korrektheit" eine Gefahr für eine lebendige Demokratie ist, damit setzt sich der Historiker Timothy Garton Ash in seinem neuen Werk "Redefreiheit. Prinzipien für eine vernetzte Welt" auseinander. Er plädiert für einen zivilen Dialog ohne Angst vor Tabus. Sonst drohe der kritische Diskurs zu erstarren.

Von Kersten Knipp | 31.01.2017
    Der Historiker Timothy Garton Ash.
    Hassreden müsse man mit den Mitteln der Argumentation angehen, nicht mit den Mitteln des Staates, schreibt Historiker Timothy Garton Ash in seinem neuen Buch. (picture alliance / dpa / Henning Kaiser)
    Es gibt da diesen Song, von Nina Simone. "I wish I knew how It would feel to be free" heißt er, ein Stück aus dem Jahr 1963, als die schwarze Bürgerrechtsbewegung gegen den Rassismus in den USA kämpfte. Ein Lied über politische Freiheit, die gleichzeitig eine persönliche Freiheit ist, denn wer sich politisch nicht äußern kann, ist auch in seinen Persönlichkeitsrechten eingeschränkt. Etwa dem der freien Äußerung, dem Wunsch, sich mitzuteilen. "I wish you could know what it means to be me" heißt es in dem Stück von Nina Simone weiter, frei übersetzt: "Ich wünschte, du könntest wissen, was es für mich bedeutet, ich selbst zu sein."
    Paradox von grenzenloser Kommunikation und Echokammer-Effekt
    Zu wissen oder überhaupt nur zur Kenntnis nehmen, wie der andere sich fühlt: Das ist für den Historiker Timothy Garton Ash eine der grundlegenden Leistung des zivilen Dialogs. Eines Dialogs, dessen Teilnehmer bereit und willens sind, den je anderen zu verstehen. Das Projekt ist anspruchsvoll: Den anderen als Anderen, vielleicht sogar als Fremden zur Kenntnis zu nehmen, als Menschen, der so, wie er eben ist und sein will, als Menschen, der mir fremd ist und womöglich fremd bleibt. Trotz dieser Fremdheit – die sich vielleicht, aber garantiert ist es nicht, überwinden lässt – im Gespräch zu bleiben: Das, zusammengefasst in den Zeilen von Nina Simone, ist für Garton Ash eine der größten Anforderungen an die zeitgenössische Kommunikation. Eine Kommunikation, die dank digitaler Medien keinerlei Grenzen mehr kennt. Eine solche Kommunikation, beobachtet er in seinem Buch "Redefreiheit. Prinzipien für eine vernetzte Welt", sei aber eher Ausnahme als Regel. So viel Fremdheit war nie, könnte man angesichts der entgrenzten Kulturkontakte sagen. Und das, erklärte er, treibe viele Menschen dazu, sich kulturell einzuigeln, sich zu verschließen – mit teils fatalen Folgen.
    "Es ist ein Paradox: Gerade weil das Internet so viele Plattformen anbietet, so viele Orte, wo man öffentlich reden kann, wir alle dazu tendieren, in diese Echokammern zu gehen. Und das kann unter Umständen auch lebensgefährlich sein. Beispielsweise der norwegische Massenmörder Anders Behring Breivik hat sich offensichtlich radikalisiert an ein paar extrem anti-islamischen Websites. Das ist ein klassisches Beispiel für den Echokammer-Effekt, der letztlich zum Mord an vielen jungen Norwegern geführt hat. Das ist der Gegensatz von dem, was in der Demokratie sein soll."
    Verstehen, was es für den anderen bedeutet, er selbst zu sein
    Behring Breivik ist ein besonders krasses Beispiel dafür, wie sehr sich Kommunikation in den letzten Jahren radikalisiert hat. Auch am Beispiel des politischen Islam verweist Garton Ash auf einen Diskurs, der alle Vorgaben der Zivilisation hinter sich gelassen hat. Zu verstehen, was es für den anderen bedeutet, er selbst zu sein: Dieser Versuch endet da, wo der Andere seinem Selbst auf Kosten anderer Menschen – sei es ihrer Freiheit, sei es sogar ihres Lebens, Ausdruck zu verschaffen versucht.
    Darüber hinaus sei der freie Selbstausdruck nicht mehr legitim. Entsprechende Verbote muss der Staat mit seinen Mitteln durchsetzen. Doch vor dieser in gewisser Weise absoluten Grenze gibt es eine weitere: Jene, die Anstand und Feingefühl voraussetzen. Man muss nicht alles sagen, was man sagen darf. Aber auch hier, im Bereich der Abwägung, ist Missbrauch möglich. Dann etwa, wenn sich andere durch Äußerungen Dritter "verletzt" fühlen – "verletzt" in Anführungsstriche gesetzt, weil die tatsächliche oder womöglich nur behauptete Verletzlichkeit in den letzten Jahren so gestiegen ist. Das ist etwa der Fall, wenn, wie geschehen, Jura-Studentinnen der Universität Harvard verlangen, das Thema Vergewaltigung müsse aus dem Lehrplan gestrichen werden, weil es Traumata wiederbeleben könnte. Solche Forderungen, sagt Timothy Garton Ash, stellen ihrerseits eine Bedrohung der Redefreiheit dar. Auch darum sollten Menschen überlegen, was sie sagen.
    "Robuste Zivilität" - ein Schlüsselbegriff in Ashs Buch
    "Dass wir das Recht haben, etwas zu sagen, heißt bei Weitem nicht, dass wir auch die Pflicht haben, das zu sagen. Die Zivilisation beruht eben darauf und auch die Demokratie beruht darauf, dass wir viele Dinge das Recht haben zu sagen, aber es nicht sagen. Weil wir nicht unnötigerweise beleidigen oder hetzen oder psychologischen Schaden anrichten wollen. Die Frage ist, wie bekommt man diese Mischung hin, die ich die robuste Zivilität nenne."
    "Robuste Zivilität" ist ein Schlüsselbegriff in Ashs Buch. Robust ist Zivilität zum einen, wenn sie sich nicht selbst zensiert, sich nicht mit überzogenen Bedenken selbst blockiert. Es ist eine Zivilität, die dem Anderen etwas zumutet, ihn aber nicht verletzt, schädigt oder bedroht. Politische Auseinandersetzungen können eben hart sein. Nur das verleiht ihnen die nötige Klarheit. Robust ist eine Zivilität aber auch dann, wenn sie seitens der Angesprochenen mit solcher Härte rechnet und sie erträgt. Argumente zur Sache sind legitim, auch dann, wenn sie zugespitzt formuliert sind. Ist Zivilität in diesem Sinn nicht robust, droht der kritische Diskurs zu erstarren. Ash gibt in seinem Buch ein Beispiel für die Folgen einer übersteigerten Empfindlichkeit.
    Zitat: "Wenn das Christentum (wie im traditionellen europäischen Recht) gegen Blasphemie geschützt ist, warum nicht der Islam? Wenn der Islam, warum nicht auch Scientology? Wenn Homosexualität, warum nicht auch Bisexualität, Transgender und Intersex? Wenn fett, warum nicht auch dünn? Wenn alt, warum nicht auch jung?"
    Es ist offensichtlich: Verletzte oder auch nur verletzt sich gebende Subjektivität kann kein Grund sein, Kritik zu unterbinden. Verletzbar oder auch nur reizbar ist letzten Endes jeder und jede. Und das wiederum heißt, wir sollten immer dann skeptisch sein, wenn es heißt, eine Rede sei verletzend.
    "Diese Ozeane, riesige Ozeane von sogenannter Hassrede – ein sehr schwammiger Begriff – wenn ich sage, die Engländer sind gierig, hässlich, eifersüchtig und dumm: Ist das Hassrede? Ich weiß es nicht. Dies sollten wir mit den klassischen liberalen Mitteln der Gegenrede, der Argumentation, der robusten Zivilität angehen, und nicht mit den Mitteln des Staates."
    Zuviele Tabus in der Zuwanderungs-Debatte
    Was sagbar ist und was nicht, ist eine Frage, die Tag für Tag neu ausgehandelt wird. Eben darum kann und darf sie, abgesehen von Aufrufen zur Gewalt und Ähnlichem, nie abschließend beantwortet werden. Denn geschähe das, drohten viele Dinge unsagbar zu werden. Als Beispiel nennt Timothy Garton Ash die Diskussion um die Zuwanderung in Deutschland. Belegt mit vielerlei Tabus, zwinge sie die Diskutanten zu äußerster Vorsicht, bisweilen sogar dazu, Kritik aus Furcht vor möglichen Sanktionen überhaupt nicht zu äußern. Das, so Garton Ash, habe dann dazu geführt, dass ein, "wirklich schlechtes Buch", nämlich Thilo Sarrazins "Deutschland schafft sich ab", zu einem so großen Bestseller werden konnte. Der Grund: Das Buch artikulierte, was viele sich nicht zu sagen getrauten. Dabei hätten die Bedenken artikuliert werden müssen, gerade im Sinn einer robusten Zivilität. Denn auf der öffentlichen Tribüne hätte die Auseinandersetzung mit ihnen womöglich zu einer ganz anderen Bewertung der Sachlage führen können.
    "Redefreiheit" von Timothy Garton Ash ist ein außergewöhnlich kluges, außergewöhnlich komplexes Buch. Der Autor macht es sich nicht leicht, und er macht es auch dem Leser nicht leicht. Vor allem beugt sich der Autor nicht den Sprachregeln der political correctness. Im Gegenteil führt er vor Augen, was passiert, wenn immer größere Teile der Sagbaren nicht mehr sagbar sein sollen. Die Gesellschaft würde erstarren. Und am Ende würde man, Stichwort Sarrazin, Zeuge einer Wiederkehr des Verdrängten. Respektable Ideen kämen daher, als hätten Trolle sie formuliert. Dem Anderen mitzuteilen, wie man sich fühlt – das würde immer schwieriger. Die Anmut, mit der Nina Simone dieses Anliegen ausdrückt, wäre dann nicht mehr als eine Erinnerung an Zeiten, die sich in der Kunst ebenso wie im Streit noch Einiges zutrauten.