Donnerstag, 28. März 2024

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Tiroler Verkehrslandrätin zu Grenzschließungen
"Sehr unglücklich über die kurzfristige Entscheidung"

Aus Sorge vor Einschleppung der Corona-Mutanten gelten in Deutschland verschärfte Einreisekontrollen aus Tschechien und Tirol. Die Tiroler Verkehrslandrätin Ingrid Felipe hält die Grenzschließungen nicht für die richtige Lösung, um das Virus zu bekämpfen. Zudem sei die Entscheidung zu kurzfristig getroffen worden, sagte sie im Dlf.

Ingrid Felipe im Gespräch mit Philipp May | 16.02.2021
Bundespolizisten kontrollieren die Dokumente von aus Österreich kommenden LKW- und PKW-Fahrern an der Autobahn A93 bei Kiefersfelden in Richtung Deutschland. Die verschärften deutschen Einreiseregeln an der Grenze zum österreichischen Bundesland Tirol zum Schutz vor gefährlichen Varianten des Coronavirus sind in der Nacht zu Sonntag in Kraft getreten.
An der Grenze zwischen Deutschland und der Österreich staut es sich seit der Grenzschließung (dpa/picture alliance/Matthias Balk)
Tschechien und Tirol weisen hohe Fallzahlen der Mutanten auf - nach Deutschland einreisen dürfen daher nur noch Menschen mit Aufenthaltsgenehmigung. Ausnahmen gibt es allerdings - beispielsweise für Fernfahrer oder medizinisches Personal - jedoch nur mit einem aktuellen negativen Corona-Test. Nun stauen sich die LKW in Tschechien und am Brenner in Südtirol nach Österreich an den Grenzübergängen.
Zwei Bundespolizisten kontrollieren die Dokumente von Reisenden an der Autobahn A93 bei Kiefersfelden in Richtung Deutschland.
Fragen und Antworten zu den Grenzkontrollen
An den Grenzen der Bundesrepublik Deutschland zu Tschechien und zum österreichischen Bundesland Tirol gelten schärfere Einreiseregeln. An den entsprechenden Grenzübergängen wird streng kontrolliert.
Sie verstehe zwar die Sorge vor der Ausbreitung der Coronavirus-Mutanten, jedoch seien Grenzschließungen nicht die richtige Lösung, um den Erreger zu bekämpfen, sagte die Tiroler Verkehrslandrätin Ingrid Felipe (Die Grünen) im Deutschlandfunk: "Die Grenzen zu schließen, stellt alle Verantwortlichen in allen Regionen an dieser Strecke vor riesige Herausforderungen."
Zudem sei die Entscheidung in Berlin ziemlich kurzfristig getroffen worden, ohne die Nachbarländer entsprechend vorzubereiten. Mit etwas Vorlauf hätte man gemeinsam Maßnahmen entwickeln können, erklärte die Grünen-Politikerin. Sie sagte aber auch: " Ich glaube, dass es nicht dienlich ist, um diese Herausforderungen und diese schwierige Zeit zu bewältigen, dass man sich gegenseitig Schuldzuweisungen macht, Dinge über die Medien ausrichtet."
Philipp May:: Sind Sie sauer auf die deutsche Bundesregierung?
Ingrid Felipe: Sauer ist der falsche Begriff. Ich kann die Sorge um die Virus-Varianten sehr gut verstehen, sehr gut teilen. Wir sind ja selber hier in unserem Bundesland sehr betroffen davon und tun das Unsrige dazu mit testen, testen, testen, tracing und einer Vielzahl von Maßnahmen, um die Mutante, aber auch das Corona-Virus generell einzudämmen.
Ich glaube nicht und fühle mich da auch im Konzert mit vielen anderen Politikerinnen und Politikern und Verantwortlichen, dass Grenzschließungen im gemeinsamen Europa die Lösung sind, um das Virus zu bekämpfen. Dieses Thema beschäftigt ja nicht nur Tirol in der Zusammenarbeit mit Deutschland, sondern auch Tschechien, mittlerweile auch Frankreich. Das ist ein gemeinsames Anliegen, dass wir dieses Virus ohne Grenzschließungen bewältigen können.
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"Brennerachse ist die wichtigste Nord-Süd-Verbindung"
May: Wobei die Grenzen nach Frankreich ja noch nicht dicht sind. Und auch andere Länder in Europa haben immer mal wieder während dieser Corona-Pandemie ihre Grenzen temporär geschlossen, um einen Corona-Ausbruch zu verhindern beziehungsweise einen Eintrag gering zu halten.
Felipe: Ja. Das hat aber leider auch nur mittelfristig gewirkt, beziehungsweise denke ich, dass gerade in einem grenzüberschreitenden Bereich, wie wir es jetzt in der Nachbarschaft zu Bayern haben, das noch viel stärkere Implikationen hat als vielleicht anderswo. Durch die gemeinsame Sprache ist das Tiroler und das bayerische Inntal extrem eng verwoben, auch der Bezirk Reutte und das Allgäu. Da gibt es sehr viele Grenzpendlerinnen und Pendler.
Günther Platter (Österreichische Volkspartei, M), Landeshauptmann von Tirol, spricht auf einer Pressekonferenz im Landhaus zu den aktuellen Entwicklungen zum Coronavirus in Tirol zwischen Ingrid Felipe (Die Grünen – Die Grüne Alternative), zweite Landeshauptmann-Stellvertreterin in Tirol, und Edelbert Kohler, Landespolizeidirektor Tirol. Österreich führt zum Schutz vor einer weiteren Ausbreitung des neuartigen Coronavirus Stichproben-Kontrollen für Einreisende an der Landesgrenze ein.
Ingrid Felipe (Die Grünen – Die Grüne Alternative) ist zweite Landeshauptmann-Stellvertreterin in Tirol und Verkehrslandrätin (dpa/picture alliance/Matthias Balk)
Und natürlich gibt es durch das Tiroler Inntal, durch das Wipptal auch sehr viel Transitverkehr. Die Brennerachse ist die wichtigste Nord-Süd-Verbindung. Und da die Grenzen zu schließen, stellt alle Verantwortlichen in allen Regionen an dieser Strecke vor riesige Herausforderungen. Deswegen war ich, sagen wir, unglücklich über die sehr rasche Entscheidung, sehr kurzfristige Entscheidung der deutschen Bundesregierung, Tirol auf diese Virus-Variantenliste zu setzen, weil wir nur sehr kurz Zeit hatten, die Vorbereitungen zu treffen, so dass wir da keinen Verkehrskollaps im Inntal, aber auch zum Beispiel in Südtirol erleiden.
Die verschärften deutschen Einreiseregeln an den Grenzen zu Tschechien und zum österreichischen Bundesland Tirol zum Schutz vor gefährlichen Varianten des Coronavirus sind in der Nacht zu Sonntag in Kraft getreten
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May: Aber, Frau Felipe, ist das nicht gerade eine der Lehren aus dieser Pandemie, dass man schnell und gerade kurzfristig entscheiden muss und beherzt entscheiden muss, um möglicherweise zum Beispiel den Eintrag dieser sehr gefährlichen Virus-Variante aus Südafrika nach Deutschland zu verhindern?
Felipe: Selbstverständlich! Da haben Sie recht. Man muss schnell und konsequent handeln. Aber es ist auch sehr sinnvoll, wenn man mit den Nachbarn spricht und wenn man die Maßnahmen gemeinsam entwickelt. Wie gesagt: Am Freitag kam die Entscheidung der Bundesregierung. Wir haben auf der, wenn ich das so sagen darf, Vollzugs- und Verwaltungsebene über das Wochenende durchgearbeitet, mit den bayerischen Kollegen, mit den österreichischen und mit den Südtiroler Kollegen, und haben die Maßnahmen umgesetzt. Das waren zwei Tage.
"Das ist auch besser für die Nachbarschaft"
May: Aber reichen diese zwei Tage nicht aus?
Felipe: Ja! Aber günstig wäre, wenn wir das im Vorfeld machen und nicht zuerst verordnen und über die Medien mit starken Sprüchen, die, glaube ich, auch sehr viele Bürgerinnen und Bürger von Politikern aus allen Ecken und Enden dieser Region nicht mehr hören können, wenn man das nicht mit starken Sprüchen ankündigt, sondern man vorher überlegt, wie man es macht, und dann gemeinsam umsetzt. Dann ist das auch besser für die Nachbarschaft.
May: Starke Sprüche, damit meinen Sie Vorhaltungen gegenüber Tirol grundsätzlich bei der Pandemie-Bekämpfung?
Felipe: Ich meine tatsächlich auch Kollegen aus meinem Bundesland, die sich nicht immer mit ihren Meldungen ausgezeichnet haben. Rund herum beobachte ich in der letzten Zeit, es ist sehr viel mit markigen Sprüchen gearbeitet worden. Ich wünsche mir von Politikern – und ich gendere das ganz bewusst nicht, weil es sind vorwiegend Männer -, ich wünsche mir von den Politikern, von den Verantwortungsträgern in jeglicher Region ein Abrüsten der Worte. Die Situation ist schwierig genug. Die Menschen sind verunsichert. Wir sind alle Pandemie-müde und wir brauchen Worte der Ermutigung und des Zuspruchs und nicht Schuldzuweisungen und markige Sprüche.
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May: Wenn Sie jetzt sagen, auch aus Ihrem Bundesland, meinen Sie damit Tirol, oder meinen Sie Österreich als Ganzes? Österreich selbst hat ja auch Tirol zumindest teilweise abgeriegelt. Auch da kommt man jetzt nur ins übrige Land mit einem negativen Corona-Test.
Felipe: Tatsächlich meine ich Politiker aus Tirol und Politiker aus Österreich. Ich glaube, dass es nicht dienlich ist, um diese Herausforderungen und diese schwierige Zeit zu bewältigen, dass man sich gegenseitig Schuldzuweisungen macht, Dinge über die Medien ausrichtet. Ich bin eine Politikerin, die sich an den Verhandlungstisch setzt, Lösungen sucht, und so ist es uns auch gelungen, jetzt übers Wochenende die Maßnahmen an der Brenner-Route weitestgehend so abzustimmen, dass wir kein Verkehrschaos, weder in Deutschland, noch in Tirol, noch in Südtirol, haben.
Es gibt Einschränkungen. Ja, es ist für die Pendlerinnen und Pendler tatsächlich bis heute noch nicht klar, wer von Tirol aus zu seinem Arbeitsplatz nach Bayern pendeln darf. Das finde ich auch bedauerlich für die bayerischen Betriebe. In die andere Richtung nach Tirol herein funktioniert es mittlerweile besser. Glücklicherweise konnten wir auch die Frage des kleinen und deutschen großen Ecks, wie es bei uns heißt, klären. Aber diese Dinge hätte man im Vorfeld machen können und machen sollen. Dann hätten wir die Menschen nicht so sehr verwirrt und viele auch nicht so sehr verärgert.
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"Bedarf an unerfreulichen Maßnahmen"
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Wenn ich das richtig verstanden habe, ist es eigentlich eher die B-Note, um es mal so zu formulieren, und es ist die etwas zu kurzfristige Ansage. Aber die grundsätzliche Maßnahme, dass man jetzt Tirol etwas abschottet, aufgrund der sehr gefährlichen Virus-Mutationen, die stellen Sie nicht in Frage?
Felipe: Die B-Note ist eine wunderbare Formulierung. Tatsächlich geht es um die. Ich kann sehr gut verstehen, dass man mit diesen Virus-Varianten besonders achtsam, besonders klar kontrollieren und testen will. Das tun wir ja in Tirol auch. Und erfreulicherweise haben wir zurzeit eine Sieben-Tages-Inzidenz von 73. Das stimmt uns zuversichtlich und wir werden diesen sehr achtsamen und auch in Tirol sehr strengen Weg weiter einhalten.
Ja, es gibt den Bedarf an unerfreulichen Maßnahmen in der Bekämpfung der Pandemie. Wünschenswert ist, dass wir nachbarschaftlich zusammenarbeiten und uns nicht gegenseitig das Leben noch schwerer machen, als es eh schon ist.
Coronavirus
Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
May: Da fällt mir in diesem Zusammenhang eine Frage noch ein. Könnte es möglicherweise auch sein – ich kann Ihnen diese Frage nicht ersparen -, dass die Ereignisse des letzten Frühjahrs, Stichwort Ischgl, auch dazu beigetragen haben, dass diese B-Note, um es noch einmal so zu formulieren, das heißt die Vorhaltungen Richtung Tirol etwas rumpliger ausfallen, einfach weil das Vertrauen in Ihr Bundesland bei der Pandemie-Bekämpfung europaweit nicht mehr so da ist?
Felipe: Das wird einer der Gründe sein, warum man größere Sorge hat, wenn in Tirol Ereignisse auftreten. Ich möchte aber sagen, wir haben im vergangenen Jahr nach diesen Ereignissen von Ischgl ja sofort eine unabhängige Untersuchungskommission eingesetzt, haben da auch Lehren daraus gezogen, und versuchen, die Lektionen umzusetzen und zu übersetzen. Wir machen einiges vieles anders als damals und deswegen ist es nachvollziehbar, dass wir uns dieses Vertrauen wieder erarbeiten müssen.
Aber glauben Sie mir: Auch uns als Verantwortungsträger*innen in Tirol ist es ganz, ganz wichtig, für die Menschen, die in Tirol leben, unsere Nachbarn und allen, die in Europa unterwegs sind, dass wir sie vor diesem Virus schützen. Wir versuchen es und beobachten natürlich auch, dass niemand nirgendwo ein Patentrezept hat, wie man mit dem umgehen kann. Aber ja, ich verstehe natürlich, dass man da noch mal kritischer hinschaut.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Er sagte: "Seehofer muss sich fragen lassen, warum es nach einem Jahr Pandemie noch nicht gelungen ist, zu einer gemeinsamen, koordinierten Strategie zu gelangen, um die Pandemie in den Griff zu bekommen und man stattdessen immer Adhoc zu Maßnahmen greift, die für die Pendler und kleinen und mittelständischen Unternehmen für Chaos sorgen."