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Tobias Roth: "Grabungsplan"
Lyrische Tiefenlotung im klassischen Altertum

Der Lyriker Tobias Roth liebt die Antike, ihre Renaissance und den späteren Klassizismus. Und er sieht in allem Gegenwärtigen auch das Vergangene. Seine Gedichte im Band "Grabungsplan" sind hochgelehrte und doch federleichte Texte, die zu intellektueller Tiefengrabung einladen.

Von Katharina Borchardt | 17.07.2018
    Buchcover: Tobias Roth: "Grabungsplan"
    Buchcover: Tobias Roth: "Grabungsplan" (Buchcover: Verlagshaus Berlin, Foto: imago stock&people)
    Es "träumen alle vom Süden", schreibt Tobias Roth in seinem neuen Gedichtband. Ganz besonders er selbst, möchte man hinzufügen. Vom europäischen Süden. Von Italien, dem klassischen vor allem, aber auch dem heutigen. Denn was soll man in einem Norden mit seinen abgezirkelten Neubausiedlungen, seinen rechtwinkligen Bürotürmen und dem ewigen Frost?
    "Ich gehe einfach fort
    aus euerm nordischen Wahnsinn.
    Ich fühle Stein Zwischen Pflanzen
    im Akanthus sich öffnen
    und so halte ich es weiterhin."
    "Häuserflucht" heißt dieser Text, und man kann den Titel wörtlich nehmen. Der Lyriker Tobias Roth ist tatsächlich losgefahren. Über die Alpen führt der Weg in seinem neuen Gedichtband "Grabungsplan". Erste Station: Mantua in der norditalienischen Po-Ebene.
    "Hinter Quadratkilometern blühenden Oleanders
    mitten im Duft des Ginsters etwa Duft des Kadavers
    wenn Verblauung Nähe wird Straße um Straße im flachen
    Land im Umkreis des Po, der einstige König der Flüsse.
    Farben, die von den Ästen fallen, im späten September
    flechten sich Sagenkreise durch den Alltag der Landschaft."
    Zwischen Antike, Renaissance und Klassizismus
    Ein Hauch von Georg Trakl, von klassischer Moderne steckt in dieser Verblauung, doch der Zeilenrhythmus ist frei. Eine ungezwungene und daher sehr gute Sprechgrundlage, um nicht verschüchtert zu erstarren zwischen all der gewichtigen Klassik, der man in diesem Band noch begegnet: der klassischen Antike und auch ihrer Renaissance sowie dem späteren Klassizismus. Doch zuerst Mantua mit seinem monumentalen Palazzo Ducale, dessen Baugeschichte und künstlerische Ausstattung Tobias Roth beschreibt. Und der vor einigen Jahren beschädigt wurde durch ein starkes Erdbeben. Auch die Porträtgalerie der einstigen Palazzo-Besitzer traf es:
    "Zwischen ihren Gesichtern läuft seit Zweitausendzwölf ein
    offener Riss: der letzte Finger der Erdbeben, die im
    Mai den Boden verschieben, vierzig Mal in zwei Wochen.
    Warten auf Uhrenvergleiche, Trauerfeiern für Häuser.
    Unter diesen Gesichtern wuchsen, wachsen die Risse."
    Risse interessieren den Lyriker Tobias Roth. Was könnte sich dahinter verbergen? Und Untergründe: Was verhehlen die Oberflächen? Etliche Orte besucht Roth und schreibt darüber in seinem neuen Gedichtband, vor allem über Italien, aber auch über Deutschland, Lettland und die Philippinen. Seine Gedichte sind Reisefrüchte. Alles schaut er sich an: Häuser, Tempel, Kunst, Natur. Zunächst die Oberflächen. Und gräbt dann tiefer. Am liebsten in Italien, etwa in der antiken Stadt Cuma:
    "wie auch in Cuma die Häuser über die
    Theater wachsen, wie Wald aus Waldboden, und in der Stadt die Häuser
    Städte in ihren Kellern finden."
    Historische Schichtungen und lyrische Grabungen
    Historische Schichtungen dieser Art tut Tobias Roth nicht nur auf, sondern er erschafft sie in seinen Texten auch selbst. Ein herrliches Kapitel ist in diesem Zusammenhang kurioserweise auch der Anmerkungsapparat, in dem Roth zunächst alle in seinen Gedichten erwähnten Personen auflistet: Dichter, Wissenschaftler, Künstler und Könige. 58 Personen insgesamt, sortiert nach Geburtsjahr. Die jüngste zuerst:
    "Maddalena Vaglio Tanet (*1985) à aus Biella, Dichterin und Übersetzerin. Für ihre Übersetzung von Biondo Tiziano sei ihr fortwährend von Herzen gedankt."
    Am Ende dieser Liste steht als Ältester Pharao Echnaton aus dem 14. Jahrhundert vor Christus. Diese zeitliche Schichtung – von ganz jung zu ganz alt – entspricht der Tiefenlotung, die Tobias Roth auch in seiner Lyrik vornimmt, auch wenn er sie darin weniger systematisch und zielgerichtet angeht, als der strenge Titel "Grabungsplan" vermuten lässt. Wunderbar auch, dass Roth die Sterbedaten seiner literarischen Gäste weglässt und ihre Biographien im Präsens zusammenfasst. So als lebten sie noch. Tun sie durch ihre Werke ja auch. Und auch für die vielen mythologischen Gestalten, die in seinen Gedichten auftauchen, entwirft er in einem zweiten Anhang herrliche Charakterskizzen. Geistreiche Kommentare schreiben, das kann Roth. Das hat er letztes Jahr auch schon als Mitherausgeber von Ovids "Liebeskunst" unter Beweis gestellt, dessen Anmerkungskonvolut Ovids Primärtext umrahmt und sich mindestens genauso hinreißend liest wie Ovids Text selbst.
    Stark beeinflusst von Ovid
    Überhaupt: Ovid. Er spielt für Tobias Roth lange schon eine wichtige Rolle, erzählt er. Schon im Studium, als er häufig Texte auf Latein las. Vorzugsweise Ovids bekanntestes Werk, das auch seine eigene Lyrik stark beeinflusst hat:
    "Da sind einerseits immer wieder Motive, Momente aus den "Metamorphosen" eingestreut, was auch daran liegt, dass viel von dem mythologischen Reservoir, mit dem ich persönlich sehr, sehr gerne spiele, aus den "Metamorphosen" kommt bzw. in den "Metamorphosen" die berühmteste Fassung hat. Die Mythen selbst sind ja auch in steter Verwandlung begriffen von Autor zu Autor. Und da macht es mir einerseits große Freude, bestimmte Fährten zu legen, die dann oft genug bei Ovid rauskommen, oder aber weiterzuspinnen und in einem Fall tatsächlich eine Geschichte komprimiert in lyrischer Form nachzuerzählen."
    Gemeint ist das Gedicht "Gewölle", in dem Tobias Roth die Geschichte von Alcyone und Ceyx neu erzählt. Durch Schiffbruch und Freitod verlieren die beiden Liebenden einander, doch in Eisvögel verwandelt werden sie später wieder vereint. Beginnend im Präteritum öffnet sich der Text schließlich in die Gegenwart. "Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen", schrieb William Faulkner einst. Und das gilt auch für die Gedichte von Tobias Roth: In ihnen ist die Zeit flüssig. Das Gestern ist heutig, während das Heute voller Gestern steckt. Das lässt sich besonders gut an einzelnen Orten zeigen, die heutig sind und doch aufgeladen mit Vergangenheit:
    "Orte haben insofern große Bedeutung, da ganz buchstäblich am Ort gegraben wird. Die Orte sind ja nach wie vor die gleichen. Und auch das kann man wieder an Ovid oder quasi zum Beispiel die Faszination für die Umgebung von Neapel festmachen, dass an diesen Orten ja die Mythen spielen und gleichzeitig sich die Weltgeschichte vollzieht und sich da die verschiedenen Schichten der Zeit quasi synchron behandeln lassen und so eine gewisse Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen entstehen kann, indem man den Ort fixiert."
    Nachschlagen und eigene Funde machen
    Auch Roths Texte selbst werden zu Grabungsanlässen. Auf federleichte Weise hochgelehrt laden sie ein, all das Gesehene und Zitierte – Landschaften, Gebäude, Skulpturen, Bilder und Bücher – nachzuschlagen und eigene Funde zu machen. Eine Frage, die am Ende bleibt, ist: Wie gelangt man von all diesem Wissen zu tieferen Einsichten, zu Wahrheiten? Hier könnten sich Roths Texte noch weiter vorwagen. Eines aber schaffen sie, und voller Lese- und Denkfreude gibt man ihm Recht, wenn er in einer um die einzelnen Gedichtkapitel gewunden Lyrikgirlande wiederkehrend schreibt: "Nie mehr Dürre in den Fresken!"
    Tobias Roth: "Grabungsplan"
    mit Illustrationen von Ibou Gueye
    Verlagshaus Berlin, Berlin. 182 Seiten, 15,90 Euro.