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Tod eines Bürgerrechtlers

Am 4. April 1968 wurde Martin Luther King in in Memphis erschossen. Wegen der Ermordung des schwarzen Bürgerrechtlers verurteilt wurde James Earl Ray, der 1998 im Gefängnis starb. Bis heute bestehen ernste Zweifel an seiner Täterschaft.

Von Christian Blees | 03.04.2008
    "This is an NBC news hotline special report. Here is Don Hickman in Memphis: Dr. Martin Luther King jr. was shot outside a Memphis Motel this afternoon. His condition is not known at this time.”

    "Dr. Martin Luther King ist einem Attentat zum Opfer gefallen. Die erste Meldung erreichte uns in dieser Nacht um 1.22 Uh. Der amerikanische Negerführer, hieß es, Bürgerrechtspolitiker und Friedensnobelpreisträger Dr. Martin Luther King ist auf dem Balkon eines Hotels in Memphis angeschossen worden. Wenig später erreichte uns eine Eilmeldung, in der es hieß, der farbige amerikanische Friedensnobelpreisträger Martin Luther King ist nach einem Schusswaffenattentat in Memphis verstorben."
    "
    Minuten, nachdem Martin Luther King am Abend des 4. April 1968 auf dem Balkon seines Motelzimmers von einer Gewehrkugel getroffen wird, wimmelt es am Tatort von Polizisten. Die Ermittlungen konzentrieren sich auf eine Pension auf der anderen Straßenseite gegenüber von Kings Motel. Von hier aus, so heißt es, sei der tödliche Schuss abgegeben worden. Konkret: aus einem Badezimmerfenster im ersten Stock. Vor dem Eingang der Pension wird ein Gewehr gefunden, das der Täter offenbar auf der Flucht fallen gelassen hat - vermutlich die Tatwaffe. Die Fahndung nach dem Todesschützen verläuft zunächst ohne Erfolg. Dann, zwei Monate später, wird in London ein Mann namens James Earl Ray verhaftet. Rays Fingerabdrücke stimmen mit den Fingerabdrücken auf dem Gewehr überein, das die Polizei kurz nach der Tat sichergestellt hat.

    ""Das FBI sagte, er sei nach einem Abgleich von insgesamt 53 000 Fingerabdrücken identifiziert worden. Ray war Ende April 1967 aus dem Staatsgefängnis von Missouri geflohen. Gegen ihn wurde Haftbefehl wegen Beteiligung an einer Verschwörung sowie wegen des Mordes an King erlassen."

    James Earl Ray ist zum Zeitpunkt seiner Verhaftung 41 Jahre alt und hat bis dahin die Hälfte seines Lebens im Gefängnis verbracht. Auf sein Konto gehen vor allem Diebstähle und Raubüberfälle. Neun Monate später, im März 1969, wird er in Memphis vor Gericht gestellt. Dabei überrascht Rays Verteidiger die Öffentlichkeit mit einem verblüffenden Schachzug: Er verspricht, dass sich sein Mandant gleich zu Prozessbeginn schuldig bekennen wird unter der Voraussetzung, dass ihm dafür der elektrische Stuhl erspart bleibt.

    Der Vorsitzende Richter erklärt sich einverstanden. Der Prozess gerät damit zur Formsache. Allerdings weicht James Earl Ray bei seinem Geständnis in einem kleinen Detail von der vereinbarten Aussage ab. In seinem kurzen Statement besteht er ausdrücklich darauf, nicht alleine gehandelt zu haben. Stattdessen behauptet er, Teil einer Verschwörung gewesen zu sein. Damit stößt er beim Vorsitzenden Richter und auch bei seinem eigenen Anwalt auf taube Ohren. James Earl Ray wird zu 99 Jahren Haft verurteilt. Die BBC berichtet:

    "Während er zum eigenen Schutz in Einzelhaft genommen wird, bleiben bohrende Fragen zurück. nicht, ob der Gerechtigkeit genüge getan wurde, sondern ob die Wahrheit gesagt worden ist. War er Teil einer Verschwörung? Anklage und Verteidigung sagen nein. Ray macht klar, dass er das anders sieht. Er wurde nicht ins Kreuzverhör genommen. Die Öffentlichkeit weiß im Grunde nicht mehr, als sie vor diesem verkürzten Prozess gewusst hat."

    Für die Justiz scheint kein Zweifel daran zu bestehen, dass es sich bei James Earl Ray um einen Einzeltäter handelt. Darauf deuten nicht nur die Fingerabdrücke Rays hin, die auf dem Gewehr gefunden worden sind. Auch gibt es laut Staatsanwalt einen Augenzeugen, der Ray unmittelbar nach der Tat im Treppenhaus der Pension gesehen haben will. Selbst das Motiv für den Mord an Martin Luther King scheint gefunden: James Earl Ray hat angeblich aus Rassenhass gehandelt. Das klingt durchaus einleuchtend. Denn Martin Luther King muss seit Mitte der 50er Jahre jedem Anhänger der Rassentrennung wie ein rotes Tuch erscheinen.

    1953, King ist 24 Jahre alt, tritt er eine Stelle als Pastor in der Dexter Avenue Baptist Church in Montgomery an. Hier im US-Bundesstaat Alabama gehört die Rassentrennung in Restaurants, Schulen und an öffentlichen Plätzen zu dieser Zeit zum Alltag - wie auch in allen anderen Staaten im Süden der USA. Das ändert sich mit dem 1. Dezember 1955. An diesem Tag weigert sich eine schwarze Verkäuferin namens Rosa Parks, ihren Sitzplatz im Bus für einen weißen Fahrgast freizumachen, wie es im Gesetz vorgesehen ist. Rosa Parks muss ins Gefängnis. Martin Luther King ruft die schwarze Bevölkerung daraufhin zu einem dauerhaften Busboykott auf. Nach einem Jahr erklärt das oberste Gericht der USA die Rassentrennung in öffentlichen Verkehrsmitteln für ungesetzlich. Martin Luther King weiß, dass dies erst der Anfang eines langen Weges ist.

    "Freiheit lässt sich nur durch ständigen Widerstand erreichen, durch ständiges Agitieren, durch ständiges Aufstehen gegen das System des Bösen. In den Bussen von Montgomery gibt es keine Rassentrennung mehr. Aber glaubt nicht, ihr könnt jetzt deswegen eure Hände in den Schoß legen. Denn wenn wir jetzt aufhören, dann werden wir weitere 100 Jahre in den Kerkern der Rassentrennung und Diskriminierung verbringen. Und unsere Kinder und Kindeskinder werden unter der Knechtschaft leiden müssen, unter der wir jahrelang gelebt haben. Um die Freiheit zu erlangen, müssen wir weitermachen."

    Mehr als zwei Dutzend Mal wandert Martin Luther King aufgrund seiner öffentlichen Auftritte im Laufe der Jahre ins Gefängnis. Oft bekommt er die körperliche Gewalt der Polizei oder aufgebrachter weißer Bürger zu spüren. An Ostern 1963 findet in der Stadt Birmingham im US-Bundesstaat Alabama eine zentrale Großdemonstration gegen die Rassentrennung statt. Die Polizei geht gegen die gewaltfrei protestierende Menge mit Hunden, Schlagstöcken und Wasserwerfern vor. Die Bilder, die im Fernsehen übertragen werden, verfehlen ihre Wirkung nicht. Der Stadtrat von Birmingham lenkt ein und erklärt die Rassentrennung in öffentlichen Einrichtungen für aufgehoben. Auch die Diskriminierung von Schwarzen im Berufsleben ist ab sofort verboten. Martin Luther King gibt sich damit aber noch nicht zufrieden. Dazu Kings Biograf David J. Garrow.

    "Mitte der 60er Jahre wird King und anderen allmählich klar, dass wirtschaftliche Ungleichheit und Armutsfragen für schwarze Amerikaner ein genauso großes Problem darstellen wie Rassismus und Diskriminierung. Darum erweitert King 1965/66 seinen Themenkatalog entsprechend. Und anstatt sich selbst zu seinen Siegen zu gratulieren, die er in Sachen Antirassismus errungen hat, sieht er sich nun mit der Tatsache konfrontiert, dass das, was zu tun ist, viel schwieriger ist als alles, was er sich bis dahin vorgestellt hat."

    Anfang April 1968 wird Martin Luther King nach Memphis gerufen. Seit zwei Monaten streikt die städtische Müllabfuhr, fast alles Afroamerikaner. Sie fordern höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen. In wenigen Tagen wird eine Demonstration stattfinden, bei der Martin Luther King an der Spitze marschieren soll. Die Atmosphäre ist angespannt. Am Abend des 3. April hält King vor mehreren tausend schwarzen Zuhörern eine letzte Rede.

    "Ich weiß nicht, was jetzt geschehen wird. Schwierige Tage liegen vor uns. Aber das macht mir jetzt wirklich nichts aus. Denn ich bin auf dem Gipfel des Berges gewesen. Ich mache mir keine Sorgen. Wie jeder andere würde ich gerne lange leben. Langlebigkeit hat ihren Wert. Aber darum bin ich jetzt nicht besorgt. Ich habe das gelobte Land gesehen. Vielleicht gelange ich nicht dorthin mit euch. Aber ihr sollt heute Abend wissen, dass wir als ein Volk in das gelobte Land gelangen werden. Und deshalb bin ich glücklich heute Abend. Ich mache mir keine Sorgen wegen irgendetwas. Ich fürchte niemanden. Meine Augen haben die Herrlichkeit des kommenden Herrn gesehen."

    Knapp 24 Stunden später wird Martin Luther King erschossen. Für seine politischen Gegner kommt die Ermordung genau zum richtigen Zeitpunkt. Der Bürgerrechtler stand unmittelbar vor dem größten Kraftakt seiner Karriere.

    "In den letzten acht, neun Monaten seines Lebens plant King einen Marsch der Armen in die US-Hauptstadt Washington. Dieser soll im April 1968 stattfinden und einen wirtschaftlichen Wechsel fordern. Die Teilnehmer sollen so lange bleiben, bis der Kongress und der Präsident den Forderungen politisch nachgekommen sind."

    Durch Kings Tod wird der Protestmarsch zum Flop. Die merkwürdigen Begleitumstände des Gerichtsprozesses wiederum geraten nach James Earl Rays Verurteilung schnell in Vergessenheit. Erst Ende 1977 kommt neue Bewegung in den Mordfall. Der New Yorker Rechtsanwalt William F. Pepper wird von Ralph Abernathy kontaktiert. Abernathy ist Martin Luther Kings Nachfolger als Führer der größten schwarzen Bürgerrechtsorganisation. Er hat all die Jahre seit dem Attentat daran gezweifelt, dass Ray allein verantwortlich gehandelt haben soll. Ralph Abernathy will Ray im Gefängnis besuchen, um sich ein eigenes Bild vom vermeintlichen Täter zu machen. Er bittet William F. Pepper, die Begegnung zu organisieren und ihn zu begleiten. Das Treffen mit James Earl Ray dauert fünf Stunden. William F. Pepper erinnert sich:

    "Er war sehr ruhig und verhielt sich ganz anders, als wir es erwartet hatten. Er sprach mit leiser Stimme und war freundlich. Abernathy war sicher, dass Ray kein Rassist war. Seine Antworten kamen alle gerade heraus, und am Ende unseres Gesprächs waren wir überzeugt davon, dass er nicht der Schütze war. Wir wussten nicht, welche Rolle er gespielt hatte, aber wir waren sicher, dass er nicht geschossen hatte."

    James Earl Ray beteuert seine Unschuld. Er behauptet, die Tat nur deshalb gestanden zu haben, weil ihn sein damaliger Anwalt unter Druck gesetzt habe. Im Gespräch mit Willam F. Pepper erzählt Ray, wie er den Tag des Attentats angeblich verbracht hat. Demnach trifft er sich Stunden vor der Tat in Memphis mit einem männlichen Bekannten namens Raul. Raul fordert Ray auf, ein Zimmer in der Pension gegenüber von Kings Motel zu mieten. Anschließend soll Ray ein Gewehr besorgen, das Raul einem potenziellen Kaufinteressenten zeigen will. Nur so, behauptet Ray, seien seine Fingerabdrücke überhaupt auf die vermeintliche Tatwaffe gelangt. Ray kauft also das Gewehr, liefert es bei Raul ab und lässt diesen anschließend alleine in dem Pensionszimmer zurück. Dann macht er sich per Auto auf den Weg zu einer Tankstelle. Etwa zur selben Zeit wird Martin Luther King erschossen. Als Ray zurück zur Pension fahren will, kommt er nicht weit.

    "Als er auf die South Main Street einbiegt, wimmelt es überall von Polizisten. Die Gegend um die Pension ist weiträumig abgesperrt, der Verkehr wird umgeleitet. Ray braucht nicht viel Ermunterung, um sich aus dem Staub zu machen. Immerhin handelt es sich bei ihm um einen entflohenen Sträfling. Also macht er, dass er davon kommt, und fährt Richtung Süden nach Atlanta."

    William F. Pepper macht sich daran, Rays Behauptungen zu überprüfen. Er stellt fest, dass Rays Fingerabdrücke zwar auf der vermeintlichen Tatwaffe gefunden worden sind - nicht aber in dem Badezimmer, von dem aus er angeblich geschossen haben soll. Und: Das FBI hat nie zweifelsfrei nachweisen können, dass die tödliche Kugel tatsächlich aus dem Gewehr abgefeuert wurde, das Rays Fingerabdrücke trägt. Stattdessen macht Pepper gleich mehrere Zeugen ausfindig, die unisono und durchaus glaubwürdig alle dasselbe behaupten: Der tödliche Schuss sei nicht aus dem Badezimmerfenster gekommen, sondern aus einem Gebüsch, das sich ebenfalls gegenüber von Kings Motel befand. Keiner dieser Zeugen ist jemals von der Polizei befragt worden. Und: Ausgerechnet die Aussage jenes Mannes, den die Staatsanwaltschaft im Prozess vom März 1969 als Hauptbelastungszeugen gegen James Earl Ray präsentiert hat, entpuppt sich im Nachhinein als wenig glaubwürdig. Angeblich hat Charlie Stephens, so der Name des Mannes, Ray direkt nach der Tat im Treppenhaus der Pension gesehen.

    "Über Charlie Stephens gibt es nicht viel zu sagen. Er war betrunken und hat nicht viel gesehen. Er hat sich für Geld dazu bringen lassen, das Profil von James Earl Ray auf einem Foto zu identifizieren, den er angeblich im Treppenhaus der Pension gesehen hat. Aber ein Polizist, der ihn ein paar Minuten nach dem Attentat befragt hatte, sagte mir, Stephens hätte beim besten Willen niemanden identifizieren können, weil er zur Tatzeit total besoffen war. Dasselbe hat ein Zeitungsreporter ausgesagt. Ein Taxifahrer, der Stephens eigentlich kurz vorher hätte mitnehmen sollen, weigerte sich, ihn in seinen Wagen zu lassen. Er sagte, Stephens habe kaum aufrecht stehen können. Es gibt keinen Zweifel, dass Charlie Stephens nichts gesehen hat."

    Jahrelang bemüht sich William F. Pepper für James Earl Ray um eine Wiederaufnahme des Verfahrens - vergeblich. Das Einzige, was der Anwalt erreicht, ist ein Fernsehprozess. Ein US-amerikanischer Kabelsender erklärt sich bereit, im Frühjahr 1993 eine Gerichtsverhandlung zu übertragen, die unter realen Bedingungen stattfindet, unter anderem mit ausführlicher Beweisaufnahme und mit der Vernehmung aller noch lebenden und auskunftswilligen Augenzeugen. Nach zehn Tagen Verhandlung fällt die Geschworenen-Jury ihr Urteil: James Earl Ray ist unschuldig. Die Medien im Lande - bis auf den produzierenden Kabelsender - ignorieren den Fernsehprozess völlig.

    "Sie bezeichneten die Verhandlung als fiktional, weil es kein realer Prozess war. Dabei war er so real wie nur möglich. Wir stritten erbittert wegen der Beweise, und der Richter hat uns oft überstimmt. Jahre später wurden wir sogar Freunde, aber damals waren wir Feinde. Es war eine harte Situation."

    William F. Peppers Nachforschungen sind mit dem Fernsehprozess noch lange nicht beendet. 1998 und 2003 veröffentlicht der Anwalt zwei Bücher. In diesen listet er unter anderem minutiös auf, was laut seinen Recherchen am Tag des Attentats in unmittelbarer Nähe zum Tatort passiert ist. So kommt es dort am 4. April 1968 zwar zu einer ungewöhnlichen Anhäufung von Polizisten und FBI-Beamten. Für den persönlichen Schutz des schwarzen Bürgerrechtlers aber fühlt sich offenbar niemand verantwortlich. Im Gegenteil: In Verbindung mit einer ganzen Reihe weiterer auffälliger Begleitumstände kommt Pepper zu einer beängstigenden Schlussfolgerung: Martin Luther King musste sterben, weil er aufgrund seiner zunehmend radikalen politischen Forderungen zu einer Bedrohung für die Regierung geworden war.

    Pepper glaubt inzwischen sogar zu wissen, wer King wirklich erschossen hat. Den Namen des angeblich wahren Attentäters verraten möchte der New Yorker Anwalt allerdings noch nicht. Er will erst einmal herausfinden, ob der von ihm identifizierte, vermeintliche Schütze überhaupt noch am Leben ist. Sobald er dies geklärte habe, verspricht Pepper, werde er die Identität des Mannes bekanntgeben.

    Für James Earl Ray wiederum wird es dann bestenfalls zu einer posthumen Rehabilitierung kommen. Denn er ist schon im April 1998 im Gefängnis gestorben. Die Frage, welche Rolle Ray beim Attentat auf Martin Luther King wirklich gespielt hat, bleibt so trotz William F. Peppers umfangreicher Recherchen womöglich für immer unbeantwortet. Bis zuletzt hat der offizielle Attentäter seine Unschuld beteuert. So auch kurz vor seinem Tod, als er Martin Luther Kings jüngstem Sohn, Dexter King, gegenübersteht.

    ""Did you kill my father?"

    "No, no, I didn't. No.""