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Tod eines Jugendlichen aus Somalia
"Das Stigma Ostdeutschland ist sehr schnell draufgeklebt worden"

Nach dem Suizid eines jugendlichen Flüchtlings aus Somalia in Schmölln hat Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Die Linke) eine schnelle Aufarbeitung gefordert. Nach den jüngsten Erkenntnissen bleibe unklar, ob Anwohner den Mann zur Selbsttötung ermuntert hätten, sagte Ramelow im DLF.

Bodo Ramelow im Gespräch mit Christine Heuer | 24.10.2016
    Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Die Linke).
    Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Die Linke) fordert eine schnelle Aufarbeitung der Ereignisse in Schmölln. (picture alliance/dpa - Martin Schutt)
    Der Linken-Politiker betonte im Deutschlandfunk, neuste Ermittlungsergebnisse deuteten auf ein anderes Geschehen hin. Demnach hätten Nachbarn den jugendlichen Afrikaner möglicherweise lediglich auffordern wollen, in das ausgebreitete Sprungtuch der Feuerwehr zu springen. Zuvor hatten mehrere Medien berichtet, Schaulustige hätten den Mann mit Rufen angestachelt, sich aus dem Fenster seiner Unterkunft zu stürzen. Ramelow sagte, beschämend sei das zustimmende und fremdenfeindliche Echo in den sozialen Medien auf diese angeblichen Zurufe.
    Dabei laufe die Integrations- und Flüchtlingsarbeit in Schmölln seit Jahren vorbildlich, in der Stadt sei gemeinschaftlich sehr viel geschaffen worden. Über solche positiven Beispiele wisse die Öffentlichkeit jedoch viel zu wenig, weil aus den neuen Bundesländern vorrangig über Negativfälle berichtet werde. Es sei wichtig, nichts zu beschönigen, betonte Ramelow. Zugleich könne man das Problem der Fremdenfeindlichkeit jedoch nicht einfach nur auf Ostdeutschland reduzieren. Populismus, Rassismus und Islamfeindlichkeit seien mittlerweile in ganz Europa verbreitete Phänomene.

    Christine Heuer: Ein minderjähriger somalischer Flüchtling, zwischen 15 und 17 Jahre alt - die Angaben variieren da -, sitzt im thüringischen Schmölln auf einem Fensterbrett im fünften Stock einer Flüchtlingsunterkunft. Offensichtlich ist er bereit, aus dem Fenster des Plattenbaus zu springen, ein Suizid bahnt sich also an, den Schaulustige von der Straße aus beobachten. Am Ende springt der Junge tatsächlich in den Tod. Was geschah in den Minuten davor? Darüber wird gerätselt.
    Bodo Ramelow ist jetzt am Telefon. Guten Morgen!
    Bodo Ramelow: Guten Morgen!
    Heuer: Die Polizei ermittelt, was genau in Schmölln am Freitag geschehen ist und ob tatsächlich in einem zynischen Sinn "spring doch!" gerufen wurde. Ich gehe mal davon aus, dass Sie mit als erstes informiert werden über die Ermittlungsergebnisse. Können Sie uns heute Früh sagen, ob das der Fall war oder nicht?
    Ramelow: Alles was wir bisher wissen ist, dass das Geschehen, wie es am Samstagabend spektakulär auf einmal durch alle Medien raste, dass dieses Geschehen möglicherweise doch durchaus eine andere Entwicklung tatsächlich vor Ort hatte. Der Nachbar, der mittlerweile einräumt, dass er das gerufen hat, bezog sich auf die Feuerwehr, die längst mit dem Sprungtuch da war. Dann würde auch das Gehörte von der Mitarbeiterin in eine andere Logik eingeordnet. Aber am Ende: Es bleibt doch bei einem ganz schlimmen Todesfall eines jungen Menschen, der seine Verzweiflung nicht aushalten konnte, der auch genau deswegen vorher in der Behandlung war, und deswegen müssen wir auch nachfragen, was war in der Behandlung und wieso wurde der junge Mensch wieder in die Wohngruppe zurückgebracht. War die Behandlung abgeschlossen? Denn tatsächlich hat er das ja dann vollendet, was er offenkundig wenige Tage vorher schon mal vorhatte. Es bleibt einfach eine große Tragik.
    "Es hat was mit einer Verrohung zu tun"
    Heuer: Unbedingt, Herr Ramelow. Trotzdem sieht es ja heute Morgen so aus, dass die Medienberichte vom Wochenende, vom frühen Wochenende etwas voreilig waren. Sie selbst haben sich auf Facebook fassungslos geäußert. Wir haben das gerade im Beitrag von Lisa Wennemer gehört. Waren Sie selbst da auch ein bisschen voreilig?
    Ramelow: Nein, ganz im Gegenteil. Denn das Beschämende bleibt doch das Spektakuläre und das Spektakuläre ist einfach auch, dass vom Hörensagen sofort auch eine große Kommunikation in den Social Medias stattfindet und Journalisten auch das wiederum übernehmen. Denn tatsächlich: Es ist so, dass ich mittlerweile feststellen muss, dass selbst die nicht vorhandenen Rufe mittlerweile auf bittere Art in Kommentaren auf meiner Facebook-Seite Eingang genommen haben, indem Menschen draufgeschrieben haben, gut, dass er gesprungen ist, oder prima, dass er gesprungen ist, und Ähnliches. Dieses inhumane und wirklich mittlerweile katastrophale Geschehen, das sich auch nach der Entwicklung einsetzt, ist auch das, was ich meine mit der Fassungslosigkeit. Und mit Verlaub, es ist so: Wenn auf der Autobahn heute ein Unfall passiert, dann stehen die schaulustigen Gaffer da, behindern die Helfer. Das hat dann mit Flüchtlingen und mit Ostdeutschland überhaupt nichts zu tun. Es hat was mit einer Verrohung zu tun, die offenkundig auch mit Smartphones einhergeht, dass man alles und jedes sofort filmen kann, sofort hochladen kann, ohne dass irgendjemand noch einordnen kann, wie die Bilder zu deuten sind, oder das Gehörte tatsächlich das Zynische meinte und alle anschließend geschrieben haben, es wird das Zynische wohl gewesen sein. Das Stigma Ostdeutschland ist sehr schnell am Samstag auf Sonntag da draufgeklebt worden.
    "In Schmölln ist die Arbeit mit den Flüchtlingen und die Integrationsarbeit vorbildlich"
    Heuer: Und darüber möchte ich mit Ihnen auch ein bisschen ausführlicher sprechen, Herr Ramelow. Tatsächlich läuft ja in vielen Köpfen bei Meldungen wie denen aus Schmölln der Film ab, dass man in Ostdeutschland offenbar jeden Übergriff von Rechten für möglich hält.
    Ramelow: Das Bittere ist wirklich, dass in Schmölln die Arbeit mit den Flüchtlingen und die Integrationsarbeit vorbildlich ist. Die Ehrenamtlichen und Hauptamtlichen und auch der Bürgermeister, der zu hören war, dieser Bürgermeister ist seit Jahren, schon bevor er Bürgermeister war, ein sehr engagierter Mensch, der in der Flüchtlingsarbeit Vorbildliches leistet, und die Stadt Schmölln ist wirklich einer der Orte, an dem ganz, ganz viel gemeinschaftlich schon geschafft worden ist. Und am Ende wird einfach gesagt, na ja, es wird so sein wie in Hoyerswerda oder es wird so sein wie die Bilder, die wir am 3. Oktober aus Dresden haben sehen müssen. Und ich will jetzt einfach deutlich sagen: Nein, so ist es in Schmölln nicht! Es bleibt aber bei der Tragik. Es bleibt aber bei der Tragik eines jungen Menschen, wo wir offenkundig nicht in der Lage waren, diesen Selbstmord zu verhindern.
    "Wir haben drei Prozent nichtdeutsche Bevölkerung"
    Heuer: Herr Ramelow, das ist ja ohne Frage richtig und da fühlt bestimmt jeder Mensch mit. Trotzdem: Ist es nicht nachvollziehbar, dass man relativ schnell, vielleicht auch vorschnell auf die Idee kommt, dass das ein fremdenfeindlicher Übergriff war, wo wir so viele davon nicht nur, aber doch schwerpunktmäßig in Ostdeutschland erleben?
    Ramelow: Was wissen Sie über die 21.000 Flüchtlinge und wie wir die 21.000 Flüchtlinge mittlerweile untergebracht haben? Wieviel weiß die Bevölkerung auch in Westdeutschland über ein kleines Dorf Burla mit 70 Einwohnern, die sich um eine vierköpfige Roma-Familie vorbildlich kümmern? Oder von dem Autohaus Peter aus Nordhausen, der 15 junge Leute aus den unbegleiteten Kindern und Jugendlichen, also junge, 17-, 18jährige Syrer, Eritreer, jetzt als Auszubildende in alle seine Autohäuser eingestellt hat? Vorbildliche Arbeit, die täglich vollbracht wird. Aber berichtet wird über ein einzelnes Geschehen, das man für möglich hält, und man fragt nicht mehr nach, ob in Schmölln tatsächlich die Stimmung so ist, ob es eine offene Fremdenfeindlichkeit gibt. Und ich will es überhaupt nicht beschönigen: Es gibt ein Problem mit Fremdenfeindlichkeit, weil es bei uns in den neuen Ländern so gut wie keine Fremden gibt. Wir haben drei Prozent nichtdeutsche Bevölkerung. Und ich will dann immer auf den Vergleich hinweisen. Als ich in Westdeutschland groß geworden bin in den 60er-Jahren in meinem niedersächsischen kleinen Städtchen, als die ersten Italiener kamen, hieß es Itaker und Spaghettifresser. Die Fremdenfeindlichkeit in Westdeutschland war in den 60er-Jahren ähnlich hoch. Das rechtfertigt doch überhaupt nichts, sondern es ordnet nur ein, dass man sagt, lasst uns doch die Beziehungen zwischen Deutschen und Nichtdeutschen erst leben, damit das Erleben dazu führt, dass man den Nachbarn als Nachbarn erkennt.
    "Wir haben insgesamt in Deutschland ein Problem mit Fremdenfeindlichkeit"
    Heuer: Aber das gemeinsame Leben scheint sicher nicht überall in Ostdeutschland, aber doch insgesamt sehr schwierig zu sein. Sie haben selbst letztes Jahr, nachdem Neonazis in Weimar eine Mai-Kundgebung überfallen haben, gesagt, Politiker haben Angst. Das LKA in Thüringen rät ihnen, nicht mehr so viel über Rechtsextreme zu sprechen, damit sie nicht in Gefahr geraten.
    Ramelow: Ja selbstverständlich! Aber diese Gefahr ist doch keine isoliert ostdeutsche. Dass Neonazis gewaltbereit und auch mordend bereit sind, durch Deutschland zu agieren, dass die Frage der NSU-Zelle nicht nur drei Thüringer sind, auf die das alles im Moment reduziert wird, sondern sehr, sehr viele Helfer in Westdeutschland mit dabei waren, um bei den Vorbereitungen von Morden offenkundig auch Hilfe zu geben, Waffen zu besorgen und Ähnliches, das sind doch Entwicklungen, die wir über Jahrzehnte hinweg hatten. Und ich will nur historisch erinnern an den Bombenanschlag auf das Münchner Oktoberfest, von dem nie richtig ausermittelt worden ist, wie weit das Umfeld der Wehrsportgruppe Hoffmann dazu beigetragen hat. Und dieser Karl-Heinz Hoffmann ist später nach Thüringen gekommen, weil er aus Thüringen war, und in der Region dort sind dann anschließend auch wieder Sprengstoffanschläge feststellbar gewesen. Wir haben ein Problem mit gewaltbereiten Neonazis und wir haben ein Problem insgesamt in Deutschland auch mit Fremdenfeindlichkeit, Stichwort Mölln, Stichwort Lübeck, und wir haben in Ostdeutschland eine Abwesenheit von Ausländern, von Nichtdeutschen, was ein langsamer Prozess des Kennenlernens erst wird, und das will ich gar nicht beschönigen, aber ich will einfach darauf hinweisen, dass Tausende von Menschen hilfsbereit sind und jeder einzelne Fall sofort wieder dazu führt, dass das nicht gesehen wird, was es an Hilfswelle tatsächlich gibt und was wir längst an Integrationsleistung geschafft haben.
    "Wir müssen aufpassen, dass wir das Problem nicht einfach nur auf Ostdeutschland reduzieren"
    1800 Menschen, die letztes Jahr als Flüchtlinge gekommen sind, sind längst in Lohn und Brot. 700 junge Leute haben wir in Berufsschulen untergebracht in sogenannten Berufsvorbereitungsklassen. Und wir haben alle Handwerkszentren mit unseren Handwerkskammern zusammen angemietet, damit Handwerksmeister mit den jungen Leuten Talentarbeit machen, einfach gucken, was können sie. Das ist längst gelebte Integration und die wird leider bei diesen schlimmen Vorkommnissen - und der 3. Oktober von Dresden hängt mir immer noch unter der Haut, dieses schlimme Gebrülle gegen afrikanische Botschafter. Das war nicht nur mehr beschämend, das hat mir die Wut und die Scham ins Gesicht getragen. Und ich sage trotzdem: Wir müssen aufpassen, dass wir nicht einfach nur das Problem auf Ostdeutschland reduzieren, sagen, Mauer wieder hoch, das Problem ist erledigt und Deutschland ist dann wieder mitten in Europa und wir sehen nicht, wieviel Fremdenfeindlichkeit gerade in Frankreich oder in Italien oder in den Niederlanden auch da ist. Das beschönigt nichts und ich will nur sagen: Populismus, Rassismus und Islam-Feindlichkeit ist mittlerweile ein weit in Europa verbreitetes Problem.
    Heuer: Bodo Ramelow, Ministerpräsident von Thüringen und Mitglied der Linken. Herr Ramelow, ich danke Ihnen sehr für das Gespräch heute Morgen.
    Ramelow: Gerne, Frau Heuer.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.